Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/19/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Finanzielle Folgen für Beitragszahler und Patienten bei Verwirklichung des von der Koalition vorgelegten Gesetzes zur Gesundheitsreform ({0}) ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Für eine Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungsprozesses im Rahmen der deutschen EU- und G-8-Präsidentschaft - Drucksache 16/3011 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({1}) a) Entwurf eines Gesetzes der Abgeordneten Jan Mücke, Horst Friedrich ({2}), Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsprojekte - Drucksache 16/3008 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN PC-Gebühren-Moratorium verlängern - Drucksache 16/2793 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({5}), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - Die Gebührenfinanzierung des öffentlichrechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren - Drucksache 16/2970 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Haushaltskonsolidierung konsequent anpacken - Haushaltsgesetzgebung reformieren - Drucksache 16/2998 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({7}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige Arzneimittel - Drucksache 16/3013 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({8}) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth ({9}), Hans-Josef Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes ({10}) - Drucksache 16/961 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11}) - Drucksache 16/2880 Berichterstattung: Abgeordnete Josef Göppel Dirk Becker Eva Bulling-Schröter Redetext Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Neue Armut in Deutschland - Die aktuelle Diskussion um so genannte Unterschichten ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen - Drucksache 16/2997 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({12}) Petitionsausschuss Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach, Erika Steinbach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin, Christoph Strässer, Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen - Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen - Drucksache 16/3001 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({13}), Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte in Zentralasien stärken - Drucksache 16/2976 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({14}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste - Drucksache 16/2977 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({15}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 10 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 1. Juni 2006 zur Änderung des am 29. August 1989 unterzeichneten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steuern - Drucksachen 16/2708, 16/2956 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({16}) - Drucksache 16/3012 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({17}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({18}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/3031 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Carsten Schneider ({19}) Otto Fricke Michael Lentert Anja Hajduk ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Keine 60-Tonnen-Lkw auf deutschen Straßen - Drucksache 16/2990 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 12 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze bei innergemeinschaftlichen Verstößen - Drucksache 16/2930 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({21}) Innenausschuss Rechtsausschuss ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Arbeit in Armut verhindern - Drucksache 16/2978 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({22}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Ulrike Höfken, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Qualifizierung statt Quoten - Vermittlungsagenturen für landwirtschaftliche und andere grüne Berufe - Drucksache 16/2991 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({23}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Die Tagesordnungspunkte 25 - Beschleunigung von Planungsverfahren - und 30 o - Elektronischer Geschäftsverkehr - werden abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 15 - dabei handelt es sich um mehrere Vorlagen zur Terrorismusbekämpfung - wird morgen nach dem Tagesordnungspunkt 24 aufgerufen. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Schließlich mache ich auf zwei geänderte Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 54. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Rechtsausschuss ({24}) zur Mitberatung überwiesen werden. Jahressteuergesetz 2007 ({25}) - Drucksache 16/2712 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({26}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Die Federführung für den in der 54. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Gesetzentwurf soll nunmehr auf den Haushaltsausschuss ({27}) übergehen. Zweites Gesetz zur Änderung des Aufbauhilfefondsgesetzes - Drucksache 16/2704 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({28}) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie Zusatzpunkt 2 auf: 3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({29}) - Drucksache 15/5801 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({30}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({31}) - Drucksache 16/1483 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({32}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungsprozesses im Rahmen der deutschen EU- und G-8-Präsidentschaft - Drucksache 16/3011 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Zum Jahresabrüstungsbericht 2005 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort. ({33})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel: Der nordkoreanische Atomwaffentest ist eine gefährliche Provokation und ein Irrsinn. Wir verurteilen das Verhalten Nordkoreas. ({0}) Deshalb müssen wir heute Morgen über die nordkoreanische, aber auch über die iranische Atomkrise sprechen. Wir sollten allerdings ebenso deutlich machen: Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören insgesamt wieder auf die internationale Tagesordnung. ({1}) Eine effektive Rüstungskontrolle muss erneut zum Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen werden. Vertraglich vereinbarte Rüstungsbeschränkung kann die Welt sicherer machen. Während des Kalten Krieges trug eine effektive Rüstungskontrolle maßgeblich zur Kriegsverhütung und zur Vertrauensbildung bei. Sie schuf den Rahmen für Kooperation und friedlichen Wandel. Abrüstung und Rüstungskontrolle waren aber nicht nur im Kalten Krieg ein angemessenes Instrument. In seinem Schatten wurden auch eine Reihe regionaler Rüstungskontrollverträge beschlossen. Diese Abkommen erleichterten die regionale Zusammenarbeit und schufen ein Gefühl gemeinsamer Sicherheit. Abrüstung trug dazu bei, vormalige Bürgerkriegsgesellschaften zu stabilisieren. So wurden mit dem Vertrag von Dayton gegenseitige Abrüstungsschritte im ehemaligen Jugoslawien vereinbart. Auch in El Salvador und in Kambodscha wurde der Friedensprozess durch die Vernichtung von Waffenbeständen unterstützt. Doch nicht mehr nur Regierungen beeinflussen die Rüstungskontrolle. Ohne die Bürgerinnen und Bürger in den so genannten Nichtregierungsorganisationen wäre das Landminenabkommen niemals in Kraft getreten. Das war ein bedeutendes Signal. Seit einigen Jahren gibt es jedoch so gut wie keine Fortschritte mehr. Der Rüstungskontrollprozess tritt auf der Stelle. Diese Krise ist allerdings nicht das Ergebnis einer veralteten Idee. Im Gegenteil: Das Konzept der Rüstungskontrolle ist modern und anpassungsfähig. Die eigentliche Ursache für das Ausbleiben weiterer Fortschritte ist der fehlende politische Wille in wichtigen Ländern. ({2}) Die USA haben sich aus den großen Verträgen zurückgezogen. Neue Vereinbarungen wurden ignoriert; Verbesserungen wurden blockiert. Russland behindert die Umsetzung der konventionellen Abrüstung in Europa. Frankreich und Großbritannien modernisieren wie auch die anderen Kernwaffenstaaten ihre nuklearen Arsenale. Neue Sicherheitsdoktrinen weisen Kernwaffen eine frühzeitige Einsatzmöglichkeit zu. Weltweit steigen die Rüstungsausgaben und - dies sage ich selbstkritisch auch an unsere Adresse - Rüstungsexporte haben wieder Konjunktur. Weitere Gefahren sind die unkontrollierte Verbreitung von Trägerraketen und die unsichere Lagerung von hoch angereichertem Uran in zu vielen Ländern. Und nicht zu vergessen: Zwischen den Atommächten Indien und Pakistan gibt es noch immer kein belastbares Abkommen. Diese Krisen zeigen deutlich: Wir brauchen neue Anstrengungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung. Dabei müssen wir sowohl die lokalen als auch die globalen Bedingungen beachten und verändern. Beide Ebenen stehen in einem Zusammenhang. Im Atomkonflikt mit dem Iran müssen wir weiterhin konstruktiv, geschlossen und beharrlich an einer Lösung arbeiten. Der Versuch, den Streit in Verhandlungen zu lösen, war und bleibt richtig. Dass jetzt auch Sanktionen von den Vereinten Nationen beschlossen werden sollen, signalisiert nicht das Scheitern der Diplomatie. Dieser Schritt ergänzt vielmehr die bisherige Strategie. Der Iran muss seine Verstöße beenden, die Unklarheiten über sein Atomprogramm ausräumen und versuchen, durch vertrauensbildende Maßnahmen Glaubwürdigkeit herzustellen. ({3}) Die Verantwortlichen in Teheran sollten vor allem eines wissen: Weder Status noch Großmannssucht werden dem Land die gewünschte Rolle in der Welt zuweisen, sondern nur eine Politik der Akzeptanz, des Respekts und der Kooperation gegenüber den Nachbarn und der Region. ({4}) Kernwaffen in Nordkorea sind eine ebenso große Gefahr für den Frieden. Mehr noch: Ein unkontrollierter Rüstungswettlauf könnte die Folge sein. Angesichts des wachsenden Nationalismus, nicht geregelter Konflikte und der mangelnden Bereitschaft zu einer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung schafft dies Unsicherheiten in der Region, aber auch für uns. In Zukunft darf es allerdings nicht allein darum gehen, länderspezifische Lösungen für Kernwaffenaspiranten zu suchen. Ebenso notwendig ist es, über die offenkundigen Probleme und Schwächen, Ungleichgewichte und doppelten Standards der Rüstungskontrollregime zu sprechen. Dabei sollte eines klar sein: Die bisherigen Abkommen müssen in ihrer Substanz erhalten bleiben. Die Instanzen, die die Einhaltung der jeweiligen Verträge überwachen, müssen gestärkt werden. Gleichzeitig sollten die Vertragslücken geschlossen und, wo nötig, ergänzt werden. Im Einzelnen gehören dazu wirksame und überprüfbare Maßnahmen der nuklearen Abrüstung, eine Nulllösung bei den taktischen Atomwaffen, ein Kernwaffenregister, die Offenlegung der Plutoniumbestände und das In-Kraft-Setzen des umfassenden Teststoppvertrages. Das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag muss von allen Vertragsstaaten ohne Einschränkungen akzeptiert werden. Der internationale Terrorismus ist heute auch eine sicherheitspolitische Herausforderung. Es besteht die Gefahr, dass diese Gruppen Massenvernichtungswaffen besitzen und einsetzen wollen. Das beste Rezept, solche Pläne zu verhindern, ist, weitere Staaten vom Besitz derartiger Waffen abzuhalten und die Atomwaffenstaaten zu überzeugen, endlich ihre Verpflichtung zur Abrüstung einzulösen. ({5}) Je weiter Atomwaffen verbreitet sind, umso wahrscheinlicher ist, dass sie in die Hände internationaler Terroristen geraten. Rüstungskontrolle ist deshalb auch ein Mittel gegen nicht staatliche Bedrohungen. Demokratien sind Ordnungen, die einer effektiven Rüstungskontrolle aufgeschlossen gegenüberstehen. Deshalb ist es nicht nur ein Privileg, sondern auch die Aufgabe demokratischer Institutionen, weitere Maßnahmen zur Rüstungsbegrenzung anzuregen. Vor allem müssen Parlamente und Regierungen den Frieden zwischen den Ländern stärken. Zweifellos sind dabei Demokratien gegenüber ihresgleichen friedensgeneigter. Demnach bedeutet die Zunahme der Zahl demokratisch regierter Länder auch eine Ausbreitung des Friedens. ({6}) Das ist allerdings keine einfache Gleichung. Die Form allein bewirkt noch keine Demokratie. Außerdem sind fragmentierte demokratische Staaten in der Regel keine friedlichen Gesellschaften. Deshalb sind militärische, von außen herbeigeführte Regierungswechsel nicht nur völkerrechtswidrig; sie sind zum Aufbau demokratischer Gesellschaften vollkommen ungeeignet. ({7}) Mehr noch: Derartige Handlungen diskreditieren das Konzept des demokratischen Friedens, bedrohen die Prinzipien des Völkerrechts und schaffen neue Unsicherheiten wie übermäßige Rüstung und falsches Regieren. Die Krise der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist vor allem das Ergebnis politischer Fehlentscheidungen. Weil der politische Wille zugunsten von Abrüstung und Rüstungskontrolle fehlt, brauchen wir gerade jetzt mutige und kluge Schritte. Wir brauchen eine Wiederbelebung der Abrüstung und Rüstungskontrolle. ({8}) In den 70er- und 80er-Jahren waren es vor allem westeuropäische Sozialdemokraten, die eine Politik der Entspannung durch Initiativen zur Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ergänzt haben. Egon Bahr, Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky sind nur einige Namen in einer beachtlichen Reihe von Personen, die für diese Politik standen. Wenn wir heute, in Zeiten neuer Spannungen, wieder eine Entspannungspolitik gestalten wollen, kann die SPD ihre Erfahrungen und Ideen einbringen. Dabei reichen gute und überzeugende Vorschläge allein nicht. Um die kollektive Friedenssicherung zu stärken, müssen wir Abrüstung und Rüstungskontrolle als Ordnungsprinzip der internationalen Politik erneuern. Die deutsche Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union, vor allem aber der einjährige Vorsitz Deutschlands in der G 8 bieten dafür einen geeigneten Rahmen. Es wäre leichtfertig, wenn wir diese Chancen verpassen würden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Hoff von der FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, zu Beginn einen Satz aus dem vorliegenden Jahresabrüstungsbericht 2005 zu zitieren: Verlust an regionaler Sicherheit … wirkt sich stets auf die weltweite Sicherheitsbalance aus. Der nordkoreanische Atomwaffentest vom 9. Oktober hat gezeigt, dass die Debatte um Abrüstung und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen aktuell und dringender als selten zuvor ist. Heute liegen uns die Jahresabrüstungsberichte der Jahre 2004 und 2005 vor. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Gemeinsam mit dem Jahr 2006 waren es schwarze Jahre für die weltweite nukleare Abrüstung. Über diesen Umstand kann auch ein Friedensnobelpreis für die Internationale Atomenergiebehörde im Jahr 2005 nicht hinwegtäuschen. Mit Nordkorea hat vermutlich ein weiterer Kernwaffenstaat die weltpolitische Bühne betreten. Die Diskussion über das iranische Atomprogramm schwelt weiter; eine tragfähige Lösung ist nicht in Sicht. Darüber hinaus befinden sich das Nichtverbreitungsregime und dessen Herzstück, der Nichtverbreitungsvertrag, in einer nicht zu leugnenden Krise. Kernwaffenstaaten wie Russland und die USA modernisieren ihr Nuklearwaffenpotenzial, anstatt ihren vertraglichen Abrüstungsverpflichtungen nachzukommen. Mit dem geplanten indisch-amerikanischen Nuklearabkommen erhält der Kernwaffenstaat Indien die globale Anerkennung und Zugang zu modernster Nukleartechnologie - spaltbares Material eingeschlossen -, obwohl Indien dem Nichtverbreitungsvertrag nie beigetreten ist. Solche nuklearen Doppelstandards gefährden die Glaubwürdigkeit der internationalen Nichtverbreitungspolitik. ({0}) Die genannten Punkte dokumentieren, dass die nukleare Abrüstung in eine politische Sackgasse geraten ist. Deshalb muss die Weltgemeinschaft jetzt entschlossen gegen eine neue nukleare Weltordnung angehen, in der Kernwaffen wieder eine zentrale sicherheitspolitische Bedeutung erhalten. Der Eindruck, der Besitz von Atomwaffen sei der Garant für internationale Macht, Einfluss und Anerkennung, hätte fatale Folgen: Es wäre ein unwiderstehlicher Anreiz für neue potenzielle Nuklearmächte. Der nordkoreanische Atomtest war ein lauter Warnschuss vor den Bug einer statischen globalen Sicherheitsarchitektur. Es ist dringend an der Zeit, dass die großen Atommächte endlich ihren vertraglichen Abrüstungsverpflichtungen nachkommen. ({1}) Sowohl im Fall Nordkorea als auch in der Frage um das iranische Atomprogramm ist ein geschlossenes und konsequentes diplomatisches Vorgehen der P 5 weiterhin notwendig. In dieser schwierigen Lage benötigt die internationale Abrüstungspolitik Impulse und politische Ansätze, damit sie sich aus ihrer Stagnation befreien kann. Es ist gut, wenn die Bundesregierung das Thema „Abrüstung und Nichtverbreitung“ auf ihre politische Agenda setzt. Aber diesen Ankündigungen müssen natürlich entsprechende Taten folgen. Es ist deshalb die Aufgabe unseres Landes, als glaubwürdiger Nichtkernwaffenstaat auf diesem Gebiet eine Führungsrolle zu übernehmen. Die Rolle, die Deutschland bei den diplomatischen Bemühungen der EU 3 um das iranische Atomprogramm eingenommen hat, kann hierfür beispielhaft sein. Daher ist die bisherige Haltung der Bundesregierung im Fall des indisch-amerikanischen Nuklearabkommens unglücklich und über weite Strecken nicht akzeptabel. In seiner bisherigen Form stellt die bilaterale Vereinbarung zwischen Indien und den USA eine Belastung für die Glaubwürdigkeit der internationalen Nichtverbreitung dar. Bei den Beratungen in der Nuclear Suppliers Group, die dem Abkommen einstimmig ihre Zustimmung erteilen muss, hat sich die Bundesrepublik bisher hauptsächlich auf Nachfragen beschränkt. Medienberichten zufolge wurde auf diplomatischer Ebene von Bundeskanzlerin und Außenminister anfänglich nur der Zeitpunkt des Abkommens beim transatlantischen Partner als schwierig bezeichnet. Indien als Nuklearmacht müssen jedoch die gleichen Verpflichtungen auferlegt werden wie den Kernwaffenstaaten, die den Nichtverbreitungsvertrag unterzeichnet haben, wenn es in den Genuss modernster Nukleartechnologie kommen will. ({2}) Die Kritik an diesen Schwachstellen des Nuklearabkommens wurde bisher vorrangig anderen europäischen Nachbarstaaten wie Irland und Schweden überlassen. Wir erwarten, dass die vom Bundesaußenminister im Juni genannten Kriterien zur Nachbesserung des Abkommens auch offiziell als deutsche Position in der nächsten Plenumssitzung der NSG zur Sprache gebracht werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte diese Nachbesserungen bereits in einem Antrag im Mai eingefordert. Die nukleare Nichtverbreitung ist nicht das einzige abrüstungspolitische Themenfeld, das unserer verstärken Aufmerksamkeit bedarf. Ende November findet in New York die 6. Überprüfungskonferenz für das Biowaffenabkommen statt. Das Scheitern der Konferenz im Jahr 2001 stellt die internationale Gemeinschaft vor die schwierige Aufgabe, neue Wege für eine Stärkung des Vertrages zu finden. Ein tragfähiges und handlungsfähiges Biowaffenregime wird besonders wichtig, da gerade die biologischen Waffen im Zuge der rasanten Entwicklung in den Biowissenschaften immer gefährlicher werden. Im Schatten der Debatte um die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen steht viel zu häufig das Problem der weltweiten Verbreitung von Kleinwaffen. Derzeit sind circa 650 Millionen dieser Waffen international im Umlauf. Vor allem in den Entwicklungsregionen Afrikas, Asiens und Südamerikas werden Konflikte überwiegend mit Kleinwaffen und leichten Waffen ausgetragen. Deswegen ist es nicht falsch, wenn im Zusammenhang mit Kleinwaffen von den wahren Massenvernichtungswaffen unserer Zeit gesprochen wird. Der Jahresabrüstungsbericht 2005 verweist in diesem Zusammenhang auf ein vorbildliches Engagement der Bundesregierung. Ich sehe das etwas anders. Rüstungsexporte der Gegenwart sind nicht selten die Abrüstungsprobleme der Zukunft. Deshalb lohnt es sich, einen Blick in den Rüstungsexportbericht zu werfen. Die Gesamtsumme aller exportierten Kleinwaffen der Bundesrepublik ist zwischen 2004 und 2005 nahezu gleich geblieben. Aber die Exporte von Kleinwaffen in Entwicklungsländer haben sich in der Relation verdreifacht: von 5 auf 15 Prozent der Gesamtausfuhren. Das ist angesichts der bereits geschilderten Auswirkungen in den Entwicklungsregionen besorgniserregend. Die Bundesregierung muss deshalb sicherstellen, dass die Empfängerländer bei Neulieferungen ihre alten Bestände vernichten, sodass diese Waffen nicht in die falschen Hände geraten und die Region weiter destabilisieren können. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die weltweite Abrüstung und Nichtverbreitung sowohl von Massenvernichtungswaffen als auch von konventionellen Waffen stellt die Weltgemeinschaft nach der Beendigung des Kalten Krieges vor große Herausforderungen. Wir müssen fähig sein, diese im Interesse der globalen Sicherheit und Stabilität gerade jetzt gemeinsam zu bewältigen. Ich sehe eine Reihe von Möglichkeiten, gemeinsame Initiativen zu ergreifen und wichtige Übereinstimmungen herzustellen. Ich bin sehr sicher, dass wir hier im Parlament vernünftige Schritte unternehmen werden. Dieses Thema ist so wichtig, dass wir alle unsere Kraft darauf verwenden sollten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckart von Klaeden von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Nordkoreas Bombe mag klein gewesen sein. Die Konsequenzen des Atomtests - mittlerweile müssen wir ja davon ausgehen, dass es sich um eine nukleare Explosion gehandelt hat - sind aber als dramatisch zu bezeichnen. Die Welt ist ohne Zweifel unsicherer geworden. Wenn die gemeinsame Ablehnungsfront aus Amerikanern, Europäern, Russen, Japanern und Chinesen keine angemessene Antwort auf diese Provokation Pjöngjangs findet, dann könnte der 9. Oktober 2006 als jener Tag in die Geschichte eingehen, an dem ein neues nukleares Wettrüsten begonnen hat. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns über die Motive Nordkoreas klar werden: Nordkorea ist ein Regime, das als Folge seiner selbst gewählten Isolierung mit dem Rücken zur Wand steht. Zur Machterhaltung wählt es den Weg der Erpressung. Zur Erpressung wendet Nordkorea hauptsächlich zwei Mittel an: zum einen seine Armee, zum anderen - so paradox es klingen mag - die Drohung mit den wirtschaftlichen Folgen, die sein Scheitern für seine Nachbarn haben würde. Bisher hat Nordkorea den militärischen Teil seiner Strategie vor allem auf konventionelle Streitkräfte gestützt. Dieses bitterarme Land hat ungefähr 1,3 Millionen Soldaten. Damit verfügt es über eine der größten ArEckart von Klaeden meen, die es auf der Welt gibt. Wir wissen, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Nordkoreas immer mehr dazu führen, dass diese Armee nicht mehr finanziert werden kann. Deswegen hat die provozierende und zugleich paradoxe Sicherheitsstrategie Nordkoreas zur Konsequenz, dass sich das Land um Atomwaffen bemüht. Wie wir sehen, funktioniert diese Strategie. Südkorea und China verhalten sich, wenn es um die wirtschaftlichen Folgen der im UN-Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionen geht, sehr zurückhaltend, weil sie den Zusammenbruch Nordkoreas fürchten. Dann müssten sie Flüchtlinge aufnehmen und die Bruchstücke des zusammengebrochenen Regimes aufsammeln. Deswegen, so glaube ich, müssen wir auch mit Südkorea und China Gespräche über die Folgen eines möglichen Zusammenbruchs Nordkoreas führen. ({0}) Wir müssen uns aber auch klarmachen, dass der häufig vorgetragene Gedanke, Nordkorea hätte durch direkte Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea von seinem Nuklearprogramm abgebracht werden können, bestenfalls naiv zu nennen ist. Solche direkten Gespräche zwischen Nordkorea und den Vereinigten Staaten hat es bereits nach der ersten nordkoreanischen Nuklearkrise Mitte der 90er-Jahre gegeben. Diese Gespräche waren - so hat man es jedenfalls damals eingeschätzt - erfolgreich; denn sie haben mit dem Abschluss eines Abkommens geendet. Als Gegenleistung für die Einstellung seines Nuklearprogramms erhielt Nordkorea in der Folge umfangreiche Öllieferungen. Die extra zu diesem Zweck gegründete Organisation KEDO, an der sich auch die EU beteiligt hat, begann zur Sicherstellung der Energieversorgung Nordkoreas mit dem Bau zweier Leichtwasserreaktoren. Pjöngjang hat dieses Abkommen gebrochen und sein Nuklearprogramm vor drei Jahren - so nehmen wir jedenfalls an - wieder aufgenommen. Das zeigt, dass der beschriebene einfache Zusammenhang, der von manchen hergestellt wird, bestenfalls naiv ist oder Ausdruck des bei uns bedauerlicherweise verbreiteten Antiamerikanismus, bei dem die Verantwortung für jede internationale Krise zunächst einmal bei den Vereinigten Staaten gesucht wird. Welche Auswirkungen hat das Verhalten Nordkoreas auf das internationale Nichtverbreitungsregime und die Sicherheitslage? Besonders gefährlich sind die Auswirkungen natürlich für Nordostasien; denn die atomare Bewaffnung Nordkoreas droht die dortige relativ stabile geopolitische Lage der letzten Jahrzehnte durcheinander zu bringen. Diese Lage ist in kurzen Worten so zu beschreiben: Die Vereinigten Staaten schützen Südkorea. China hat die Rolle Russlands übernommen, Nordkorea im Zaum zu halten. Japan steht ebenfalls unter dem Schutzschirm der Vereinigten Staaten. Japan hat nach dem so genannten Taepodong-Schock aus dem Jahre 1998, als Nordkorea zum ersten Mal eine mehrstufige Rakete testete, intensiv über den Aufbau eines eigenen Raketenabwehrsystems nachgedacht, dies zu tun beschlossen und dabei die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten gesucht. Es ist gut, dass der neue japanische Premierminister Shinzo Abe, der über eine eigene nukleare Bewaffnung seines Landes nachgedacht hat, jetzt deutlich gemacht hat, dass er sich auf den Schutzschirm der Vereinigten Staaten verlassen will. Er weiß, dass eine eigene Nuklearkapazität seines Landes mit erheblichen wirtschaftlichen Kosten und hohen diplomatischen Kosten für sein Land verbunden wäre. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund seiner Bemühungen, das stark belastete Verhältnis zu Peking durch seinen ersten Besuch dort zu verbessern. Aber auch andere Länder in der Region - Südkorea, möglicherweise auch Taiwan - könnten sich durch die nordkoreanischen Aktivitäten motiviert fühlen, eigene Nuklearkapazitäten aufzubauen. Deswegen ist gerade eine entschlossene und klare Reaktion der Weltgemeinschaft, des UN-Sicherheitsrates, auf die nordkoreanischen Aktivitäten so wichtig. Andere Länder sollen davon abgehalten werden, ebenfalls Nuklearkapazitäten aufzubauen. Dazu bedarf es diplomatischer Bemühungen der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch China und Russland spielen in dieser Krise eine zentrale Rolle. China ist letztlich der Schlüssel dafür, dass Nordkorea seine Aktivitäten nicht fortsetzt. ({1}) Der Nichtverbreitungsvertrag war bisher ein Erfolg. Es wäre daher falsch, das Nichtverbreitungsregime angesichts dieser Entwicklungen grundsätzlich infrage zu stellen, auch wenn wir feststellen müssen, dass es ernsthaften Gefahren ausgesetzt ist. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy hat in den 60er-Jahren prognostiziert, dass man binnen zehn Jahren mit 25 neuen Nuklearmächten rechnen müsse. Glücklicherweise hat sich seine Prognose nicht erfüllt. Mittlerweile haben wir außer den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates Indien, Pakistan, Israel und, seit dem 9. Oktober, Nordkorea als potenzielle oder tatsächliche Nuklearmächte. Ungefähr 40 Staaten stehen laut dem Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, al-Baradei, an der Schwelle, sich nuklear bewaffnen zu können. Wir müssen aber auch sehen, welche Konsequenzen die Reaktion der Weltgemeinschaft in Bezug auf den Nuklearkonflikt mit dem Iran hat. Der Iran wird sehr genau beobachten, ob deutliche Sanktionen gegen Nordkorea verhängt werden und ob die Weltgemeinschaft sich durchringen kann, um die Proliferation von Nuklearwaffen auszuschließen, den Schiffsverkehr von und nach Nordkorea zu kontrollieren. Die Art, wie die Weltgemeinschaft jetzt auf Nordkorea reagiert, wird andere Staaten, die nach Nuklearwaffen streben, ermutigen oder möglicherweise davon abhalten, sich eigene Nuklearwaffen zuzulegen. Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, welche sicherheitspolitischen Konsequenzen sich für uns aus dieser Entwicklung ergeben. Wir müssen alles dafür tun, dass das Nichtverbreitungsregime aufrechterhalten bleibt, und wir müssen eine Strategie dafür entwickeln, wie wir mit den Staaten umgehen, die sich außerhalb des Nichtverbreitungsvertrages bereits Nuklearwaffen zugelegt haben. Frau Kollegin Hoff, in diesem Zusammenhang fand ich Ihre Darstellung der Bemühungen der Vereinigten Staaten um eine Heranführung Indiens an das Nichtverbreitungsregime ein wenig einseitig, wenn ich das so sagen darf. Bei Ihrer Darstellung der amerikanischen Bemühungen haben Sie nämlich vollständig außer Acht gelassen, dass es kein Geringerer als der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, al-Baradei, gewesen ist, der unter Berücksichtigung aller realpolitischen Konsequenzen den Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten und Indien unter dem Strich als einen Fortschritt gerade auch im Hinblick auf die Unterstützung des Nichtverbreitungsregimes bezeichnet hat, weil Indien durch diese Verhandlungen und den Vertrag stärker an das Nichtverbreitungsregime herangeführt wird. Es ist richtig, das Nichtverbreitungsregime aufrechtzuerhalten und alle aufzufordern, sich daran zu halten, aber wir müssen schließlich auch eine Strategie dafür entwickeln, wie wir mit den Staaten umgehen und auf konstruktive Signale der Staaten reagieren, die sich neben den offiziell anerkannten Nuklearmächten Nuklearwaffen beschafft haben. Durch die Entwicklung, die wir zu beobachten haben, müssen wir uns aber auch die Frage nach unserer eigenen Sicherheitspolitik stellen. Wir müssen uns die Frage vorlegen, wie wir auf die Gefahr der asymmetrischen Proliferation von Nuklearwaffen angemessen reagieren. Wir müssen uns im Rahmen der NATO auch Gedanken darüber machen, wie wir auf die Gefahr, dass es weitere Nuklearmächte geben kann, und auf die Gefahr, dass sich zum Beispiel der Iran tatsächlich nuklear bewaffnet, reagieren. Wir müssen bedenken, dass schon heute viele Staaten Europas im Einzugsbereich iranischer Raketen liegen. Es ist letztlich auch eine Frage der Zeit, wann wir die Gefahren des nuklearen Terrorismus in der westlichen Welt vor Augen geführt bekommen und wann wir damit rechnen müssen, dass auch Europa von Nuklearwaffen weiterer Atomstaaten bedroht wird. Darauf müssen wir angemessen reagieren, und zwar einerseits mit den bereits vom Kollegen Mützenich beschriebenen Bemühungen, das Nichtverbreitungsregime aufrechtzuerhalten und so viele Staaten wie möglich von ihren möglichen Plänen, sich Nuklearwaffen zuzulegen, abzuhalten, und andererseits, indem wir Überlegungen anstellen, wie wir unsere eigene Bevölkerung effizient und erfolgreich vor diesen Gefahren schützen können. Das Beispiel Nordkorea und die Entwicklung in diesem Monat zeigen, dass wir unsere Sicherheit, die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger, nicht mehr allein geografisch definieren können, sondern dass die Entwicklungen in fernen Teilen unserer Welt auch für die Sicherheit in unserem Land unmittelbare Konsequenzen haben. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Jahresabrüstungsberichte der Bundesregierung sind wie immer informativ und wichtige Arbeitsmittel für alle, die abrüstungspolitisch engagiert sind. Dafür kann man sich schon einmal bedanken. Ich spreche meine Anerkennung auch all denjenigen aus, die darauf hingewirkt haben, dass wir endlich Gelegenheit haben, in der so genannten Kernzeit über dieses Thema zu sprechen. Der Haken bei der Sache: Abrüstung, substanzielle Abrüstung, findet nicht mehr statt. Abrüstung ist kein offizielles Thema mehr. Wir machen uns nicht die Sichtweise zu Eigen, die besagt, dass es Rüstungsbedrohungen und Rüstungslasten anderswo gibt, zum Beispiel in Pjöngjang und Teheran, und dass wir damit nicht unmittelbar zu tun haben. Hic Rhodus, hic salta! Wir müssen hier auch darüber reden, was in diesem Hause geschieht. ({0}) Hier wird über mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr, über die dafür notwendige Um- und Aufrüstung und über mehr Geld für die Rüstung diskutiert. Auch das gehört in diese abrüstungspolitische Debatte. ({1}) Klar, die Bundesrepublik ist kein isolierter Akteur. Wir haben es mit Welttrends zu tun. Da ist, wie man sieht, Abrüstung „out of time“. Da hilft auch keine Schönfärberei weiter. Im Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung bemüht man lieber Schönsprech statt Tacheles. Ein Beispiel hierfür ist der Ausdruck von der „gemischten Bilanz der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik“. Tatsache ist: Die weltweiten Ausgaben für das Militär steigen wieder kräftig. Konventionelle Abrüstung ist kein Thema. Es gibt dazu keine Foren, auf denen derzeit über Abrüstungsschritte verhandelt wird. Im Bereich der Atomwaffen droht eine entscheidende Erosion des Nichtverbreitungsvertrags. Auch die Summe der Waffengeschäfte, also die Ein- und Ausfuhren - der Kollege Mützenich hat darauf schon hingewiesen -, steigt wieder kräftig an. Es ist auch ein bundesdeutsches Thema, wenn Rüstungsexporte wieder Konjunktur haben. Es ist richtig, wie Kollege Mützenich sagt, dass man über diesen rüstungskontrollpolitischen Ansatz wieder ernsthafter nachdenken muss. Das ist ein entscheidendes Element der Vertrauensbildung. Aber es geht bei der Rüstungskontrolle darum, einem undurchschaubaren und unkontrollierten Aufwuchs von Rüstung zu wehren. Abrüstung dagegen meint eine tatsächliche ReduziePaul Schäfer ({2}) rung, Minderung und Eliminierung von Waffenarsenalen, Reduzierung der Zahl der Streitkräfte und Senkung der Rüstungsausgaben. Das ist viel weitgehender. Über genau diesen Punkt muss man diskutieren. Der Gedanke, der in den 80er-Jahren eine große Rolle gespielt hat, dass Rüstung teuer ist, volkswirtschaftliche Ressourcen bindet und eine zerstörerische und tödliche Wirkung hat - auch das muss man in diesem Zusammenhang einmal sagen -, muss wieder Platz greifen. Deshalb hat Abrüstung für uns einen eigenen Stellenwert. ({3}) Die Linke versteht sich als Partei der Abrüstung und das wird auch so bleiben. Ich halte es für problematisch, dass der Jahresabrüstungsbericht aus einem Aufrüstungs- und einem Abrüstungsteil besteht und sich unkritisch gegenüber dem zeigt, was an Aufrüstung in der NATO und in der EU stattfindet. Auf das Problem des „demokratischen Friedens“ und darauf, dass man das kritisch reflektieren muss, ist schon hingewiesen worden. Manche verklären die NATO zur größten Friedensbewegung der Welt und deshalb soll all das, was dort an Rüstungs- und Aufrüstungsmaßnahmen vor sich geht, gut sein. Der Hinweis auf Irak und Afghanistan an dieser Stelle muss genügen, um zumindest die Sichtweise, es handele sich um gute Hegemonialmächte und das, was sie rüstungspolitisch täten, sei in Ordnung, zu hinterfragen. Es bleibt die Tatsache: Zwei Drittel der Weltmilitärausgaben werden durch die NATO bestritten. Wenn dann auch hier im Hause diskutiert wird und aufseiten der Bundesregierung völlig zu Recht darauf hingewiesen wird, dass es ein krasses Missverhältnis zwischen den Weltmilitärausgaben und den Ausgaben für öffentliche Entwicklung gibt, dann muss man doch zunächst einmal innehalten und sich fragen: Was tragen wir, die Bundesrepublik, und die NATO als Bündnis, dessen Mitglied wir sind, dazu bei? Dazu muss man einfach sagen: Dieses krasse Missverhältnis besteht. Die Weltmilitärausgaben sind inzwischen auf die astronomische Summe von weit über 1 Billion Dollar gestiegen. Ich glaube, die öffentlichen Entwicklungsmittel liegen gegenwärtig bei etwas über 80 Milliarden Dollar. Das ist ein krasses Missverhältnis. Dieses Element trägt entscheidend zu Unfrieden und Unsicherheit in der Welt bei. Hieran muss gearbeitet werden. Das heißt: Abrüstung auch bei uns. Ebenso muss die NATO Beispiele dafür geben, dass sie abrüstungspolitisch vorangehen will. ({4}) Das ist der Punkt. Ich bin pragmatisch denkend genug, um zu wissen, dass man hier nicht wie bei einer Wundertüte von der einen Seite auf die andere Seite umverteilen kann. Aber dennoch ist der Hinweis auf diese Diskrepanz zwischen Militär- und Entwicklungsausgaben wichtig, weil er einfach Fehlentwicklungen zeigt, die korrigiert werden müssen. Deshalb fordern wir in unserem Entschließungsantrag, dass die NATO ähnlich wie in den 70er-Jahren, in denen sie ein „long-term development programme“ begonnen und ihre Mitgliedstaaten aufgefordert hatte, die Mittel für die Rüstungsetats jährlich um 5 Prozent zu steigern, ein entsprechendes Programm unter umgekehrten Vorzeichen auflegt. Warum sagen wir nicht, die Mitglieder sollen jährlich die Mittel für die Rüstungsetats um 5 Prozent reduzieren? ({5}) Die Bundesregierung schreibt in ihrem Bericht, im Mittelpunkt ihrer Bemühungen stehe die „Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel“ mit dem langfristigen Ziel der vollständigen Abschaffung. Das ist sehr wichtig. Spätestens seit dem jüngsten stupiden Atomtest in Nordkorea steht die nukleare Frage wieder auf der Tagesordnung. Auch die Debatte um das iranische Atomprogramm hat gezeigt, dass der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen in einer Krise steckt. Es droht in der Tat - darin ist meinen Vorrednern zuzustimmen - eine Entwicklung, die zu mehr Atomwaffenmächten und neuen atomaren Rüstungswettläufen führen wird. Es zeigt sich aber auch, dass sich auf Dauer nicht aufrechterhalten lässt, dass es auf der einen Seite das exklusive Monopol einer kleinen Staatengruppe gibt, die für sich den Besitz von Atomwaffen beansprucht, und auf der anderen Seite die nuklearen Habenichtse. Das hat nicht zuletzt die ergebnislose Überprüfungskonferenz im Jahr 2005 gezeigt. Wenn sich nichts an der beharrlichen Weigerung der Atomwaffenbesitzer, abzurüsten, ändert, dann werden wir bei der nuklearen Abrüstung nicht weiterkommen. Die Nuklearmächte müssen daran erinnert werden, dass sie sich im Atomwaffensperrvertrag zur Abrüstung verpflichtet haben. Diese Verpflichtung müssen sie endlich ernst nehmen. Auf der anderen Seite steht der um sich greifende militärische Interventionismus der Staaten des Nordens, der in anderen Teilen der Welt als bedrohlich empfunden wird. Auch darüber muss man sich Gedanken machen. Man muss sich schließlich nicht wundern, wenn manche glauben, sie könnten sich besser schützen, wenn sie selber über die tödlichste aller Waffen verfügten. Die Glaubwürdigkeit der Atommächte - auch darauf wurde schon hingewiesen - wird auch erschüttert, wenn sie selber eine Politik der doppelten Standards verfolgen. Während dem Iran wegen möglicher Atomwaffenambitionen bestimmte Rechte des Atomwaffensperrvertrags nicht zuerkannt werden, soll der neue Atomstaat Indien mit einer breiten nukleartechnischen Zusammenarbeit belohnt werden. Zur Erhöhung der nuklearen Gefahren gehören auch waffentechnologische Entwicklungen, die die Schwelle für den Einsatz dieser Waffen herabsetzen. Früher galten Atomwaffen als politische Abschreckungswaffen. Es gab immer Bestrebungen, sie auch für militärische Einsätze zu instrumentieren, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Das war die Paradoxie der nuklearen Abschreckungsphilosophie. Paul Schäfer ({6}) Inzwischen hat sich unsere Lage in rüstungstechnologischer Hinsicht verändert. Es gibt die so genannten Mini-Nukes und Bunker brechende Waffen, die für sehr konkrete Einsatzszenarien vorgehalten werden sollen. Das heißt, dass die Gefahr des Einsatzes dieser Waffen immens steigt. Auch darauf muss in diesem Zusammenhang hingewiesen werden, um daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. Was folgt daraus? Ohne eine neue Dynamik bei der atomaren Abrüstung ist der Weg zu atomaren Rüstungswettläufen vorprogrammiert. Darüber muss gesprochen werden. Als erster Schritt müssen die bereits 1995 deklarierten negativen Sicherheitsgarantien, nach denen Nichtatomwaffenstaaten nicht atomar angegriffen werden dürfen, rechtsverbindlich werden. Die Ersteinsatzdoktrinen gehören in den Orkus. Der Grundsatz „No first use“ ist aktueller denn je. ({7}) Es geht aber nicht nur darum, was in anderen Staaten geschieht. Auch in Deutschland geht es, wie gesagt, um nukleare Abrüstung und um die deutschen Beiträge dazu. Wir brauchen die taktischen US-Nuklearwaffen, die in Büchel und Ramstein lagern, nicht mehr als transatlantische Klammer. Es ist ein armseliges Bündnis, das auf einer solchen Lastenteilung beruht. ({8}) Diese Waffen sind gefährlich, und zwar sowohl für diejenigen im Osten, auf die sie gerichtet sind, als auch für uns, weil sie Zielpunkte bei Einsatzplanungen anderer Staaten sind. Deshalb ist die Bundesregierung aufgefordert, die USA zum Abzug zu drängen und diese Frage in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO beharrlich anzusprechen. Bei der Diskussion über die Revision des strategischen Konzepts der NATO mit Blick auf den Gipfel 2008 sollte die Bundesregierung energisch darauf drängen, dass die aus dem Kalten Krieg übernommene Formel, wonach diese taktischen Nuklearwaffen essenziell für die Verteidigung des Bündnisses sind, endlich in der Mottenkiste der Geschichte verschwindet. ({9}) Schließlich sollte die nukleare Teilhabe der Bundesrepublik endgültig ad acta gelegt werden. Das heißt, dass auch die Tornadostaffel, die die Träger für diese Waffen bereitstellt, aufgelöst werden sollte. ({10}) Das ist eine Reihe von Vorschlägen. Ich könnte einige Vorschläge zur Rüstungsexportpolitik anschließen. Auch in diesem Bereich könnte die Bundesrepublik Deutschland sehr viel mehr tun, als es gegenwärtig der Fall ist. Also nicht immer auf andere zeigen, sondern hier mit der Abrüstungspolitik beginnen! Leider reicht meine Zeit nicht mehr, darauf genauer einzugehen. Noch einmal: Die NATO muss ein positives Signal bei der Abrüstung setzen. Wir müssen die nationalen Spielräume für Abrüstung nutzen. Das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide muss geschlossen werden. Der Weg muss für eine zivile Nutzung freigemacht werden. ({11}) Die Rüstungsexporte müssen eingeschränkt und schließlich beendet werden. Das alles fordern wir in unserem Entschließungsantrag. Ich empfehle Ihnen, diesem zuzustimmen. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. FrankWalter Steinmeier.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich teile nicht alles, was mein Vorredner gesagt hat. Aber in einem Punkt hat er Recht: „Abrüstung“ klingt wie ein Stichwort aus einer vergangenen Zeit. Ich bin mir sicher, dass bei einer solchen Debatte noch vor 20 Jahren nicht nur die unteren Ränge des Hauses sehr viel voller gewesen wären, sondern auch die Pressetribünen. Das Bedrohungsgefühl hat sich hierzulande offensichtlich verändert. Vor 15 Jahren, nach dem Ende der Blockauseinandersetzungen und mit Herstellung der europäischen Einheit, hat die Furcht vor Bedrohung nachgelassen. Man begann zu hoffen, dass sich die Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel in Europa verflüchtigt oder irgendwie von selbst erledigt. Das war ein böser Trugschluss. Der Atomtest in Nordkorea vor zehn Tagen hat - darauf haben bereits viele hingewiesen - die Menschen aufgerüttelt. Wir erleben nun, dass das Zeitalter der Atomwaffen ganz offensichtlich nicht vorbei ist. Im Gegenteil: Manche Machthaber wie die in Nordkorea setzen ganz offenkundig darauf, sich mit atomaren Machtspielen wieder einen Platz in der Weltpolitik zu verschaffen. Lassen Sie mich an dieser Stelle und vor Einstieg in das eigentliche Thema einen Dank an das Hohe Haus richten. Der Deutsche Bundestag hat das zur Diskussion stehende Thema - ich glaube, das darf ich sagen - nicht nur dann ernst genommen, wenn es im Brennpunkt der medialen Aufmerksamkeit stand. ({0}) Allen hier vertretenen Parteien ist das Thema Abrüstung immer ein Anliegen gewesen, wenn auch vielleicht mit unterschiedlichen Gewichtungen. Das weiß man auch außerhalb der Grenzen unseres Landes. Weil man uns in Abrüstungsfragen ernst nimmt, finden Kongresse und Veranstaltungen zu diesem Thema - achten Sie einmal darauf! - häufig in Deutschland statt. Zuletzt fand im Willy-Brandt-Haus eine Veranstaltung zu den Themen „Abrüstung“ und „nukleare Abrüstung“ zusammen mit dem Direktor der Internationalen Atomaufsichtsbehörde, al-Baradei, statt. Wir diskutieren heute über den Jahresabrüstungsbericht und dokumentieren damit zum 22. Mal in der Geschichte der Republik die Anstrengungen der Bundesregierung bei der Rüstungskontrolle, der Nichtverbreitung und der Abrüstung. Zu Beginn der Vorlage der Abrüstungsberichte stand natürlich die Situation in Deutschland und in Europa - das habe ich vorhin angedeutet im Vordergrund. Die Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel und Trägerraketen war für unser Land allgegenwärtig. Heute stehen wir vor der Aufgabe, dem damals gewählten und noch immer richtigen Ansatz von multilateralen Verpflichtungen und Verträgen zu neuer Geltung und Durchsetzungsstärke zu verhelfen. ({1}) Europa und insbesondere Deutschland stehen dabei - das bekenne ich - in ganz besonderer Verantwortung. Wir wollen die Gefahr eines nuklearen Wettlaufs auch in anderen Weltregionen durch eine aktive Abrüstungspolitik verhindern. ({2}) Wie dringlich dies ist, zeigt der Atomtest in Nordkorea, auf den ich schon zu Beginn meiner Rede hingewiesen habe. Das nordkoreanische Regime verstößt mit dieser Provokation eklatant gegen die Bestimmungen des Nichtverbreitungsvertrages. Wie Sie wissen, bedeutet die Zündung eines nuklearen Sprengkopfes, wie sie nun stattgefunden hat, eine neue Eskalationsstufe. Deshalb unterstützen wir - ich bin froh, dass das auch viele andere hier gesagt haben - die eindeutige und deutliche Antwort des Weltsicherheitsrats auf diesen unverantwortlichen Schritt; denn wir dürfen nicht wegsehen, wenn Nordkorea auf diese Weise nicht nur den Frieden in der Region gefährdet, sondern mit seinen Aktivitäten der Welt geradezu einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf aufzuzwingen versucht. ({3}) Deshalb lassen Sie uns auch von dieser Stelle noch einmal das Regime in Pjöngjang dazu aufrufen, den Weg einer, wie ich finde, völlig sinnlosen Selbstisolation zu verlassen, und dies nicht nur wegen des Rüstungswettlaufs, sondern auch weil Nordkorea damit noch mehr Armut und noch mehr Leid über die eigene Bevölkerung bringt. ({4}) Indem ich das sage, bringe ich aber auch in Erinnerung, dass in der Antwort des Weltsicherheitsrats ein Zweites enthalten ist, nämlich auch die Aufforderung an Nordkorea, im Rahmen der Sechsergespräche an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir unterstützen ausdrücklich die schnelle Wiederaufnahme eines politischen Dialogs, nicht nur weil ich ihn für richtig halte, sondern auch weil ich ihn für alternativlos halte. ({5}) Mit der gleichen Sorge, aber auch mit dem gleichen Ziel haben wir uns in den Konflikt um das iranische Atomprogramm eingeschaltet und Teheran zu einem frühen Zeitpunkt in diesem Jahr, nämlich schon im Juni, gemeinsam mit anderen ein sehr, sehr weit reichendes Angebot zu Gesprächen und zu Verhandlungen gemacht. Dabei ist auch Ihnen immer wieder offenbar geworden: Wir sprechen Teheran eben nicht das Recht auf zivile Nutzung von Atomenergie ab, aber wir wollen verhindern, dass sich Teheran unter diesem Deckmantel eigene Nuklearwaffen zulegt. ({6}) Deshalb besteht die Weltgemeinschaft auf einer internationalen Kontrolle des Atomprogramms. Deswegen pochen wir auf eine Aussetzung der Urananreicherung und deshalb muss Teheran den Nachweis liefern, dass geheime Aktivitäten aus offensichtlich mehr als 18 Jahren weder im Hauptzweck noch im Nebenzweck der Entwicklung einer eigenen nuklearen Waffentechnologie gedient haben. Die Auseinandersetzungen mit Nordkorea und dem Iran offenbaren - viele andere haben es eben gesagt eine schleichende Erosion des Nichtverbreitungsvertrages. Auch dieses Thema ist in der Weltpolitik in den vergangenen Jahren zu Unrecht unter den Punkt „Verschiedenes“ gerutscht. Manche hat es kaum beunruhigt, dass die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Mai 2005 ohne jedes substanzielle Ergebnis auseinander- und zu Ende gegangen ist. Ich will deshalb für uns betonen: Wir müssen das Thema Abrüstung wieder oben auf die Tagesordnung setzen. ({7}) Für die Bundesregierung - das verspreche ich Ihnen bleibt es ein zentrales Anliegen, dass die nächste Überprüfungskonferenz im Jahr 2010 ein Erfolg wird. Herr Mützenich hat darauf hingewiesen, dass die G 8 einen Rahmen dazu bietet, die Arbeiten schon im nächsten Jahr aufzunehmen. Arbeit gibt es reichlich. Erst 41 von 44 Staaten haben den umfassenden Kernteststoppvertrag unterzeichnet. Sieben müssen noch ratifizieren, darunter die wichtigsten. Die Arbeit in der Genfer Abrüstungskonferenz braucht frische Impulse. Auch die Abrüstung der Kernwaffenstaaten und insbesondere die Abrüstung der nuklearen Kurzstreckenraketen von Russland und den USA müssen wieder auf den Tisch kommen. ({8}) Zur Logik der Nichtverbreitung gehört aber auch, dass wir glaubwürdige Angebote für die zivile Nutzung der Kernenergie für solche machen, die sie nutzen wollen. Deshalb habe ich - dem einen oder anderen wird das aufgefallen sein - vor wenigen Wochen einen Vorschlag zur Multilateralisierung des nuklearen Brennstoffkreislaufs in die Diskussion gebracht, nicht etwa deshalb, weil ich meinte, es gebe nicht genügend, sondern weil ich der Meinung bin, dass jedenfalls auf Grundlage der bisherigen Vorschläge kein Fortkommen zu erzielen war und deshalb die Diskussion wieder neu angestoßen werden muss. Es gab Reaktionen auf diesen Vorschlag: Sie waren so ermutigend, dass wir diesen Weg weitergehen werden. Wir werden diesen Weg fortsetzen, auch wenn er, wie ich weiß, lang, beschwerlich und dornenreich ist. Obwohl das so ist, haben wir der Nuclear Suppliers Group erst am Freitag der vergangenen Woche angeboten, dass Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte dieser Gruppe ihren Vorsitz übernimmt. Nach Lage der Dinge wird das etwa im Jahr 2008 der Fall sein. Damit will ich Ihnen nur sagen, dass wir es mit unserem Engagement für eine multilaterale Nichtverbreitung ernst meinen. Wir sind bereit, auch dafür Verantwortung zu übernehmen. ({9}) Mit einigen wenigen Worten muss ich einen zweiten Komplex erwähnen: konventionelle Rüstungsgüter, insbesondere Kleinwaffen und Minen. Es handelt sich dabei um eine Kategorie von Waffen - ich habe es hier im Hohen Hause schon einmal gesagt -, mit denen mehr Menschen als mit den Waffen aller anderen Kategorien zusammen umgebracht werden. Wie Sie wissen - es wurde hier gesagt -, werden durch die massenhafte Verbreitung dieser Waffen Konflikte verschärft und wird die Entwicklung in vielen Ländern destabilisiert. Deshalb haben wir uns in diesem Bereich engagiert, vor allen Dingen bei der Entschärfung von Minen. Die Bundesregierung hat zum Beispiel mit dem Internationalen Konversionszentrum Bonn und anderen Nichtregierungsorganisationen, mit der GTZ und der Bundeswehr, Herr Jung, dafür gesorgt, dass viele dieser Minen entschärft werden. Dadurch wurde das Leben vieler Menschen wieder sicherer gemacht. Wir werden bei diesem Engagement bleiben, etwa wenn es um die Einführung von Standards für Antifahrzeugminen geht. Wir werden uns im Rahmen dieser Anstrengungen auch für ein völkerrechtlich verbindliches Verbot von Streumunition einsetzen. ({10}) Sie können sich darauf verlassen, dass unser Engagement erhalten bleibt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Werner Hoyer von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem meine Kollegin Elke Hoff, unsere abrüstungspolitische Sprecherin, die wesentlichen Fragen der beiden Jahresabrüstungsberichte behandelt hat, möchte ich jetzt auf das, was Minister Steinmeier und andere Redner gesagt haben, eingehen und mich in meinem kurzen Beitrag auf wenige Punkte beschränken. Herr Steinmeier, es ist richtig: Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre war Abrüstungspolitik en vogue. Bei einem solchen Thema wäre dieses Haus voll gewesen und man hätte sich danach gedrängt, in diesem Bereich irgendeine Rolle zu spielen. Wer sich damals in den Verteidigungsausschuss begeben hat, wurde eigentlich belächelt, weil er eher als Aufrüster dargestellt wurde. Heute spielt die Abrüstungspolitik offensichtlich keine so große Rolle mehr. So schlimm die Themen sind, mit denen wir uns gegenwärtig befassen müssen - Nordkorea, Iran -: Vielleicht ist mit dieser Situation die Chance für einen Neubeginn in der Abrüstungspolitik verbunden. ({0}) Womöglich wird uns bewusst, dass Abrüstungspolitik auch in Zeiten asymmetrischer Bedrohung einer Logik folgen muss. Es war damals relativ einfach - ich anerkenne, was Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre in der Abrüstungspolitik geleistet worden ist -, weil man sich in einem Gleichgewichtsdenken bewegen konnte. Heute ist Abrüstungspolitik so schwierig, weil wir es teilweise mit abstrakten, teilweise mit konkreten Bedrohungen zu tun haben, aber keine beidseitige Reduzierung im Sinne einer Gleichgewichtspolitik betreiben können. Deswegen muss man bei diesem Thema sehr viel Mut, Konsequenz und Standhaftigkeit haben. ({1}) Fast möchte ich selbstkritisch fragen: Was haben wir versäumt? Darauf komme ich gleich zurück. Wichtig ist mir, vorweg zu sagen: Was die konkreten Fälle angeht, müssen wir klarstellen, wer verantwortlich ist. Für das, was im Iran oder in Nordkorea passiert, sind die Regierungen im Iran und in Nordkorea und niemand anders verantwortlich. ({2}) Wenn wir uns selbstkritisch mit der Frage beschäftigen, was wir machen können, um eine zukunftsorientierte Abrüstungspolitik zu gestalten, dann entlässt das diese Regierungen nicht aus ihrer Verantwortung. Es entlässt auch nicht diejenigen aus ihrer Verantwortung, die jetzt über Sanktionen nachdenken und im Zweifel darüber entscheiden. Ich glaube, wir sind an einem Punkt angekommen, der es in beiden Fällen nahe legt, dieses Mittel nicht mehr auszuschließen. Aber wir alle müssen wissen: Sanktionen wie Embargomaßnahmen können nur funktionieren, wenn sie „dicht“ sind. Dann darf es nicht schon am Anfang Relativierungen geben, wie wir sie jetzt seitens Chinas wieder gehört haben. Ich glaube, dass in China jetzt eine Schocksituation eingetreten ist und deshalb vielleicht wirklich eine Chance besteht, die chinesischen Kollegen beim Wort zu nehmen. Uns als Obleuten des Auswärtigen Ausschusses haben die chinesischen Kollegen vor wenigen Monaten nachdrücklich gesagt, für wie realistisch und machbar sie die diplomatische Lösung im Falle des Iran - aber wahrscheinlich auch im Falle Nordkoreas - halten. Wir müssen sie jetzt einmal zeigen lassen, was sie auf diesem Gebiet können. Nur Nein zu sagen, das kann es bei diesem Thema wirklich nicht sein. ({3}) Zweitens. Ich halte es für völlig absurd, davon auszugehen, dass sich die Vereinigten Staaten in direkte Gespräche mit Nordkorea hineinbomben lassen. Insofern ist das Verhalten Nordkoreas gerade im Zusammenhang mit dem Anliegen, das Nordkorea verfolgt, kontraproduktiv. Ich sehe aber auch das Dilemma, vor dem die Vereinigten Staaten stehen. Wenn man eine militärische Option ausschließt, was ich tue und was übrigens auch auf Südkorea zutrifft, dann gibt es entweder die Möglichkeit, die Chance zu direkten Gesprächen nicht auszuschlagen, oder die Möglichkeit, sich endgültig damit abzufinden, dass Nordkorea über Nuklearpotenzial und über die entsprechenden Trägersysteme verfügt. Deshalb sollten wir uns im Westen Mut machen, wieder daran zu gehen, auf der Basis unserer eigenen Werte und Überzeugungen Abrüstungspolitik zu betreiben. Die Erosion der Regime in Osteuropa - teilweise schrecklicher Regime - ist nicht über eine konkrete militärische Bedrohung, sondern über eine militärisch abgesicherte Erosion von innen erfolgt. Darauf muss man auch im Falle Nordkoreas auf Dauer setzen. Von daher sollte man Gespräche nicht von vornherein ausschließen. ({4}) Drittens. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass wir es, wenn der Iran und Nordkorea Erfolg haben sollten, mit einer zweistelligen Zahl - sie reicht an die 20 heran - von Atommächten zu tun haben werden; mit der Perspektive, dass dann die Proliferation an nicht staatliche Akteure nicht mehr wird verhindert werden können. Deshalb muss jetzt hier mit einer neuen Politik eine Grenze gezogen werden. Das erfordert aber ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit der jetzigen Atommächte, und insbesondere der P 5. In diesem Kreise hat es über Jahre in der Tat keine beherzte Abrüstungspolitik gegeben. Vielmehr wird dort ständig über neue nukleare Systeme philosophiert und es wird modernisiert. Deswegen müssen wir auch gegenüber denjenigen, die überlegen, ob sie sich eine nukleare Option schaffen sollten, Glaubwürdigkeit demonstrieren. Unseren Partnern in Ost und West sollten wir entsprechend Mut machen. Herr Minister, ich freue mich, dass Sie den Vorsitz der Nuclear Suppliers Group übernehmen. Das bedeutet aber auch, dass Sie in der Nuclear Suppliers Group richtig abstimmen müssen, wenn es um Indien geht. Ich begrüße sehr, dass der Kollege Mützenich für die SPDFraktion gesagt hat: Es kann nicht sein, dass auf der Grundlage der gegenwärtigen Bedingungen Deutschland dem Nukleardeal zwischen den Vereinigten Staaten und Indien zustimmt. ({5}) Meine Damen und Herren, es gibt - ich bin ein gnadenloser Optimist - vielleicht eine Chance, die Abrüstungspolitik wieder in Gang zu bringen. Ich freue mich, dass Sie gesagt haben - wir haben Sie in diesem Jahr bereits mehrfach in Plenardebatten dieses Hauses dazu aufgefordert -, dass Sie die Abrüstungspolitik für die Bundesregierung ganz oben auf die Tagesordnung Ihrer Politik setzen werden. Sie werden dabei unsere Unterstützung haben. Das wird ein schwerer Weg sein, und zwar deshalb, weil die intellektuelle Herausforderung, vor der wir stehen, wenn wir über Abrüstung bei asymmetrischer Bedrohung reden, sehr viel Musik enthält. Wir werden Sie nach Kräften unterstützen. Ich hoffe, dass wir bald Taten sehen werden; übrigens auch deshalb, weil Deutschland in der Völkergemeinschaft und insbesondere in Europa eine ganz wichtige Rolle spielt, da wir ein für alle Mal auf Atomwaffen verzichtet haben. In Europa und darüber hinaus gibt es viele Länder, die ebenfalls der Meinung sind, dass eine gute Zukunft und ein großer Einfluss in der Weltpolitik auch dann möglich sind, wenn man nicht über Atomwaffen verfügt. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herzlichen Dank. - Das Wort hat jetzt der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Fast alles, was der Kollege Hoyer gesagt hat, ist zu unterschreiben bzw. zu unterstreichen. Es ist wenig hinzuzufügen. Trotzdem werde ich sicherlich noch einige Punkte finden. Herr Bundesaußenminister, wir begrüßen ausdrücklich den Stellenwert, den Sie der Rüstungskontrolle jetzt einräumen und zukünftig einräumen wollen. Dieser Stellenwert spiegelt sich in dem sicherlich ehrgeizigen Ansatz wider, was die nächste Überprüfungskonferenz anbelangt, und in dem ehrgeizigen Ansatz, bei beiden Präsidentschaften - ich glaube, dass sich hier eine Verzahnung finden lässt - die Rüstungskontrolle ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Wir werden das unterstützen. Wir halten das für den richtigen Ansatz. ({0}) Die Debatte, die wir heute führen, ist außerordentlich vielschichtig. Daher müssen wir uns davor hüten, mit einseitigen Schuldzuweisungen zu arbeiten. Die Vielschichtigkeit zeigt sich beispielsweise in den Diskussionen, die wir im Unterausschuss führen. Herr Kollege Schäfer, ich glaube, wir müssen sehr aufpassen, dass wir bezüglich gewissen Partnern und Bündnissen nicht einen Zungenschlag in die Diskussion bekommen, der in meinen Augen wenig hilfreich wäre. Sie haben die NATO genannt. Wenn in der Diskussion der Zungenschlag übrig bliebe, dass die NATO ein Faktor der Unsicherheit wäre, dann wäre das - bei allem Reformbedarf - sicherlich falsch und ließe vergessen, welche Beiträge die NATO in den vergangenen Jahren für unsere Sicherheit und für die Stabilität in Europa geleistet hat und auch heute noch leistet. ({1}) Die Rüstungskontrolle befindet sich - das ist heute in allen Beiträgen angeklungen - in einer Krise. Herr Bundesaußenminister, Sie haben sogar von „Erosion“ gesprochen. Symptomatisch für diesen Befund ist mit Sicherheit der derzeitige Zustand des Nichtverbreitungsvertrages. Für uns muss entscheidend sein, dass der Eindruck, der gerade vor dem Hintergrund der Situation in Nordkorea und im Iran derzeit entsteht, dass Dreistigkeit und Unverschämtheit siegen würden, niemals Maßstab einer zielführenden Rüstungskontrollpolitik für uns sein kann. Wir müssen diesem Eindruck entgegenwirken, meine Damen und Herren. Nun könnte man meinen, dass es der Alarm- und Weckrufe in dieser und in vergangener Zeit genug gegeben habe. Allerdings scheinen sich einige internationale Mitspieler noch ganz bewusst im Dornröschenschlaf befinden zu wollen. Manches Dornröschen mit Mundgeruch küsst man auch ungern wach. Das gilt sicherlich auch für uns. ({2}) Das mag eine etwas harte Metapher sein, ({3}) aber sie spiegelt wider, vor welchen Defiziten und vor welchen Paradoxa wir in dieser Thematik letztlich stehen. Die Mängel des Nichtverbreitungsvertrages sind uns seit Jahren hinlänglich bekannt. Die fehlende Universalität ist letztlich nur paradigmatisch für viele andere Dinge, die wir herausgreifen können und sollten. Geschehen ist letztlich wenig, zu wenig. Daher ist die Überprüfungskonferenz sicher der richtige nächste Schritt. Was wäre zu tun? An sich ist mit den neuen Konfliktherden - wir spüren das heute Morgen - auch eine neue Diskussionsdynamik gewonnen. Das ist wahrscheinlich der einzige positive Schluss, den wir angesichts des insgesamt verheerenden Bildes ziehen können. Die Begleitung dieser Dynamik dürfen wir aber nicht allein den Medien überlassen; auch wir hier in diesem Hause müssen sie aufgreifen - die heutige Tagesordnung spiegelt das schon wider -, substanziell unterfüttern und ohne einseitige Schuldzuweisungen mit unseren Partnern fortentwickeln. Insofern können wir sicherlich aus den gescheiterten Konferenzen der vergangenen Jahre lernen. Manchmal ist der Lerneffekt auch ein guter, der in die Zukunft hineinzureichen weiß. In meinen Augen wäre auch eine Ausbalancierung der Prozesse - zum einen Nichtverbreitung und zum anderen Abrüstung - geboten. Kollege Mützenich hat darauf hingewiesen. Angesichts der heute gegebenen Vernetzungen der asymmetrischen Komplexe neigen wir noch dazu, in allzu starren, hergebrachten Mustern zu denken. Ich glaube, wir müssen uns vom noch herrschenden Kastendenken verabschieden und kreativ neue Wege aufzeigen, um die Ausbalancierung herzustellen. Wir müssen aber auch differenzieren: So sehr aus nuklear aufgerüsteten Staaten Proliferationsrisiken entstehen können, so wenig wird aus der Umkehrung eine zwangsläufige Logik. Sie haben auf den Punkt der Logik hingewiesen, Kollege Hoyer. Wir dürfen daher nicht verkürzt argumentieren, sondern sollten zur Kenntnis nehmen, dass sich nukleare Proliferation kaum durch hundertprozentige Abrüstungsbereitschaft der existierenden Nuklearmächte vermeiden oder aufhalten lässt. Diesen Punkt muss man immer wieder zur Sprache bringen. Das heißt nicht, dass wir dem Ziel der völligen Abrüstung von Nuklearwaffen nicht verpflichtet bleiben müssen - das haben wir im Koalitionsvertrag ja auch entsprechend festgehalten -, sondern dass wir darauf achten müssen, dass Hypothesen und Realitäten sich nicht in gefährlicher Weise innerhalb der Argumentationsketten vermengen. Ich bezweifle leider, dass dem nordkoreanischen und iranischen Streben nach Atomwaffen durch entsprechende Abrüstungsschritte des Westens tatsächlich Einhalt geboten werden könnte. Das sind zwei völlig unterschiedliche Ebenen, die wir zu behandeln haben. Das ist bedauerlich und soll auch nicht falsch verstanden werden: Abrüstung ist dringend geboten. Doch man würde es sich allzu leicht machen, lediglich isoliert vorzugehen. Wer glaubt, unsere Sicherheit würde sich sprunghaft erhöhen, wenn der Westen als solcher auf die Atomwaffen verzichten würde, der erliegt einer Illusion, insbesondere solange wir Staaten wie Syrien und Iran gegenüberstehen, die sich anderen Kontrollregimes nicht verpflichtet fühlen; beispielhaft sei das Chemiewaffenübereinkommen oder das Biowaffenübereinkommen genannt. Es ist eine hochkomplexe Angelegenheit mit unterschiedlichen Schichten, in der man nicht zu brachial argumentieren sollte. Das soll nicht heißen, dass gewisse Zeichen bestimmter uns partnerschaftlich verbundener Staaten im gesamten Abrüstungsbereich mit Blick auf faktisch oder möglicherweise auch bündnispolitisch nicht mehr benötigte Systeme und Waffen nicht wünschenswert wären. Das darf man ansprechen und das sollte man auch in der entsprechenden Form ansprechen. Es genügt natürlich nicht, gebetsmühlenartig immer nur die Vereinigten Staaten zu nennen. Man sollte in diesem Kontext mit derselben Vehemenz, vielleicht mit einer noch größeren Vehemenz, auch einmal Russland benennen. ({4}) Heute ist auch auf Presidential Declarations oder Initiatives hingewiesen worden, die es im Jahr 1991 gab. Da ist herzlich wenig geschehen. Auch Russland muss hier in die Pflicht genommen werden. ({5}) Ein Zweites; auch das ist ein sehr komplexer Ansatz. Es gilt in meinen Augen eine Politik zu entwickeln, die sich zielführend mit dem zu Recht und zu Unrecht erhobenen Vorwurf der doppelten Standards auseinander setzt. Das ist mittlerweile ein wechselseitig, und zwar mit enormer Dynamik, erhobener Vorwurf. Es ist fast eine Double-standards-Kultur entstanden, die wir nutzen, wann immer es uns wunderbar passt, gerade auch im wirtschaftlichen Sinne, Herr Bundesminister. Beispielhaft sei hier die Debatte über das US-indische Nuklearabkommen - das ist heute schon angeklungen - genannt. Das ist eine außerordentlich schwierige Thematik, die mit allen Schattierungen gesehen werden muss. Wir dürfen diese Debatte nicht verkürzen. Man hat aber gelegentlich den Eindruck, dass mittlerweile die USA und nicht Nordkorea oder Iran als hauptverantwortlich für den Niedergang des Nichtverbreitungsregimes angesehen werden. Dazu wird dieses Abkommen jetzt gern herangezogen. Es wird auch ernsthaft argumentiert, dass sich Iran und Nordkorea durch das Abkommen erst ermutigt gefühlt hätten, nach Atomwaffen zu streben. Das ist - das muss klar festgestellt werden - barer Unsinn. Dem Willen der internationalen Gemeinschaft läuft das Verhalten Teherans und Pjöngjangs selbstverständlich entgegen. Aber dass dem US-indischen Abkommen diesbezüglich eine Ursächlichkeit zugesprochen wird, dem müssen wir einen Riegel vorschieben; denn das nutzt in der Gesamtdebatte, die wir gerade führen, nun wirklich niemandem. Das Abkommen zwischen den USA und Indien ist im Hinblick auf diese beiden Problemkreise weniger das Problem. Es ist natürlich paradigmatisch für all die bekannten Schwächen des Nichtverbreitungsvertrages. Frau Zapf, das ist etwas, was Sie mit großer Vehemenz und mit großer Verve bearbeiten. Ich nehme an, dass Sie uns heute noch einige Punkte nennen werden, die wir hier beachten müssen und in Zukunft beachten werden. Die Verhandlungen laufen noch, was dieses Abkommen anbelangt. Vielleicht wäre es auch einmal geboten, bei uns von parlamentarischer Seite auf die Kontakte zurückzugreifen, die beispielsweise zum amerikanischen Senat bestehen. Weil gern so platt mit Schuldzuweisungen gearbeitet wird, will ich einmal sagen: In den USA findet eine wirklich kontroverse Auseinandersetzung gerade im Senat statt. Das ist etwas, was wir positiv aufgreifen sollten. Da sollten wir nicht immer mit der flachen Hand über den Tisch fahren. ({6}) Zuletzt zum Iran. Ich bin für das dankbar, was der Bundesaußenminister genannt hat. Ich möchte in diesem Rahmen Folgendes sagen: Es sind schwierige und manchmal fast dilemmatisch geprägte Verhandlungszüge, in denen man sich hier befindet. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten auf dem Gebiet kreativ verantwortungsvoll gehandelt und verhandelt. Das verdient auch einmal den Dank dieses Hauses. Was hier zu leisten war, war nicht einfach. Es wurden viele Impulse gesetzt - das muss man wirklich sagen - und die Bundesregierung verhält sich hier entsprechend. ({7}) - Michael Schaefer ist in der Tat einer, der hier an der Spitze zu nennen ist, mit Sicherheit, Herr Kollege Hoyer. Es wäre zu wünschen, dass all das, was heute angeklungen ist, keine Eintagsfliege bleibt - zurzeit stehen wir ja unter dem Eindruck der Probleme Nordkorea und Iran -, dass dieser Tagesordnungspunkt so prominent besetzt bleibt und Kohärenz mit anderen Themenfeldern findet. Herr Bundesaußenminister, unsere Unterstützung haben Sie, wenn Sie es in den kommenden Jahren so hoch auf der Tagesordnung ansetzen. Ich danke Ihnen allen dafür, dass Sie sich mit dieser Thematik entsprechend befassen. Hier liegt viel vor uns. Es sind komplexe Themenfelder. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin von Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist offenkundig: Die Nordkoreakrise offenbart auch die Krise der Abrüstungspolitik. Israel, Indien und Pakistan ist es gelungen, sich in den Besitz von Atomwaffen zu bringen, Nordkorea ist dabei und wir haben die schlimme Vermutung, dass Iran Ähnliches betreibt. Herr von Guttenberg, Sie haben hier gesagt, wir müssten vermeiden, dass Dreistigkeit belohnt wird. Diese Forderung kommt - ich muss das sagen - leider zu spät. Schauen Sie sich die Reaktionen auf die Dreistigkeit von Indien und Pakistan an! Beide Staaten werden heute mit Waffen bezahlt; alle Diskussionen über Embargos usw. sind beendet worden. Das ist der Hauptgrund, warum wir zu dem US-indischen Atomdeal so kritisch stehen; denn genau das ist die Botschaft, die von dieser Vereinbarung ausgeht: dass Dreistigkeit beim Zugriff auf Atomwaffen belohnt wird. Man kann sich da auch nicht hinter Herrn Baradei verstecken; er hat das ebenfalls konditioniert. Herr Bundesaußenminister, meinen Sie das, was Sie hier gesagt haben, ernst? Sie sagen, wir könnten an Indien kein Nuklearmaterial liefern, wenn es nicht den Teststoppvertrag unterschrieben hat; wir könnten das nur tun, wenn wir es schaffen, Ihren richtigen Vorschlag der Multilateralisierung des nuklearen Brennstoffkreislaufes umzusetzen. Ich kann Ihnen sagen, wie Sie sich in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach in der Nuclear Suppliers Group verhalten müssen, wenn Sie diese Bedingungen ernst nehmen, Herr Bundesaußenminister: Sie werden Nein sagen müssen an dieser Stelle. Sie werden sich genau so verhalten müssen, wie wir als Grüne das hier beantragt haben. ({0}) Ich glaube, dass es richtig ist, an dieser Stelle Nein zu sagen; denn eine Welt, in der 15, 20 oder mehr Staaten über Nuklearwaffen und die entsprechende Technologie verfügen, was dazu führt, dass wir uns mit möglicher illegaler, halblegaler oder auch legaler Lieferung von solcher Technologie an Verbrecher, an Terroristen auseinander zu setzen haben, können wir uns, glaube ich, nur sehr schwer vorstellen. Ich habe immer gesagt, dass - da sind wir vielleicht sogar einer Meinung - es vernünftig wäre, insgesamt auf die Nutzung der Kernenergie zu verzichten. Das ist der beste Schutz vor Proliferation. Aber wenn Sie diesen besten Schutz nicht weltweit realisieren können, dann ist es notwendig, die Fragen der Anreicherung und der Wiederaufarbeitung einem konsequenten multilateralen Regime zu unterstellen. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. Aber dieses multilaterale Regime wird nur dann erfolgreich sein, wenn es kein einseitiges ist, wenn es eines ist, das auch uns hier in Deutschland und ebenso die USA, Russland, Frankreich und alle anderen betroffenen Staaten entsprechend bindet und einbindet. Nur dann wird es ein glaubwürdiges und belastbares Regime sein, das die Verbreitung von solchen Technologien, die eben auch für kriegerische Zwecke zu nutzen sind, tatsächlich unterbinden kann. ({1}) Bezüglich der heute Atomwaffen besitzenden Mächte will ich hier nicht über Schuld und Ähnliches lange streiten, Herr von Guttenberg. Sie haben Recht, die aktuell größte Bedrohung ist die, die von Nordkorea ausgeht; das ist richtig. Aber Sie können doch nicht in Abrede stellen, dass die permanente Weigerung, nuklear abzurüsten - Russlands, Chinas, der USA, Großbritanniens, Frankreichs, also all derjenigen, die diese Waffen besitzen -, eine der Hauptursachen gewesen ist, dass es bei der Nichtverbreitungskonferenz nicht zu einem Ergebnis gekommen ist. Auch das dürfen wir in einer solchen Debatte nicht verschweigen. ({2}) Ich füge hinzu: Man muss sich gelegentlich an die eigene Nase fassen. Es kann nicht sein, dass in der Debatte in dieser Woche über die Frage der Abrüstung gesprochen wird - was richtig ist, Herr Bundesaußenminister -, aber uns in der nächsten Woche der Bundesverteidigungsminister den Entwurf eines Weißbuchs, abgesegnet durch einen Kabinettsbeschluss, präsentiert. Ich möchte gerne einmal wissen, lieber Herr Jung und lieber Herr Steinmeier: Findet sich auch nach dem Kabinettsbeschluss der Satz, der noch im Entwurf des Weißbuchs enthalten ist, wieder, nämlich dass für eine glaubhafte Abschreckung die nukleare Drohung nach wie vor unverzichtbar ist? Das heißt, Sie bedienen selber die Logik derjenigen, die heute nach Atomwaffen greifen. Deshalb sage ich: Kehren Sie vor der eigenen Haustür! ({3}) Sorgen Sie dafür, dass dieser Satz bis zur nächsten Woche aus dem Weißbuch gestrichen wird! ({4}) Wenn wir über Abrüstung reden, dann müssen wir auch und gerade den Bereich der konventionellen Waffen einbeziehen. Ich glaube übrigens, dass es im Deutschen Bundestag für weitergehende Schritte - damit meine ich nicht nur den Verzicht auf nukleare Teilhabe Deutschlands - wie die wirksame Begrenzung von Kleinwaffen und ein Verbot von Antifahrzeugminen oder von Streumunition eine breite Mehrheit gibt. Aber diese breite Mehrheit zeigt sich angesichts der Vereinbarungen der großen Koalition im Deutschen Bundestag nicht. Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was beispielsweise der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Kurt Beck, auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Bundesaußenminister geklärt hat. Er hat nämlich gefordert, die Frage der Abrüstung nachdrücklich auf die Tagesordnung zu setzen. Wir hätten uns gefreut, wenn angesichts des Besuchs von Hans Blix nächste Woche anlässlich der Vorstellung seines Berichts Deutschland seine Absicht bekunden würde, im Bereich der Abrüstung die eine oder andere Initiative, die sich im Bericht findet, zu unterstützen. Aber wenn wir uns gerade die Bereiche Kleinwaffen und Streumunition ansehen, dann muss man sagen, dass auf diesem Feld, lieber Herr Kollege Mützenich, erst einmal gar nichts passiert. Ich darf in diesem Zusammenhang auf folgenden Punkt hinweisen: Gestern erst hat der Menschenrechtsausschuss unseren Antrag zum effektiven Regime über Kleinwaffen abgelehnt. Der Knackpunkt, warum er abgelehnt wurde, war, dass nicht nur illegale, sondern eben auch legale Exporte und die entsprechende Munition unter ein solches Regime gestellt werden sollten. Ich finde es nicht glaubwürdig, auf Konferenzen der FriedrichEbert-Stiftung für Abrüstung zu plädieren und gleichzeitig solche Anträge im Deutschen Bundestag abzulehnen. ({5}) Ich will diese kritische Betrachtung für den Bereich der Streubomben fortsetzen. Ich habe hier mit großem Interesse die Aussagen des Bundesaußenministers über ein Verbot von Streubomben gehört. Schauen wir uns die Debatten dieser Tage im Bundestag an, dann muss man sagen, dass das, was Union und SPD miteinander vereinbaren konnten - ich will Ihnen unterstellen, dass Sie eigentlich etwas anderes wollten; aber Sie konnten nur das vereinbaren -, in dem schönen Satz gipfelte, man wolle die „gefährliche Streumunition verbieten“. Mir ist neu, dass es auch ungefährliche Streumunition gibt. Es ist völlig egal - das können Sie zurzeit im Libanon sehen -, ob in einem Cluster von Streubomben 10, 30 oder 40 Prozent der Munition nicht explodieren. Es ist egal, ob 50 oder 500 Pellets zum Beispiel in einer Plantage liegen. In jedem Fall kann diese Plantage nicht mehr betreten und nicht mehr bewirtschaftet werden. Ein einziges dieser Pellets reicht aus, um ein Kind zu einem Invaliden zu machen oder sogar zu töten. Deswegen sage ich Ihnen: An dieser Stelle können Sie nicht einen solch halbseidenen und inkonsequenten Kurs fahren. Diese Munition darf insgesamt nicht akzeptiert werden. Es ist eine Tatsache, dass die gleiche Munition, die jetzt im Libanon zu finden ist und täglich zu Todesfällen führt, im Besitz unserer Bundeswehr ist. Die Bundeswehr sollte diese Munition in eine geordnete Entsorgung überführen. Wir dürfen solche Waffen nicht besitzen. Das bedeutet, Abrüstung in unserem Lande durchzuführen. ({6}) Es ist viel von den 80er-Jahren die Rede gewesen. Ich will Sie an eine Lehre aus den 80er-Jahren erinnern. Es gab damals immer das Bestreben, nur dann abzurüsten, wenn die andere Seite etwas tut. Da galt das Motto: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Die Friedensbewegung hat dem eine ganz einfache Erkenntnis entgegengesetzt: Abrüstung beginnt immer bei einem selber. Abrüstung beginnt dadurch, dass wir konsequent auf eine nukleare Teilhabe verzichten. Abrüstung beginnt bei der Forderung, Kleinwaffen einem internationalen Regime zu unterwerfen. Abrüstung beginnt, wenn wir sagen: Wir wollen, dass Streumunition verboten wird. Wir wollen solche Waffen nicht mehr besitzen. - Das ist glaubwürdige Abrüstungspolitik. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Trittin, ich fühle mich, obwohl ich das eigentlich nicht wollte, bemüßigt, ein Wort zu Ihrer Kritik an unserem Antrag zur Streumunition zu sagen. Sie sind lange genug in der Politik, um zu wissen, wie schwierig es in dem gesamten Prozess um Antipersonenminen und andere Minenarten war, Fortschritte zu erreichen. Dasselbe gilt für die Streumunition. Ich finde, dass der Schritt-für-Schritt-Ansatz im Hinblick auf die Aussteuerung einer ganzen Kategorie von Streubomben und den Auftrag an die Bundesregierung, entsprechend zu verhandeln, den wir formuliert haben, schon einmal ein Fortschritt ist. Wir sollten verfolgen, wie es in Bezug auf die internationalen Abkommen weitergeht. ({0}) Ich will nun etwas tun, was heute eigentlich angebracht gewesen wäre und immer gemacht wurde, heute aber in der Agitation über die weltpolitische Situation vergessen wurde, nämlich ganz herzlich für die Vorlage der Abrüstungsberichte - jeweils für die Jahre 2004 und 2005 können wir einen entgegennehmen - zu danken. Es sind hervorragende Berichte. ({1}) Dies ist eine gute Arbeitsgrundlage. Man sollte auch während des Jahres immer wieder einmal in den jeweiligen Bericht schauen, wenn man Initiativen in Gang setzen will. Auch für die gute Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt möchte ich danken. Zur allgemeinen Situation, zu der Aufgabe, die wir haben, ist schon in vielen Reden etwas gesagt worden. Deshalb werde ich versuchen, mein Konzept etwas zusammenzustreichen und auf ein paar wichtige Punkte einzugehen, die noch erwähnt werden sollten. Wir haben konstatiert, dass der Zeitpunkt des 9. Oktobers 2006, 10.36 Uhr, der Todesstoß für das Nichtverbreitungsregime gewesen sein könnte. Wir haben festgestellt, wo überall es in den letzten Jahren Rückschritte in der Nichtverbreitungspolitik gegeben hat. Wir haben auch festgestellt, dass dies ein Anlass für uns ist, der Abrüstungspolitik einen neuen Schub zu geben, Impulse zu setzen und miteinander darüber zu beraten, was gemacht werden muss. Die Situation ist doch so, dass der für die Nichtverbreitungspolitik so wichtige 13-Punkte-Aktionsplan nach dem Jahre 2000, in dem dieser von der Überprüfungskonferenz verabschiedet worden ist, in keiner Weise umgesetzt worden ist. Deshalb plädiere ich dafür, noch einmal zu schauen, was für uns die wichtigsten Ansatzpunkte für unsere Nonproliferationspolitik sind. Wenn wir den 13-Punkte-Aktionsplan noch einmal betrachten, dann können wir vielleicht ein paar Ansatzpunkte herausfiltern. Kollege von Guttenberg, wir machen keine Schuldzuweisungen. Aber wir müssen bei der Analyse sauber sein und hinterfragen, warum bestimmte Dinge schief gelaufen sind. Es gibt - darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen - Doppelstandards. Wir müssen aber auch konstatieren, dass diese 13 Punkte, die damals auch in diesem Hause - breiter Konsens waren, nicht eingelöst worden sind und es dafür Verantwortliche gibt. Als Erstes nenne ich den Atomteststoppvertrag. Er wurde von den Amerikanern signiert, nicht ratifiziert und wird jetzt infrage gestellt. Deshalb wird ein ganz wichtiger Eckstein der zukünftigen Nichtproliferationspolitik nicht weiter ausgebaut. Das Zweite ist das Cut-off-Abkommen. Wenn es uns nicht gelingt, ein Verbot der Produktion waffenfähigen Nuklearmaterials zu erreichen, werden wir der Proliferation nicht genügend entgegenzusetzen haben. Ein weiterer Punkt - er wurde schon erwähnt - sind die Sicherheitsgarantien. Ich glaube, dass es für ganz viele Nichtnuklearstaaten von äußerster Wichtigkeit ist, die Zusicherung zu bekommen, nicht nuklear angegriffen zu werden, wenn sie selbst keine Nuklearwaffen haben. Diese Sicherheit haben sie aber nicht. Der Konsens ist auch - das muss man einmal sagen aufgrund von Entscheidungen der Kernwaffenstaaten zerbrochen. Das ist keine Schuldzuweisung, sondern eine Erinnerung an die Verantwortung der Kernwaffenstaaten. Sie haben ihre Arsenale verändert, weiterentwickelt und neue Kategorien entwickelt. Dadurch drohen Kernwaffen mehr und mehr zu Kriegsführungswaffen zu werden. In diesem Zusammenhang möchte ich einen letzten Punkt anführen. Wir müssen feststellen - ich sage das ganz vorsichtig -, dass sich die Nuklearstrategien in Richtung Kriegsführungsstrategien mit Nuklearwaffen zu entwickeln drohen. Auch das trägt dazu bei, dass es Länder gibt, die sagen: Vielleicht wäre es doch ganz nett, über Nuklearwaffen als Abschreckungspotenzial zu verfügen. Das Ausscheren von Nordkorea und Iran aus dem Nonproliferationsregime ist hier ausreichend dokumentiert und kommentiert worden. Ich will, provoziert durch meinen Kollegen zu Guttenberg und das, was Frau Hoff zum Indien-USA-Nuklearabkommen gesagt hat, ein paar Worte sagen. Ich mache mir große Sorgen. Ich glaube, dass wir in diesem Hohen Hause zu einem Konsens kommen und unserer Regierung einen Auftrag erteilen müssen. Das gilt insbesondere, wenn diese Regierung in der Nuclear Suppliers Group eine Rolle spielen will. Herr von Klaeden, ich teile Ihre Auffassung nicht, dass Herr al-Baradei Recht hat, wenn er sagt: Das ist ein gutes Abkommen, es führt Indien an das Nonproliferationsregime heran. Das wird das Abkommen in der vorliegenden Form nicht leisten können. Das Abkommen wird sicherlich für die Umwelt, die Energiepolitik und alles mögliche andere gut sein. Auch das sind Punkte, die al-Baradei genannt hat. Es wird Indien aber nicht an das Nonproliferationsregime heranführen. Ich will einige Punkte anführen, die meines Erachtens für eine Zustimmung in der Nuclear Suppliers Group notwendig wären. Ob wir uns hier auf alle Punkte einigen können, weiß ich nicht. Ich habe versucht, zusammenzufassen, was uns einigermaßen aus der Zwickmühle herausbringen könnte. Der erste Punkt wurde schon erwähnt: Zeichnung und möglichst Ratifizierung des Atomteststoppvertrages. Indien hat gesagt: Wir werden nicht testen. Es hat aber eine Klausel eingefügt, nach der es doch testen kann, wenn es meint, das tun zu müssen. Mein Vorschlag geht darüber hinaus. Die Zeichnung und Ratifizierung wären also auf alle Fälle gut. Zweitens: Produktionsstopp von waffenfähigem Spaltmaterial. Alle Nuklearstaaten haben sich dazu verpflichtet. Alle, inklusive China, halten sich daran. Deswegen werden wir das auch von Indien, das sich dem bisher schlicht verweigert, verlangen müssen. ({2}) Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn sonst passiert das, was viele Analysten befürchtet haben, nämlich dass dadurch, dass wir Brennstoff für die zivilen Reaktoren liefern, die unter der Inspektion der IAEA stehen, anderes Material zur Produktion von waffenfähigem Material frei wird und damit das indische Atomprogramm aufwächst, so, wie Indien es ganz offen verkündet hat. Das muss verhindert werden. Dann müssen mit der IAEA Full-Scope-SafeguardAbkommen getroffen und ein Zusatzprotokoll abgeschlossen werden. Wir müssen darauf dringen, dass eine Deckelung des Nuklearwaffenarsenals auf dem heutigen Stand stattfindet. Denn sonst findet tatsächlich ein Aufwuchs statt und Indien würde sozusagen als Kernwaffenstaat legitimiert. Wir müssen Restriktionen bei den Lieferungen der Nukleartechnologie und des -materials vornehmen. Das heißt, dass wir keine Anreicherungs- und Wiederaufbereitungstechnologie und keine Schwerwassertechnologie liefern dürfen. Das hat übrigens der Kongress in seiner Resolution selber so formuliert. ({3}) Das ist sehr hilfreich. Wir müssen darauf dringen, dass eine Endverbleibsklausel eingeführt wird, dass also gelieferte Nukleartechnik und -material nicht an Dritte weitergereicht werden dürfen. Wir müssen für den Fall, dass Indien einen Atomtest durchführt, den Stopp der Kooperation und aller Lieferungen verlangen. Das lehnen die Inder voller Empörung ab. Das verstehe ich nicht. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Indien seinerseits die restriktiven Exportgesetze für die Weitergabe von Technologien übernimmt. Das hat Indien nicht immer eingehalten. Es hat keinen sauberen Rekord hinsichtlich der Nichtverbreitung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Zapf, bedenken Sie bitte Ihre Redezeit.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sofort fertig. Es gibt eine viel beklagte und von den USA sanktionierte Zusammenarbeit mit dem Iran, in deren Rahmen Materialien geliefert worden sind, die eigentlich auf der Sanktionsliste der Amerikaner stehen. Auch das muss ein Gesichtspunkt sein. Ich habe nach dieser Debatte ein bisschen Hoffnung - das ist mein letzter Satz -, dass wir gerade in dieser wichtigen Frage zu einem Konsens kommen und dass es uns vielleicht gelingt, mit dem Ansatz, der hier von Frau Hoff, von mir und von anderen vorgetragen wurde, einen überfraktionellen Antrag zu stellen. Herr zu Guttenberg, ich zähle auf Sie.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Zapf, bitte!

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin fertig. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie haben eine Hustenzeitzulage bekommen. Anders ist die Überschreitung der Redezeit nicht zu begründen. ({0}) Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/ CSU-Fraktion. ({1})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute die Debatte über die Jahresabrüstungsberichte 2004 und 2005. Auch wenn zeitlich gesehen in diesen Berichten eine nachträgliche Betrachtung vorgenommen wird, so steht die Thematik - das haben wir heute schon sehr oft gehört - gerade in diesen Tagen ganz weit oben in der Prioritätenliste. Nordkorea und Iran zeigen uns gegenwärtig deutlich, welche potenzielle Gefahr weiterhin - auch nach dem Ende des Kalten Krieges - für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes von Nuklearwaffen - hier ein Einschub für Herrn Trittin - in den falschen Händen ausgeht. Beide Staaten versuchen, mit ihrer ignoranten und provozierenden Haltung ihre negativen Interessen skrupellos durchzusetzen. Dieser klägliche Versuch eines Katz-und-Maus-Spiels ist mit aller Nachdrücklichkeit zu verurteilen. Er wird scheitern; denn die Weltgemeinschaft steht geschlossen zusammen und spricht ein deutliches Nein zu weiteren Atomwaffentests in Nordkorea, zur weiteren Anreicherung von nuklearwaffenfähigem Material im Iran und zur illegalen Weiterverbreitung von Trägermitteln. ({0}) Ich bin fest davon überzeugt, dass die vom UNSicherheitsrat beschlossenen Sanktionen die einzig richtigen Maßnahmen sind, die von uns allen unterstützt werden sollten. Nordkorea und der Iran müssen durch Sanktionen unter Druck gesetzt werden. Ihnen muss bewusst werden - ja, sie müssen es förmlich zu spüren bekommen -, dass Ignoranz zu Isolation und zu wirtschaftlichen Einbußen führt. Das vordergründigste Ziel der Bemühungen der Weltgemeinschaft muss allerdings bleiben - ich hoffe, darin sind wir uns hier im Hause einig -, eine Lösung nur auf friedlichem Wege herbeizuführen. Die Proliferationsgefahren im Nahen und Mittleren Osten sowie auf der koreanischen Halbinsel beschäftigen uns nicht erst seit letztem Montag. In den beiden vorliegenden Abrüstungsberichten der Jahre 2004 und 2005 geht die Bundesregierung daher schwerpunktmäßig auf diese Regionen ein. Ziel ist, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen einschließlich ihrer Trägermittel in friedlicher Mission zu verhindern. Letztlich muss die endgültige Abschaffung solcher Waffen, insbesondere in den genannten Regionen, angestrebt werden. Allerdings sind nicht nur Nordkorea und der Iran ein Bedrohungsschwerpunkt. Daher wird in beiden Jahresabrüstungsberichten zu Recht darauf hingewiesen, dass das Risiko der Proliferation von Massenvernichtungswaffen nicht regional begrenzbar ist. Nichtstaatliche Akteure und terroristische Gruppen schmieden weltweit ihre Pläne für weitere Angriffe. Die Ereignisse in New York, Madrid und Istanbul haben uns dies leider auch vor unserer eigenen Haustür vor Augen geführt. Die Antwort, die die Bundesregierung in ihrem Bericht auf die regionale Unbestimmtheit dieses Risikos gibt, ist richtig und von entscheidender Bedeutung für den Kampf gegen Terrorismus und Gewalt. Globalen Gefahren muss global begegnet werden. „Global“ bedeutet in diesem Fall immer: gemeinsam. Die Weltgemeinschaft muss zusammenhalten. Wie ich zu Beginn meiner Rede sagte, tut sie das auch, zumindest in Bezug auf Nordkorea und den Iran. Nur die Bewahrung des im Bericht beschriebenen Konsenses der internationalen Staatengemeinschaft kann uns vor der Weiterverbreitung solcher Waffen schützen. Die Bundesregierung fördert diesen Konsens in Übereinstimmung mit der am 12. Dezember 2003 verabschiedeten EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Eine internationale Ordnungspolitik mit den Paradigmen der Allgemeinverbindlichkeit und der Transparenz der Regularien sowie - das ist ganz wichtig - die Vereinten Nationen als Wächter sind dabei oberste Handlungsmaxime. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen und mit aller Notwendigkeit im Sinne von Frieden und Stabilität in der Welt fortzuführen. Operativ bilden unserer Meinung nach die Sechsergespräche sowie die Gespräche innerhalb der EU 3 das geeignete Forum, um unsere Ziele im Hinblick auf diese sensible und polypole Thematik zu erreichen. Zugegeben, es ist bedauerlich, dass die Verhandlungen im Zusammenhang mit den Nuklearwaffenprogrammen des Iran und Nordkoreas in den Jahren 2004 und 2005 sowie leider auch gegenwärtig noch ohne greifbare Erfolge geblieben sind, was sicherlich nicht an uns gelegen hat. Dennoch gilt es, diesen Weg und die Deeskalationsstrategie gemäß der Verantwortung für den Weltfrieden konsequent weiter zu verfolgen. ({1}) Meine Damen und Herren, wie bereits erwähnt, standen nicht nur der Iran und Nordkorea im Blickpunkt der abrüstungspolitischen Bemühungen. In beiden Berichten werden auch Fortschritte in anderen Bereichen aufgeführt. Diese sind ebenfalls von zentraler Bedeutung und sollten genügend Beachtung finden. Stellvertretend möchte ich nur die Erfolge, die im Zusammenhang mit der Kleinwaffenproblematik erzielt wurden, nennen. Laut Angaben der Vereinten Nationen machen jährlich 600 Millionen Klein- und Leichtwaffen die Welt unsicher. 300 000 Menschen sterben jährlich durch ihren Einsatz in den Konflikten der Welt. Kofi Annan sagte auf einer UNKonferenz in New York: „Das große Töten geschieht durch Kleinwaffen.“ Das ist nicht von der Hand zu weisen. Denn in den meisten Konflikten spielen diese Waffen die dominierende Rolle. Dabei geht es nicht nur um unsere ohne Zweifel sehr große Verantwortung gegenüber den vielen, meist zivilen Opfern in zahlreichen Ländern dieser Erde, sondern auch - das darf nicht vergessen werden - um unsere Verantwortung gegenüber unseren eigenen Soldaten, die beispielsweise im Kongo, im Sudan oder in Afghanistan im Einsatz für Frieden und Freiheit sind. ({2}) Ich konnte mir in der letzten Woche zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss in Afghanistan ein Bild davon machen, welche Unmengen von illegalen Kleinwaffen von den Taliban, von Drogenbaronen und anderen Verbrechern gehortet werden und so eine Bedrohung unserer Truppen darstellen. In diesem Zusammenhang ist es natürlich zu begrüßen, dass seit der Zeichnung des Ottawa-Abkommens Ende 1997 nun im Dezember 2005 ein erstes globales Rüstungskontrollabkommen im Konsens von der UNGeneralversammlung verabschiedet wurde, welches es den Staaten ermöglicht, unerlaubte Kleinwaffen und leichte Waffen rechtzeitig und zuverlässig zu identifizieren und, was ganz wichtig ist, ihre Lieferung zurückzuverfolgen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht versäumen, den daran Beteiligten der Bundesregierung für ihr Engagement meinen Dank auszusprechen. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die erzielten Fortschritte als Ansporn nehmen, den eingeschlagenen Weg mit allem Nachdruck weiterzugehen. Nordkorea und der Iran sowie die anderen ungelösten Probleme werden mit Sicherheit auch in Zukunft all unsere Aufmerksamkeit erfordern. Es gilt, mit allem Nachdruck zu verhindern, dass Iran eine Atombombe herstellt, und Nordkorea muss dazu bewogen werden, sein Atomwaffenprogramm glaubhaft einzustellen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5801, 16/1483 und 16/3011 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/2999 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Druck- sache 16/1483 überwiesen werden. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarpolitischer Bericht 2006 der Bundesregierung - Drucksache 16/640 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeitraum 2005 bis 2008 - Drucksache 15/5820 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Impfen statt Töten - Praxisreife Markerimpfstoffe entwickeln und anwenden - Drucksache 16/1442 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Zum Agrarpolitischen Bericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesminister Horst Seehofer. ({3})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Agrarwirtschaft ist für unser Land nicht nur volkswirtBundesminister Horst Seehofer schaftlich von großer Bedeutung. Sie befindet sich derzeit in guter, in Teilbereichen sogar in blendender Verfassung. Das gilt für das, was für die Menschen produziert wird, unsere Lebensmittel, unsere Nahrungsmittel: beste Qualität, gesunde Produkte. Mir liegt sehr daran, darauf hinzuweisen, dass an den Lebensmittelskandalen der letzten Monate kein einziger landwirtschaftlicher Betrieb, keine Bäuerin, kein Bauer beteiligt war. Das heißt, dass unsere Bauern gut ausgebildet sind und sehr verantwortlich mit der Schöpfung umgehen. ({0}) Die Agrarwirtschaft erlebt seit einiger Zeit einen mächtigen Aufwind. Das kann man an verschiedenen Indikatoren festmachen. Es geht los beim Export, wo die Zeichen auf Erfolg stehen: Seit 1993 hat sich das Exportvolumen unserer landwirtschaftlichen Produkte von 17,7 Milliarden Euro auf über 34 Milliarden Euro verdoppelt. Es wird oft darauf hingewiesen, dass alleine die Zuwächse der Exporte nach Osteuropa im letzten Jahr um 30 Prozent gestiegen sind. Die große Befürchtung, dass die Erweiterung der Europäischen Union von der deutschen Agrarwirtschaft nicht zu schultern sei, ist widerlegt worden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich darf darauf hinweisen, dass es in unserem Ministerium auch aus diesem Grunde seit einigen Monaten eine Koordinierungsstelle für Exportförderung gibt. Der Biomarkt boomt mit zweistelligen Wachstumsraten. Die Nachfrage nach Holz steigt in nicht geahnte Höhen. Der Umsatz im Bereich des Holzes ist in Deutschland bei mittlerweile 115 Milliarden Euro angelangt. Die Preise machen in vielen Bereichen einen gewaltigen Sprung nach oben. In den letzten Monaten sind die Preise für Brotweizen, Hafer und Mais um 20 Prozent nach oben geschnellt. Für den Brotroggen war sogar eine Preissteigerung von 30 Prozent zu verzeichnen. All diese Daten und Entwicklungen stützen die These, dass die deutsche Landwirtschaft wirtschaftlich in einem mächtigen Aufwind ist. Durch all dies werden Einkommen, Arbeitsplätze und Investitionen gesichert. Wir sollten viel mehr positiv darüber reden, damit wir wieder junge Menschen für einen Beruf in der Landwirtschaft gewinnen. Die Landwirtschaft ist lukrativ und hat Zukunft. ({1}) Mit dem Thema Klasse statt Masse, das in den letzten vier Jahren immer wieder eine Rolle gespielt hat, möchte ich mich noch einmal kurz beschäftigen. Wir stellen 80 Prozent der von uns benötigten Nahrungsmittel hier in Deutschland her. Wir haben einen hohen Grad der Selbstversorgung. Bezüglich des Exportes unserer Produkte sind wir an vierter Stelle auf der Welt. Erst kommen die Amerikaner, dann die Franzosen, dann die Niederländer und dann die Deutschen, was übrigens ein sehr starkes Indiz dafür ist, dass weltweit Vertrauen in unsere Produkte gesetzt und die Qualität geschätzt wird. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die typisch deutsche Phrase, die vor einigen Jahren hier an diesem Pult geäußert wurde - wir möchten nicht Masse, sondern wir wollen Klasse -, sehr ideologisch gefärbt war. Es war nämlich auch falsch. Wir haben mit unseren Produkten einen hohen Marktanteil in Deutschland und wir sind beim Export weltweit Spitze, nämlich unter den Top four. Mit all dem, was wir national produzieren und vermarkten sowie international exportieren, haben wir nicht nur einen hohen Marktanteil, sondern dies zeugt auch von einer hohen Qualität der Produkte, also von Klasse. ({2}) Deshalb gilt für mich nicht die Forderung Klasse statt Masse, sondern ich finde, dass wir stolz darauf sein können, dass wir Masse haben und diese Masse auch klasse ist. Beides gehört zusammen. ({3}) Ein wichtiger Punkt ist auch die Innovationskraft bzw. die Dynamik in unserer deutschen Landwirtschaft. Es lacht einem das Herz, wenn man in Deutschland unterwegs ist und die Betriebe besucht. Ich behaupte, dass die deutsche Agrarwirtschaft ein Motor für den technologischen Fortschritt in unserem Lande ist. Wir sind auf der Höhe der Zeit. Ich kenne kaum Bereiche, die einen scharfen Strukturwandel, dem sie seit vielen Jahren ausgesetzt waren, so wie die deutschen Bäuerinnen und Bauern angenommen haben. Ich nenne nur das Stichwort „nachwachsende Rohstoffe“. Es wurde nicht viel nachgefragt, welche Subventionen und welche Unterstützung es durch den Staat gibt. Die Landwirte haben die Dinge selbst in die Hand genommen und auf einen großen Erfolgsweg gebracht. ({4}) Ich nenne die Stichworte Biogas, Biomasse und Biokraftstoffe. Wir investieren zum Beispiel viel in die Produktion von Biogas. Ich werde alles dafür tun, dass das von den Bauern produzierte Biogas in absehbarer Zeit auch für unsere Erdgasversorgung eingespeist wird. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum das nicht der Fall sein sollte. ({5}) Immer dann, wenn etwas positiv läuft, betreten natürlich die Skeptiker wieder die Bühne. Manchmal habe ich den Eindruck, dass manche, die auf diesem Feld tätig sind, ihren Kindern nur deshalb zu kleine Schuhe kaufen, damit sie von Kindesbeinen an lernen, zu jammern. ({6}) Jetzt höre ich nämlich schon wieder kritische Stimmen, die fragen, ob wir genügend Flächen für die Nahrungsmittelproduktion und für nachwachsende Rohstoffe haben. Dass wir eine solch positive Entwicklung haben - auch wirtschaftlich -, liegt eindeutig an der Politik der Pluralität und der Vielfalt. Wir haben den Landwirten in Deutschland mehrere Möglichkeiten eröffnet: Nahrungsmittelproduktion, Rohstoffproduktion, Pflege der Kulturlandschaft und Verbindung der Landwirtschaft mit dem Tourismus, der Freizeit und der Erholung, Kollege Ernst Hinsken. Aus mehreren Möglichkeiten ergeben sich höhere Chancen. Aus höheren Chancen ergeben sich bessere wirtschaftliche Erfolge. Ich warne davor, in die Diskussion einzusteigen, ob es für all diese Nutzungsmöglichkeiten unseres Bodens in der Bundesrepublik Deutschland ausreichend Flächen gibt. Ich habe darauf eine ganz einfache Antwort: Das soll um Gottes willen keine ministerielle Planungsbürokratie, sondern niemand anders als der Markt entscheiden. ({7}) Das, was ich hier zu vermelden habe, ist in erster Linie ein Erfolg der Bauern. ({8}) Ich registriere aber auch, dass die Bauern wieder Vertrauen in die Politik haben. Wir haben in allen Bereichen, die uns betreffen, Wort gehalten. Ich verweise auf die Agrarverhandlungen der Welthandelskonferenz, auf der wir die deutschen Bauern nicht auf dem Altar der Welthandelskonferenz geopfert haben. Vielmehr haben wir deutlich gemacht: Wir sind nur dann für die Öffnung der Märkte und den Wegfall der Exportsubventionen, wenn dies für alle Länder dieser Erde gilt. Es geht um faire Wettbewerbsbedingungen. ({9}) Wir haben in der sozialen Sicherung, was die Beteiligung des Bundes an Zuschüssen betrifft, verlässliche Bedingungen geschaffen. Die Bauern haben in Europa wieder eine Stimme. Sie müssen nicht nach Paris fahren, wenn in Brüssel ihre nationalen Interessen vertreten werden sollen. Eine Reise nach Berlin reicht aus. Wir haben den ländlichen Raum mit seiner Bedeutung mit einer langen Dialogreihe zur Zukunft des ländlichen Raumes, die wir eröffnet haben, wieder in den Mittelpunkt gerückt. Das betrifft auch, aber nicht nur die Landwirtschaft. Ich verweise darauf, dass wir sehr hart daran arbeiten, damit der ländliche Raum bei der Entwicklung der neuen Technologien nicht abgehängt, sondern einbezogen wird, zum Beispiel bei der Einführung des Breitbandkabelnetzes. Das ist für die Entwicklung des ländlichen Raumes unglaublich wichtig. ({10}) Ich hatte am Montag gemeinsam mit dem Kollegen Gabriel ein Gespräch mit Vertretern aller deutschen Automobilhersteller, der Mineralölwirtschaft und dem Deutschen Bauernverband. Das Thema war die mittelfristige und langfristige Weiterentwicklung der Biokraftstoffe. Das ist auch hinsichtlich der Wertschöpfung im ländlichen Raum ein ungeheuer spannendes Thema. ({11}) Wir streben an, in Deutschland eine Großanlage für Kraftstoff aus Bt-Mais für die nächste Generation der Biokraftstoffe zu errichten. Aber ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir wegen der zweiten Generation nicht die Chancen der ersten Generation ungenutzt lassen dürfen. ({12}) Eine zweite Generation hat nach der Logik nur dann einen Sinn, wenn die Chancen der ersten Generation genutzt werden. Dabei verweise ich ohnehin darauf, dass wir bei der ersten Generation wegen vieler ungeklärter Fragen wahrscheinlich noch einen langen Weg vor uns haben. Auch bei der Entbürokratisierung in der Landwirtschaft haben wir Wort gehalten. Ich weise nur auf die Tatsache hin, dass mir der Präsident des Deutschen Bauernverbandes vor gut acht Tagen für die Entschlackung, die wir bei der Kontrolle der Landwirte bei der Einhaltung der Standards durchgeführt haben, Danke gesagt hat. Ich habe immer gesagt: Ich bin dafür, dass Betriebe daraufhin überprüft werden, ob sie die Standards hinsichtlich des Umweltschutzes, des Naturschutzes und des Gewässerschutzes einhalten. Aber ich war immer der Meinung, dass diese Kontrolle nicht in Schikane ausarten darf. Das haben wir geschafft. ({13}) Angesichts des Vorwurfs, wir hätten bei der ersten und zweiten Säule Mittel gekürzt, möchte ich auf folgenden Umstand hinweisen: In dem Finanzierungsrahmen der Europäischen Union für die nächsten sieben Jahre ist vorgesehen, dass wir in Deutschland etwa 60 Milliarden Euro als Unterstützung für die landwirtschaftliche Produktion und die ländlichen Räume ausgeben: 35 Milliarden Euro in der ersten Säule, 18 Milliarden Euro in der zweiten Säule unter Einschluss der Ländermittel und 8 Milliarden Euro in der GAK. Das sind etwa 60 Milliarden Euro. Nun verschweige ich auch nicht, dass für diese sieben Jahre die EU-Mittel um etwa 1 Milliarde Euro gekürzt werden, und zwar von 9,2 auf 8,1 Milliarden Euro. Aber wir alle in der Koalition gehören nicht zu den Politikern, die auf der einen Seite trotz der Erweiterung der EU nicht mehr zahlen und auf der anderen Seite zu den Folgen dieser Entscheidung national nicht stehen wollen. Man kann nicht allen Ernstes von einer Benachteiligung der Landwirte oder des ländlichen Raumes sprechen, wenn bei einem Fördervolumen von etwa 60 Milliarden Euro in den nächsten sieben Jahren die Mittel um 1 Milliarde Euro gekürzt werden. Davon sind zehn Bundesländer betroffen. Man muss die 1 Milliarde Euro durch sieben teilen. Verteilt auf zehn Bundesländer sind das circa 15 Millionen Euro pro Land. Es kann wohl niemand im Ernst behaupten, dass dies die Zukunft der Landwirtschaft oder des ländlichen Raumes zerstört. ({14}) Ich möchte zum Schluss auf einen Umstand hinweisen, der vielleicht hier oder da missverstanden worden ist. Wir beraten heute über den Agrarpolitischen Bericht 2006 und stützen uns dabei auf Zahlen des Jahres 2004. Wenn Politiker über veraltete Zahlen diskutieren, dann laufen sie Gefahr, dass auch die Politik alt aussieht. ({15}) Deshalb habe ich heute ganz aktuelle Zahlen genannt. Ich bin der Meinung, dass wir durchaus jährlich über die Lage der Agrarwirtschaft diskutieren sollten. Wir sollten aber mit dem Unsinn aufhören, der Beratung fünf Berichte zugrunde zu legen, die die Verwaltung und viel Personal binden und meistens veraltet sind, weil sie der Debatte um ein oder zwei Jahre hinterherhinken. ({16}) Mein Vorschlag ist nicht, den Bericht abzuschaffen, sondern - darüber werden wir in den Regierungsfraktionen reden - einen größeren Berichtszeitraum vorzusehen, um uns auf aktuelle und repräsentative Daten stützen zu können. Wir sollten uns nicht auf Daten stützen, die zum Zeitpunkt der Debatte hoffnungslos überholt sind. ({17}) Wir werden in der Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr die Entbürokratisierung in meinem Bereich besonders in den Mittelpunkt stellen. Wie ernst wir es mit der Einbindung der Landwirtschaftspolitik in unsere Gesamtpolitik meinen, mögen Sie daraus ersehen, dass die nächste Grüne Woche im Januar - sie stellt für alle beteiligten Politiker ein Stressprogramm dar - in Anwesenheit der Bundeskanzlerin und des Präsidenten der Europäischen Kommission, Barroso, eröffnet wird. Das soll den Landwirten und der Agrarwirtschaft in ganz Europa zeigen, dass die Landwirtschaft bei uns nicht als Anhängsel oder auslaufender Posten betrachtet wird, sondern, wie ich eingangs sagte, ein für unser Land sehr bedeutsamer volkswirtschaftlicher Bereich ist. Herzlichen Dank. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste spricht die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche heute, weil der agrarpolitische Sprecher unserer Fraktion, Michael Goldmann, kurzfristig erkrankt ist. Ich denke, auch Sie senden ihm gute Genesungswünsche. ({0}) Herr Minister, Sie haben leider nicht Wort gehalten. Es reicht schlicht nicht, etwas festzustellen, ohne es durch Handeln zu belegen. Beim Handeln ist bei Ihnen aber schlicht Fehlanzeige, Herr Minister. ({1}) Knapp ein Jahr nach der Bundestagswahl und dem Regierungswechsel stellt sich die Frage, ob sich die Politik geändert hat. Ich muss feststellen, dass sich wenig geändert hat - mit Ausnahme der Tatsache, dass der Minister im Zusammenhang mit dem agrarpolitischen Jahresbericht kaum mehr vorträgt als die Agrarpreise, an denen er keinen Anteil hat. ({2}) Der Jahresrückblick enthält wenig Gutes, Herr Minister Seehofer. Man muss richtig danach suchen. Ich habe mich bemüht, alles Positive herauszustellen, aber es gibt wenig. Das Versprechen der CDU/CSU eines Politikwechsels ist im Bereich der Agrarpolitik Schall und Rauch. Minister Seehofer, Sie sind in Ihrem Amt als Bundeslandwirtschaftsminister nicht angekommen. Sie trauern der Gesundheitspolitik nach. ({3}) Aber wir brauchen mehr als Worte: Wir brauchen Handeln. ({4}) Dass Sie nicht handeln, hat für die Menschen in den ländlichen Räumen und die landwirtschaftlichen Betriebe in unserem Land sehr schlimme Folgen. Fast ein Drittel der Menschen in Deutschland lebt in den ländlichen Räumen. Deren Lebensqualität ist nach wie vor auch mit dem Wohlergehen der landwirtschaftlichen Betriebe verbunden. Deswegen brauchen wir die Stärkung der unternehmerischen Landwirtschaft. Die Landwirte brauchen planerische Sicherheit, die Sie ihnen nicht geben. Sie brauchen Vertrauen in die Zukunft, um investieren zu können, und rationale Entscheidungen und nicht solche, die aus dem Bauch heraus getroffen werden. Sie wissen genauso gut wie ich: Die Menschen sind der Natur entfremdet. Deswegen lobe ich Sie dafür, dass Sie die Qualität unserer Produkte herausgestellt haben. Aber, Herr Minister, das reicht nicht. Es reicht im Übrigen ebenfalls nicht, die Jahresergebnisse der Betriebe zu betrachten; denn diese schwanken beträchtlich. Es gilt auf die Gesamtentwicklung zu schauen. Hier verheißt Ihr Handeln nichts Gutes, Herr Minister. Ihr erstes Jahr war von drei Fleischskandalen geprägt. Ich will ehrlich sagen, dass Sie am ersten keinen Anteil hatten. Er hatte seinen Ursprung - genauso wie die beiden anderen - in Bayern. Im November des letzten Jahres haben Sie ein Sofortprogramm zur Verhinderung weiteren Fehlverhaltens vorgelegt. Der letzte Fleischskandal im September zeigte aber, dass sich nichts geändert hat. Das Programm ist nicht umgesetzt worden. Es wurde von Ihnen noch einmal verkauft, frei nach dem Motto „alter Wein in neuen Schläuchen“. Sie haben auf Stimmungen reagiert, angekündigt und Aktionismus gezeigt. Aber Sie stehen letztlich bei den Fleischskandalen mit absolut leeren Händen da. Das heißt, bei diesem wichtigen verbraucherpolitischen Thema haben Sie schlicht gepatzt. ({5}) Herr Minister, ein weiteres Drama ist die Diskussion über den Biodiesel. Entgegen allen Wahlaussagen haben CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag festgelegt, die ursprünglich bis Ende 2008 vereinbarte Steuerbefreiung von Biodiesel einzukassieren. Die Folge ist ein massiver Verlust an Vertrauen in politisches Handeln. Wo waren Sie bei der Diskussion über den Biodiesel? Wo haben Sie sich geäußert? Wo haben Sie sich für die Landwirtschaft eingesetzt? Nirgendwo! Sie waren schlicht abgetaucht. Sie haben an dieser Debatte gar nicht teilgenommen. ({6}) - Nein, Herr Kollege, ich habe keine Wahrnehmungsschwierigkeiten. Ich höre sehr genau zu. Der Minister war nicht anwesend. Wenn er nichts sagt, kann man ihn nicht hören; das ist eindeutig. ({7}) Die Steuerbefreiung wurde durch die Einführung einer unternehmensbezogenen Biokraftstoffquote für Benzin und Diesel ersetzt. Die Auswirkungen sind dramatisch. Fiskalpolitisches Handeln hat wirtschaftliches Denken ersetzt, und zwar zum Schaden der mittelständisch geprägten Biokraftstoffbranche. In Deutschland geplante Investitionen wurden nach Schweden und England verlagert. Sie, Herr Minister, sind in der Diskussion schlicht abgetaucht. Sie haben keinen Handschlag zugunsten unserer Landwirte getan. Das wird zur Folge haben - das ist absehbar -, dass Billigimporte aus Ländern ohne Sozial- und Umweltstandards das Gegenteil von dem bewirken, was wir alle wollen: eine nachhaltige Biokraftstoffproduktion. Herr Minister, Sie haben eben angekündigt, dass Sie sich dafür einsetzen wollen, dass Biogas in die Erdgasversorgung eingespeist wird. Ich bin gespannt, ob und wann - in diesem oder im nächsten Jahrzehnt - Sie dieser Ankündigung Taten folgen lassen werden. Das ist auf jeden Fall ein sehr dringendes Thema. Herr Minister, des Weiteren haben Sie bei der Geflügelpest versagt. Ihr Besuch auf Rügen war falsch. Wir hoffen, dass Sie sich in Zukunft bei einem Seuchenfall angemessen verhalten werden. Im Interesse des Schutzes der Menschen und des Tierschutzes muss die Nichtimpfpolitik der EU beendet und durch eine Politik des gezielten Impfens mit markierten Impfstoffen ersetzt werden. Wir investieren enorm viel in die Anlagen der Insel Riems. Wo bleiben die Ergebnisse, die den dort getätigten Investitionen entsprechen? Ihr Zickzackkurs in Sachen Gentechnik ist ein einziges Trauerspiel. Ihr Lob für die Investitionskraft der deutschen Landwirtschaft ist zwar bemerkenswert. Aber gerade auf dem von Ihnen angesprochenen wichtigen Feld der Biogasproduktion versagen Sie völlig. ({8}) - Kollegin Mortler, dreimal sind Eckpunkte zur Novellierung des Gentechnikgesetzes angekündigt worden. Dreimal! Wo sind sie denn? Es gibt sie nicht. Warum ist die Novellierung nicht längst erfolgt? Das ist ein Versagen des Ministers. ({9}) Sie alle wissen aufgrund der rechtspolitischen Diskussion, dass dieses Gesetz Rechtsunsicherheit für die Menschen im Lande und die landwirtschaftlichen Betriebe schafft, und zwar sowohl für die Betriebe, die die Gentechnik anwenden, als auch für die Betriebe, die keine Gentechnik anwenden. Dies ist nicht in Ordnung. ({10}) Sie sprechen davon, dass Sie die Menschen mitnehmen wollen. Das ist zwar richtig. Aber auf Ängste einzugehen, die nachweislich unbegründet sind, bedeutet, den Menschen Information und Aufklärung zu verweigern. Das ist mittelalterliches Handeln und entspricht in keiner Weise den Erfordernissen einer Wissensgesellschaft. Wir brauchen eine Novelle des Gentechnikgesetzes, und zwar sofort. ({11}) - Sie, Kollegin Behm, verweigern den Bauern Rechtssicherheit. Das ist das Schlimmste, was man als Politiker machen kann. Das tun Sie mit einem Gesetz, das Sie zu verantworten haben. Das ist ein Skandal. ({12}) Die Charta für Wald ist eine Maßnahme der letzten Regierung, die auch wir immer unterstützt haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die jetzige Regierung hat vorgeschlagen, die Waldzustandsberichte nur noch einmal in der Legislaturperiode zu erstellen. Das ist eine richtige Entscheidung. Nur, Herr Minister, ich frage mich, ob Sie angesichts des Protestes eine solche rationale Entscheidung wirklich durchhalten werden oder ob Sie als Bauchpolitiker nicht relativ schnell kneifen werden. Ich habe vermisst, dass Sie dem Bundesunternehmen Deutsche Bahn AG einmal gesagt hätten, dass Holz, das im Inland produziert wird, gutes Holz ist und dass die Bahn dieses auch verwenden sollte. Nichts dergleichen ist geschehen. Herr Minister, Ihr erstes Jahr im Amt ist weitgehend von Schatten geprägt. Ich hoffe, dass das nächste Jahr etwas heller wird. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste spricht Waltraud Wolff für die SPDFraktion. ({0})

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zahlen sind zwar nicht alles, aber Zahlen sind etwas Abrechenbares. So können wir auch im Agrarpolitischen Bericht 2006 der Bundesregierung sehen, dass sich die wirtschaftliche Situation der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland in Folge verbessert hat. Damit das so bleibt, ist es unser Ziel, das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in heimische Produkte zu steigern. Darüber hinaus wollen wir auf Eigenverantwortung und auf Nachhaltigkeit setzen. Die SPD hat schon in der Vergangenheit in ihrer Regierungszeit mit dafür gesorgt, dass Transparenz in die Produktion Einzug hält. Mit der Einführung des QS-Systems 2001 wird die Produktion vom Acker bis zur Ladentheke nachvollzogen. Dieses freiwillige Prüfsiegel ist in der Branche zu einem Markenzeichen geworden. Mit dem jetzt auch vom Bundesrat endlich beschlossenen Verbraucherinformationsgesetz haben wir als Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich das Recht auf Information durch die Behörden, wenn es zu Verstößen gegen das Lebensmittel- und das Futtermittelrecht kommt, ganz egal ob die Ware noch im Regal steht oder nicht. ({0}) - Herzlichen Dank. - Wir haben aus dem Gammelfleischskandal eine zusätzliche Lehre gezogen, nämlich dass bei kriminellen Handlungen das bestehende Recht in Deutschland ausgeschöpft werden muss. Herr Minister Seehofer, ich danke Ihnen an dieser Stelle ganz herzlich für Ihre klaren Worte, die Sie zu diesem Thema gefunden haben. Denn es kann einfach nicht angehen, dass auf der einen Seite grobe Verstöße mit Bußgeldern um die 100 Euro oder 500 Euro geahndet werden, auf der anderen Seite aber das Geld aus Verkäufen von Gammelfleisch in den Kassen bleibt und zusätzlich eine gesundheitliche Gefährdung von Konsumenten in Kauf genommen wird. ({1}) Hier gibt das deutsche Recht ein Strafmaß von bis zu fünf Jahren Haft vor. Ich denke, die Gerichte sollten an dieser Stelle aufgefordert werden, ein solches Strafmaß auszuschöpfen; denn nur so schafft man es, die schwarzen Schafe herauszufinden, und vermeidet man es, den gesamten Berufsstand in den Schmutz zu ziehen. Dass die Menschen im Lande auf qualitativ hochwertige Lebensmittel setzen, konnte man in den vergangenen Jahren, speziell im letzten Jahr, sehen. Man sieht den Trend zu ökologischen Produkten. Bereits seit einigen Jahren hält dieser Boom ununterbrochen an. So hatten wir das gar nicht prognostiziert. Der Umsatz ökologischer Produkte ist vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2004 von 2 Milliarden Euro auf 4 Milliarden Euro gestiegen. Ich denke, in einer so kurzen Zeit eine Verdopplung zu erreichen, ist sicherlich sehr gut. Das geschah gewiss deshalb, weil die Menschen diesen Produkten eine hohe Qualität zuschreiben und sie mit gesunder Ernährung verbinden, aber auch weil im Jahr 2001 das Biosiegel eingeführt wurde, das den Kriterien der EU-Öko-Verordnung entspricht. Das wird von den Konsumenten erkannt und angenommen. Das wird in der Zukunft in der Landwirtschaft zu Arbeitsplatzsicherung führen. Damit wir die Nachfrage nach Ökoprodukten in Zukunft noch stärker durch eigene Produktion befriedigen können, ist natürlich auch die Politik gefragt. Ich finde, hier sind ganz speziell die Länder in der Pflicht. Ich erinnere an die Möglichkeiten im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Für die Zeit von 2005 bis 2008 sollten die Länder diesen Rahmenplan nutzen. Mit den entsprechenden Förderrichtlinien wird den Betrieben auch der Schritt zur Umstellung erleichtert. Es gibt die Kritik, dass die Förderung des Ökolandbaus durch den Bund zu gering sei und dass das Angebot der Nachfrage nicht nachkomme. In der Argumentation stimmt das zwar auf den ersten Blick, aber wir sollten uns doch die Mühe machen und einmal ein bisschen genauer hinschauen: Man muss damit rechnen, dass konventionelle Betriebe im Schnitt zwei Jahre brauchen, um auf ökologische Landwirtschaft umzustellen. Das entsprechende Angebot kann es also erst dann geben, wenn ein Betrieb sich umgestellt hat. Das bedeutet auf gut Deutsch, dass es diese Angebote nur mit einer Zeitverzögerung geben kann. Ungeachtet dessen - das sage ich auch in Richtung der Opposition - besteht die Aufgabe fort, an konzeptionellen Verbesserungen zu arbeiten, wo dies angezeigt ist. Aus diesem Grund begrüßen wir als SPD auch im Hinblick auf den nächsten Haushaltsansatz, dass das Bundesprogramm Ökologischer Landbau weitergeführt wird. Ich habe vorhin gesagt: Eigenverantwortung und Nachhaltigkeit. Diese Punkte spielen auch in der Praxis eine immer größere Rolle. Mit der Entkoppelung der Prämien von der Produktion sind die Bauern gefordert, von der Überschussproduktion wegzukommen. Wie wir alle wissen, sind in Zukunft sowohl Intervention als auch Exporterstattungen immer unwahrscheinlicher. Zusätzliche, neue Einkommensquellen sind für viele Betriebe schon jetzt genauso wichtig wie auch vielfältig. Die Produktion und der Einsatz von Biomasse in der landwirtschaftlichen Produktion haben rapide zugenommen. Auf etwa 1,5 Millionen Hektar Fläche waren im Jahr 2006 nachwachsende Rohstoffe angepflanzt. Das sind sage und schreibe 13 Prozent der Ackerfläche in Deutschland. Der Einsatz von Biomasse in Biogasanlagen Waltraud Wolff ({2}) oder die Verarbeitung zu Biosprit wird vom Berufsstand natürlich schon intensiv genutzt. Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal ein ganz tolles Beispiel nennen; gerade gestern habe ich es über den Bauernverband gehört. Brandenburg ist ein Bundesland mit schlechten Ackerbodenwerten. Der Anbau von Roggen war für viele Brandenburger Betriebe überlebenswichtig. Allerdings - das weiß jeder hier im Haus - ist diese Produktion immer am Markt vorbeigegangen. Um die Marktpreise trotzdem stabil zu halten, hat die EU diese Überproduktion vom Markt genommen, in die Intervention gegeben und dafür auch gezahlt. Wie sieht es denn heute aus? Heute ist es so, dass die Brandenburger Bauern ihren Roggen vorrangig für die Bioethanolherstellung anbauen, soweit ich weiß, nichts mehr in die Intervention geben und sogar bessere Preise erzielen. ({3}) Durch dieses Beispiel wird das unterstrichen, was auch Herr Seehofer vorhin gesagt hat: Der Berufsstand besteht fort, auch wenn er nicht subventioniert wird. ({4}) Im „Wegweiser Nachhaltigkeit“ aus dem letzten Jahr stellt die Bundesregierung dar, dass gerade bei der Nutzung von Biomasse eine Nutzungskaskade von der stofflichen bis hin zur energetischen Nutzung möglich ist. Gerade hier liegt ein weiteres, noch relativ ungenutztes Potenzial im Bereich der Wärmeenergie. Die Auflage eines Wärmeenergiegesetzes würde meiner Auffassung nach im Sinne einer nachhaltigen Energienutzung ebenso positiv wirken wie seinerzeit das ErneuerbareEnergien-Gesetz für die Stromerzeugung. ({5}) Auch hier würden landwirtschaftliche Betriebe profitieren, Arbeitsplätze für den ländlichen Raum gehalten und die Wirtschaftskraft - das liegt uns allen am Herzen - gestärkt. Darüber hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin ich der Auffassung, dass wir nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene einen Aktionsplan Biomasse brauchen, um die energetische und stoffliche Nutzung hier in Deutschland weiter voranzubringen. Ziele, wie 20 Prozent des Stromverbrauchs im Jahre 2020 über regenerative Energien oder 5,75 Prozent des Treibstoffverbrauchs im Jahre 2010 über Biosprit zu decken, ({6}) dürfen von uns nicht nur formuliert werden, sondern wir müssen auch zur Erfüllung beitragen. ({7}) Wir haben dafür das notwendige Potenzial hier in Deutschland. Die Perspektiven einer nachhaltigen Biomasseerzeugung liegen dabei in einer effizienten und umweltgerechten Produktion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Agrarbericht 2006 enthält so viele Dinge, die beleuchtet werden sollten, aber leider sind zehn Minuten keine Stunde. Ich hoffe und wünsche, dass die Kolleginnen und Kollegen, die nach mir reden, weitere Themen ansprechen werden, die auch mir noch wichtig sind. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste spricht für die Linksfraktion die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Nach den vielen eher bangen Jahren der Vergangenheit kann der vorliegende Agrarbericht hinsichtlich der betrieblichen Abschlüsse der landwirtschaftlichen Betriebe auf positive Ergebnisse verweisen. Das ist gut. Denn wir brauchen eine stabile und leistungsfähige Landwirtschaft als wesentliche wirtschaftliche Säule im ländlichen Raum. ({0}) Die Bilanz ist aber nicht nur positiv. Die volkswirtschaftliche Wertschöpfung ist um 3 Prozent gefallen. Viele Betriebe, vor allem kleinbäuerliche Betriebe in Westdeutschland, müssen aufgeben. Der Agrarbericht spricht von 3 Prozent pro Jahr im langjährigen Mittel. Mit jeder Betriebsaufgabe ist in der Regel der Verlust von Arbeitsplätzen verbunden. Mitarbeitende Familienmitglieder, vor allem Frauen, sind davon sehr hart betroffen. Auch wer auf ergänzendes ALG II angewiesen ist, kann Haus und Hof verlieren. Der ländliche Raum wird daher immer mehr zum sozialen Brennpunkt. Trotzdem ist das Licht nicht zu übersehen: Die betrieblichen Gewinne waren im bundesweiten Durchschnitt um 23,9 Prozent höher als im Vorjahr. Die ostdeutschen Betriebe haben überdurchschnittlich gut abgeschnitten. In den Bereichen ökologischer Landbau und nachwachsende Rohstoffe ist die erhoffte positive Entwicklung nun endlich eingetreten. Dass die ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe im Durchschnitt um 20 Prozent höhere Gewinne erzielt haben als die Betriebe in den Altbundesländern, zeigt, dass auch diese Landstriche und die dort wohnenden Menschen Potenziale haben und diese auch nutzen. Vor allem in Brandenburg konnten die Betriebsergebnisse deutlich verbessert werden. Unterdessen arbeiten - so der Präsident des Landesbauernverbandes, Udo Folgart, vor wenigen Tagen gegenüber der „Märkischen Oderzeitung“ - 40 000 Brandenburgerinnen und Brandenburger in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft. Das sind 2 000 mehr als noch vor fünf Jahren. Der Abwärtstrend ist also gestoppt. Der Anteil der brandenburDr. Kirsten Tackmann gischen Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt nunmehr 6 Prozent. Bundesweit beläuft sich der Anteil der Landwirtschaft auf nur 1 Prozent. Im neuen Leitbild der Landesregierung spielt die Landwirtschaft komischerweise trotzdem keine Rolle. Der positive Trend geht leider an sehr vielen Menschen im ländlichen Raum völlig vorbei. Am 14. Oktober 2006 berichtete die „Märkische Allgemeine Zeitung“, dass mein Heimatlandkreis im Nordwesten Brandenburgs mit einem durchschnittlichen Pro-KopfEinkommen von nur 13 000 Euro von Platz 419 auf Platz 423 - bei 439 Landkreisen im gesamten Bundesgebiet - gefallen ist. Bei dem Licht am Ende des Tunnels kann es sich also auch um einen entgegenkommenden Zug handeln. Zudem sind die positiven Trends, auf die der Bericht verweist - Minister Seehofer hat bereits darauf hingewiesen -, nicht das Verdienst der aktuellen Regierung. Aufgabe der jetzigen Regierung wäre es, diese positiven Trends im Interesse der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Steigerung der Wertschöpfung im ländlichen Raum zu stabilisieren. Aber die politischen Entscheidungen der vergangenen Monate sprechen eine andere Sprache. Beispiel 1: Fördermittel für den ländlichen Raum. Das ist bereits angesprochen worden. Die EU-Mittel für den ländlichen Raum sind gekürzt worden. Statt dies über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ mit Bundesmitteln auszugleichen, werden diese 2006 und 2007 um jeweils 50 Millionen Euro gekürzt. Vor dem Hintergrund der reduzierten Bundesmittel kürzen jetzt die Bundesländer wichtige Programme, wie etwa für benachteiligte Gebiete und den ökologischen Landbau. Beispiel 2: Steuerbelastung für die kleinen und mittleren Landwirtschaftsbetriebe. Durch die Mehrwertsteuererhöhung und die unzureichende Anpassung des Steuersatzes für die pauschalierenden Betriebe wurde zusätzliches Einkommen reduziert. Beispiel 3: Beiträge zum agrarsozialen System. Trotz steigender Beitragssätze werden jetzt die Bundeszuschüsse für die landwirtschaftliche Unfallversicherung um 100 Millionen Euro reduziert. Der für 2007 geplante Ausgleich über die Rückflüsse früherer Förderkredite ist nur eine Vertagung des Problems. Es liegt nach wie vor kein zukunftsfähiges Konzept für die landwirtschaftliche Unfallversicherung vor. Aber das Sündenregister der Bundesregierung ist länger. Beispiel 4: Biokraftstoffe - darüber wurde schon gesprochen. Natürlich ist an vielen Tankstellen mit dem Preis für die fossilen Brennstoffe auch der Preis für Biodiesel gestiegen. Die damit angeblich bestehende Überkompensation, welche die Regierung jetzt mit Steuern abschöpfen will, gibt es für viele aber trotzdem nicht. Ein Teil des Biodiesels wird gar nicht an den Tankstellen abgesetzt, sondern direkt an Speditionen verkauft - natürlich zu anderen Preisen. Der Rohstoff Raps ist unterdessen teurer geworden; die Nebenprodukte Glycerin und Rapsexpeller sind billiger geworden. Kurzum: Der sich gerade entwickelnde regionale Wachstumsmarkt Biokraftstoffe ist akut gefährdet. Dem Landwirt bleibt nur beim Eigenverbrauch ein Kostenvorteil - und wahrscheinlich auch der nicht ewig. Beispiel 5: Ökolandbau - auch er ist schon angesprochen worden. Die Bundesregierung bringt auch hier Räder zum Stillstand. Die kräftige Steigerung des Absatzes von Bioprodukten - 14 Prozent mehr als im Berichtsvorjahr - wird politisch nicht mehr aufgegriffen. Die Zahl der Betriebe und auch die ökologisch bewirtschaftete Fläche stagnieren trotz guter Absatzlage und im Durchschnitt höherer Gewinne dieser Betriebe. Stattdessen wird dieser attraktive Binnenmarkt zunehmend aus dem Ausland bedient. Auch das ist ein Ergebnis der aktuellen Förderpolitik. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass insbesondere die Risiken der Umstellung auf den ökologischen Landbau einer Förderbegleitung bedürfen. Wir sehen im Ökolandbau eine Möglichkeit, natürliche Ressourcen zu schonen und gleichzeitig Arbeit und Wertschöpfung im ländlichen Raum zu halten, da der Ökolandbau vergleichsweise arbeitsintensiv ist. Die Bundesregierung vergrößert die Verunsicherung aber auch im Bereich der konventionellen Landwirtschaft. Beispiel 6: Umgang mit der Agro-Gentechnik. Die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen mit großer Mehrheit Lebensmittel ab, die aus oder mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellt werden. Aber auch der Anbau von Bt-Mais für Biogasanlagen ist nur scheinbar risikoarm; denn die ökologischen Risiken der Anwendung bleiben. Die Bundesregierung schreibt im Agrarbericht, dass sie Forschung und Entwicklung der Agro-Gentechnik unterstützten will. Diese Zielsetzung geht aus meiner Sicht klar am Wählerwillen vorbei. Es wird nicht einmal mehr hinterfragt, ob der vermeintliche Nutzen der AgroGentechnik in Mitteleuropa wirklich belegbar ist. Das Problem ist, dass wir dafür einen Standortvorteil riskieren. Denn qualitätsorientierte Strategien der landwirtschaftlichen Primärerzeugung, verbunden mit hohen Umweltstandards, waren bisher die Garanten für eine wettbewerbsfähige und verbraucherorientierte Landwirtschaft. Die Agro-Gentechnik befördern heißt daher für mich, den Pfad dieser Tugend zu verlassen. Mein Fazit: Das Aufatmen vieler landwirtschaftlicher Lobbyvereinigungen beim Regierungswechsel wird immer öfter zum großen Seufzer. In der aktuellen Diskussion um die Gemeinschaftsaufgabe teile ich die Auffassung, dass die inhaltliche Ausgestaltung der Förderrichtlinien im Wesentlichen den Erfordernissen entspricht und den EU-Rahmenbedingungen gerecht wird. Vor allem die Ausgleichszulage für benachteiligte Gebiete sowie die Agrarinvestitionsförderung sind aus meiner Sicht wichtig - nicht nur für Ostdeutschland. Mit der Ausgleichszulage können Arbeitsplätze gesichert, mit Agrarinvestitionen neue geschaffen werden. Daher dürfen diese Förderungen nicht den Kürzungen auf EU-, Bundes- oder Länderebene zum Opfer fallen. ({1}) Es muss das vorangige Förderziel sein, soziale und natürliche Lebensbedingungen in den ländlichen Räumen mindestens zu erhalten. Das heißt auch, Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen und damit Existenzmöglichkeiten im ländlichen Raum zu schaffen. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Interesse; denn die Konsequenzen des Sozialabbaus werden immer deutlicher und gehen weit über persönliche Schicksale hinaus. Der gesellschaftliche Zusammenhalt droht zu erodieren, wenn ein demokratisches System so viele Verlierer hinterlässt. Selbstverständlich ist die Förderung nicht nur eine Frage der Finanzausstattung. Ganz sicher können die Gelder auch effektiver und noch zielgerichteter eingesetzt werden. Aber die Decke bleibt nun einmal zu kurz ob man sie hin und herzieht oder nicht. Das dritte Thema dieser Debatte hat nur scheinbar wenig mit den bisherigen Themen zu tun. Ich bin immer wieder darüber erstaunt, wie oft das Risiko von Infektionskrankheiten bei Nutztieren ausgeblendet wird und das, obwohl sie in Zeiten exorbitanter Personen- und Warenströme einer globalisierten Welt die größte wirtschaftliche Bedrohung unserer Nutztierbestände und damit auch der tierhaltenden Betriebe darstellen. Die nur scheinbar überraschenden Ausbrüche von MKS, Geflügel- und Schweinepest und jetzt der Blauzungenkrankheit sind meine Kronzeugen. Welche Schlussfolgerungen müssten daraus gezogen werden? Es müsste alles dafür getan werden, dass wissenschaftlich begründet und konzeptionell gehandelt werden kann. Stattdessen aber verstärkt sich auch für mich angesichts der immer wieder stattfindenden Massentötungen der Eindruck mittelalterlicher Rituale. Spätestens die Bilder der brennenden Kadaverberge während des MKS-Seuchenzuges in Großbritannien hätten zum Umdenken zwingen müssen: ({2}) hin also zu vernünftigen Präventions- und Interventionskonzepten. Dabei kann es nicht nur, aber es muss auch um kluge Impfstrategien gehen, wobei wir dann nicht nur über die großen Nutztierbestände, sondern auch über die kleinen, genetisch wertvollen oder einfach nur moralisch wertvollen Klein- und Hobbyhaltungen nachdenken müssen. Darüber hinaus muss es aber um Folgendes gehen: Erstens. Einschleppungs- und Verschleppungsrisiken müssen sicher bestimmt und überwacht werden. Zweitens. Mit schnellem, effektivem Handeln müssen größere Ausbrüche von Endemien und Epidemien verhindert werden. ({3}) Drittens. Wirtschaftliche Schäden müssen minimiert werden. Viertens. Nach Kosten-Nutzen-Analysen optimierte Interventionskonzepte müssen dringend entwickelt werden. Auf diese Herausforderungen muss das Agrarforschungskonzept, das seit Monaten angekündigt und jetzt entwickelt wird, Antworten geben. Deswegen erwarte ich es mit ungestillter Neugier. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächstes hat das Wort Cornelia Behm für Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Landauf und landab klopfen sich Unionspolitiker zurzeit auf die Brust, sind stolz auf den Aufwärtstrend in der Landwirtschaft und verbuchen die verbesserte Wirtschaftslage auf ihr eigenes Konto. Dabei belegt der Agrarbericht, dass sie sich mit fremden Federn schmücken; denn die um 24 Prozent erhöhten Gewinne der Agrarbetriebe wurden bereits im Wirtschaftsjahr 2004/05 gemessen - der Minister hat darauf hingewiesen -, also zu rot-grünen Zeiten, als Renate Künast Ministerin war. ({0}) Für 2005/06, also in der schwarz-roten Ära, zeichnet sich laut Agrarbericht hingegen wieder ein Rückgang der Einkommen um circa 5 Prozent ab. Das sind die Fakten, die der Agrarbericht nennt, meine Damen und Herren von der Union, auch wenn Sie die nicht so gern hören. Was wahr ist, muss wahr bleiben. Dieser rot-grüne Aufschwung hatte seine Gründe. ({1}) Durch eine zielgerichtete Orientierung auf Qualitätsproduktion - Sie erinnern sich noch: Klasse statt Masse; auch das hat der Minister zitiert - haben wir erreicht, dass die Verbraucher wieder Vertrauen in die deutsche Lebensmittelproduktion gewonnen haben. Dies spiegelt sich im gestiegenen Absatz inländischer Erzeugnisse wider. Aber auch die deutschen Agrarexporte haben sich positiv entwickelt. Im Jahr 2004 haben sie um 5,5 Prozent zugenommen. Experten führen dies auf ebendiese Qualitätsorientierung und -förderung durch die Politik zurück. Also: Erst Klasse, dann kommt Masse. ({2}) Qualität, Vertrauen und der Trend zu Bioprodukten haben dazu geführt, dass sich der Ökolandbau gut am Markt platzieren konnte. So verbesserte sich auch die Ertragslage der ökologisch wirtschaftenden Betriebe weiter. Das ist eine erfreuliche Tendenz; denn die Ökobetriebe haben im Durchschnitt einen um 30 Prozent höheren Arbeitskräftebesatz. Sie sind damit für die ländlichen Räume ein wichtiger Jobmotor. Wenn man auf die aktuelle großkoalitionäre Agrarpolitik blickt, dann muss man sich besorgt fragen: Soll das, was so schön begann, schon wieder zu Ende sein? Hier meine wichtigsten Kritikpunkte: Im Agrarbericht betont die Bundesregierung den hohen Stellenwert einer Förderung der ländlichen Entwicklung; in der konkreten Politik setzt sie dies allerdings nicht um. Denken Sie nur an den Merkel-Kompromiss zu den EU-Finanzen. Opfer sind die ländlichen Räume. Massiv gekürzt wurden die Mittel für die zweite Säule der Agrarpolitik. Ich kann das Rechenexempel von Ministern nicht nachvollziehen; da wird viel schöngerechnet. ({3}) In den Bundesländern steht - wie man feststellt, wenn man sich das einmal wirklich kritisch anschaut - real bis zu 50 Prozent weniger Geld für den ländlichen Raum zur Verfügung. Wer da seine Hoffnungen auf den Minister setzt, der jüngst seine Liebe zum ländlichen Raum entdeckt haben will, wird von der Realität bitter enttäuscht. Der Agrarhaushalt weist keine Kompensation der EUKürzungen auf. Im Gegenteil, die GAK-Mittel wurden im Haushalt 2006 um 50 Millionen Euro gekürzt. Die Folge ist, dass viele notwendige und sinnvolle Programme im ländlichen Raum in Zukunft entweder gar nicht mehr oder nur noch stark gerupft angeboten werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die große Koalition gefährdet eine weitere wichtige Säule, mit der Rot-Grün für mehr Einkommen bei den Landwirten gesorgt hat: Sie haben die Mineralölsteuerbefreiung für Biokraftstoffe aufgehoben. Damit drehen Sie einer aufstrebenden Branche, die mittelständisch organisiert ist, eine Vielzahl von Arbeitsplätzen geschaffen und zahlreiche Innovationen finanziert hat, im wahrsten Sinne des Wortes den Hahn ab. Wir Grüne haben dem Bundestag einen Entschließungsantrag vorgelegt, mit dem wir diese gefährliche Entwicklung stoppen wollen. Wir fordern von der Bundesregierung, das Energiesteuergesetz und das Biokraftstoffquotengesetz so zu korrigieren, dass der Ausbau der Bioenergie und der Aufbau einer mittelständischen Biokraftstoffwirtschaft fortgeführt werden können. Wir fordern, dem hohen Stellenwert der ländlichen Entwicklung durch eine ausreichende finanzielle Ausstattung Rechnung zu tragen. Wir fordern, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ in eine Gemeinschaftsaufgabe für die Entwicklung des ländlichen Raumes zu überführen. Wir fordern, dass der Bundestag zukünftig in die Entscheidungsfindung des PLANAK, also des Planungsausschusses für diese Gemeinschaftsaufgabe, einbezogen wird. ({4}) Das ist unser Geld; darüber müssen wir doch zumindest mitentscheiden können. Last, but not least muss die Förderpolitik zugunsten des Ökolandbaus fortgesetzt werden, damit auch die heimische Landwirtschaft am Wachstumsmarkt der Biolebensmittel teilhaben kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben es in der Hand, ob der Agraraufschwung bei den Bioenergien, bei den nachwachsenden Rohstoffen, bei der Qualitätsproduktion und beim Ökolandbau fortgesetzt oder aufs Spiel gesetzt wird. Ich bitte Sie: Ziehen Sie aus dem Agrarbericht die richtigen Konsequenzen! ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Johannes Röring. ({0})

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eines feststellen: Die Stimmung in der Landwirtschaft, ja in der ganzen Agrarwirtschaft ist zurzeit ausgesprochen gut. Dieses Stimmungshoch ist nicht allein durch die Verbesserung der Betriebsergebnisse zu erklären. Frau Behm, Einkommen werden durch den Fleiß und das Können von bäuerlichen Familien erzielt und nicht durch die Politik. Deswegen ist das alles zu relativieren. ({0}) Diese Ergebnisse sind erfreulich; aber sie sind nicht der Grund für die gute Stimmung. Die Begründung liegt an anderer Stelle. Bäuerinnen und Bauern, Land- und Forstwirte, Gärtner und Fischer wurden viele Jahre öffentlich angeklagt. Sie wurden, und das sogar von führenden Regierungsmitgliedern, verantwortlich gemacht für Tierseuchen, Krankheiten wie BSE ({1}) oder das Quälen von Tieren und das Verschmutzen von Böden und Wasser. ({2}) Andere bezeichneten die Landwirtschaft als sterbende Branche, als Subventionsempfänger und im Übrigen als überflüssig, da ja alles, was wir produzieren, auf dem Weltmarkt eh billiger zu bekommen sei. Diese Haltung hat sich grundlegend geändert. Denn die neue Botschaft der Bundesregierung heißt: Wir sind stolz auf unsere Landwirtschaft und wir brauchen sie. ({3}) Denn: Zum Ersten ist die Agrarwirtschaft ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Diese Branche, die in extrem hohem Maße mittelständisch geprägt ist und standortgebundene Arbeitsplätze in ländlichen Regionen schafft, hat über 4 Millionen Beschäftigte und erwirtschaftet über 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Zum Zweiten - dieser Punkt wird vielfach vergessen - garantiert die Landwirtschaft die Versorgung von 82 Millionen Bundesbürgern mit ihrem täglichen Brot. Auch das sollten wir deutlich machen. Es wird heutzutage Nahrung in nie bekannter Vielfalt und in hervorragender Qualität produziert. Wir sollten stets beachten, dass Versorgungssicherheit nicht nur im Energiebereich, sondern erst recht im Nahrungsmittelbe5496 reich wichtig ist. Wir haben daher allen Grund, auf unsere Landwirtschaft stolz zu sein. ({4}) Die Landwirtschaft befindet sich im ständigen Wandel. Die Erzeugung von Nahrungsmitteln findet mittlerweile vor dem Hintergrund globaler Märkte und sich immer stärker öffnender Grenzen statt. Die Marktpreise für Getreide sind mittlerweile überall in der Welt gleich. Die Märkte für Fleisch und Milchprodukte sind hart umkämpft im internationalen Wettbewerb. Deswegen ist es so wichtig und unabdingbar, dass die Wettbewerbsfähigkeit unserer Agrarwirtschaft in Zukunft weiter verbessert wird. Hierfür sind folgende Aspekte von sehr großer Bedeutung: Wir müssen alle bürokratischen Vorgaben und Regelungen auf ihre Effizienz und Notwendigkeit überprüfen. Hier schließe ich natürlich die europäischen Richtlinien und Verordnungen ein. Hiermit definieren wir am Ende nämlich, wie wir Nahrung produzieren wollen, wie wir mit der Natur und der Umwelt umgehen, wie wir Tiere halten und - auch das ist wichtig - unter welchen Bedingungen die Menschen in diesem Bereich arbeiten und leben. Kurz gesagt: Wir setzen Standards. Aber was hilft es, wenn wir in unserem Land Standards formulieren und sie unter hohen Produktionskosten streng einhalten, aber beim Import alle Augen zumachen? Das hat nichts mit fairem Welthandel zu tun. ({5}) An dieser Stelle gebührt unserem Minister Seehofer ein großes Lob, der im Gegensatz zu seiner Vorgängerin deutsche und europäische Interessen bei den Verhandlungen mit der WTO - zuletzt in Hongkong - stets im Auge hatte. ({6}) Die weiteren Herausforderungen für die Landwirtschaft zeichnen sich deutlich erkennbar ab: Aktuelle Prognosen sagen uns eine Verdoppelung des weltweiten Fleischkonsums in wenigen Jahren voraus. Dadurch wird eine erhebliche Steigerung der Nachfrage an Getreide, Mais und Sojaschrot verursacht, da die Erzeugung von einem Kilogramm Fleisch mehrere Kilogramm Getreide erforderlich macht. Darüber hinaus - dieser Punkt kommt hinzu - erwartet die Gesellschaft von der Landwirtschaft ein immer stärkeres Engagement bei erneuerbaren Energien und Rohstoffen, die - das wird oft in der allgemeinen Diskussion vergessen - von den gleichen Flächen kommen. Denn die Flächen sind nicht vermehrbar. In der Summe wird dies dazu führen, dass sich die weltweite landwirtschaftliche Produktion in absehbarer Zeit verdoppeln muss, und das auf kaum vermehrbarer Fläche. Dies sind gewaltige Aufgaben. Hier ist die deutsche und europäische Landwirtschaft aufgrund der exzellenten Bedingungen bei Boden und Klima stark gefordert und in der Verantwortung. Zu schaffen ist das aber nur durch eine moderne und intelligente Landwirtschaft, die alle Potenziale bei Ertragssteigerungen und Effizienzverbesserung nutzt. Hierzu zähle ich ausdrücklich die Biotechnologie.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Johannes Röring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Frau Präsidentin. Auch müssen wir uns dringend die Frage stellen, ob Flächenstilllegungen noch zeitgemäß sind und ob guter Ackerboden nicht genauso schützenswert ist wie ein Feuchtbiotop. ({0}) Für diese gigantischen Ziele und die Lösung der Aufgaben, die vor uns liegen, brauchen wir die Unterstützung der Bundesregierung in der Forschung. Hier sind richtige Schritte gemacht worden. Ich glaube, dass die Landwirtschaft auf einem guten Weg ist. Lassen Sie uns diesen Weg weiter positiv gestalten! Danke für das Zuhören. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächstes spricht der Kollege Dr. Edmund Geisen für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Agrarbericht mag zwar realistisch sein; aber die Worte des Herrn Ministers heute Morgen wie auch die meines Kollegen Herrn Röring stellen sich für mich als eine große Schönfärberei dar. ({0}) Denn die in den Bereichen Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bestehenden Probleme wurden nicht gelöst und die meisten noch nicht einmal in Angriff genommen. ({1}) Das Schlimmste, was man dem Herrn Minister vorzuwerfen hat, ist der andauernde Zickzackkurs seiner Politik in vielerlei Hinsicht, aber insbesondere in der Agrarsozialpolitik. Mit der Politik des Ministers ist unsere Landwirtschaft vom Regen in die Traufe gekommen. ({2}) Es gab zunehmende Kürzungen im agrarsozialen Bereich des Haushalts. Die versprochene Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinien wurde nicht eingehalten. Die Erntehelferregelung war ein Flop. Es gibt keine LösunDr. Edmund Peter Geisen gen für die Tierseuchenbekämpfung. Nein, die Landwirtschaft ist nicht, wie es der Herr Minister darstellt, auf Rosen gebettet. Sie hat noch nichts davon gemerkt, dass Verbesserungen eingetreten sind. ({3}) Was der deutschen Landwirtschaft besonders zu schaffen macht, sind die ungleichen Wettbewerbsbedingungen auf EU-Ebene, die überbordende Bürokratie, die wettbewerbsverzerrenden Dieselbesteuerungen im Agrarbereich sowie die unterschiedlichen Produktionsvorschriften und Auflagen im Umweltbereich, in der Tierhaltung und in der Produktionstechnik. Dazu kommen auf nationaler Ebene die enorm hohen finanziellen Anforderungen durch die alten Lasten. Das alles ist nicht so in Angriff genommen worden, dass unseren Landwirten eine Zukunftsperspektive geboten wird. Unsere Landwirte sind weiterhin vor allem dadurch verunsichert, dass sie keine mittelfristige Planungssicherheit haben. ({4}) Deswegen fordern wir von der FDP-Fraktion den Herrn Minister auf, diese genannten Probleme möglichst bald in Angriff zu nehmen. Wir fordern ebenfalls eine verstärkte verbraucherorientierte Politik, die den Verbrauchern und den Landwirten gerecht wird. Dazu gehören die Harmonisierung der Qualitätsstandards in Europa - und darüber hinaus -, die Qualitätssicherung im Agrar- und Nahrungsmittelbereich, die Aufklärung über die Produktionswege der national und international erzeugten Produkte, die Herausstellung der heimischen Produkte durch deutliche Kennzeichnung und die Aufklärung der Verbraucher über Produktionsmethoden hierzulande und international, damit ein Vergleich gewährleistet ist. Wir fordern Sie, Herr Minister Seehofer, auf, endlich Maßnahmen zu ergreifen, die unseren Landwirten und dem ländlichen Raum Zukunftsperspektiven aufzeigen. ({5}) Zum Schluss möchte ich etwas zur deutschen EUPräsidentschaft im kommenden Jahr sagen. Wir von der FDP fordern Sie insbesondere auf, im Bereich der Cross-Compliance und darüber hinaus für einen drastischen Bürokratieabbau zu sorgen. Hier stehen Sie, Herr Minister, im Wort. Ich bedanke mich für das Zuhören. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächstes spricht für die SPD-Fraktion Dr. Gerhard Botz.

Dr. Gerhard Botz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Herr Bundesminister! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte in meinem heutigen Beitrag auf nur einen Punkt im Agrarbericht eingehen, nämlich auf die Zukunft der ländlichen Räume, genauer gesagt: auf einige Aspekte, die angesichts der aktuellen Situation aus unserer Sicht sehr wichtig sind. Unsere Fraktion hat im September eine bundesweite Konferenz zur Zukunft ländlicher Räume durchgeführt und von Akteuren aus dem ländlichen Raum eine Vielzahl von Anregungen erhalten. ({0}) Auf einige Aspekte möchte ich eingehen. Wir brauchen wesentlich stärker eine integrierte Sicht auf die Entwicklung in unserem ländlichen Raum. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir Agrarpolitiker eingestehen - das betrifft uns alle -, dass wir zwar schon seit Jahrzehnten von einer integrierten Agrarpolitik sprechen, davon aber doch noch ein ganzes Stück entfernt sind. Herr Bundesminister, deswegen begrüßen wir das, was wir in den letzten Monaten aus Ihrem Haus - von Ihnen, aber auch von Ihren führenden Mitarbeitern - hören, nämlich dass es eine der wesentlichen politischen Zielstellungen ist, jetzt zu einer integrierten Politik für ländliche Räume zu kommen. Das bedeutet eine Abkehr von der bisher prägenden sektoralen Betrachtungsweise. ({1}) Wir könnten uns vorstellen, auf Bundesebene so etwas wie einen Rat für die Entwicklung ländlicher Räume einzurichten. Unser Ministerium sollte mit den anderen Ministerien, die über fachliche Zuständigkeiten auf diesem Gebiet verfügen, zusammenarbeiten. Eine dementsprechende Einrichtung bräuchten wir auch auf der Ebene der Länder; denn es ist klar, dass eine Politik für ländliche Räume regional, das heißt hauptsächlich auf der Landesebene, umgesetzt werden muss. Ich bin davon überzeugt, dass die Geschwindigkeit, mit der wir diese Entwicklung angehen, erhöht werden muss. Eine entscheidende Zielstellung in diesem Zusammenhang ist und bleibt, Arbeit und Wertschöpfung vor Ort zu halten. Auch deshalb müssen wir regionale Wirtschaftskreisläufe aktivieren, neue Marketingkonzepte entwickeln und Beschäftigung gezielt fördern. Wenn wir das wollen, brauchen wir mehr Mittel im Bereich der zweiten Säule, als wir zurzeit - leider - zur Verfügung haben. Deshalb ist es aus meiner Sicht unverzichtbar, Mittel aus dem Bereich der ersten Säule in den Bereich der zweiten Säule umzuschichten. ({2}) Natürlich müssen alternative Erwerbsmöglichkeiten für die betroffenen Bürger im ländlichen Raum ausgebaut werden. Eine Fülle erfolgreicher Leader-Projekte belegt, dass das möglich ist. Auch das Instrument der Modulation ist deshalb kein Generalangriff auf die Einkommen der heutigen Landwirte, sondern eher eine Maßnahme, mit deren Hilfe es uns gelingen kann, öffentliche Mittel - solange wir sie noch haben - sukzessive für vernünftige und zukunftsfähige Projekte im ländlichen Raum einzusetzen. ({3}) Es gibt eine klare politische Zielstellung, der wir uns als Sozialdemokraten verpflichtet fühlen: Unsere ländlichen Regionen, insbesondere die peripher gelegenen strukturschwachen Regionen müssen als eigenständige Lebens- und Wirtschaftsräume erhalten und weiterentwickelt werden. Eine einseitige Ausrichtung zukünftiger staatlicher Förderstrategien auf Ballungsräume, die ohnehin wachsen, kann deshalb nach meiner Auffassung nicht akzeptiert werden. ({4}) Es gibt trotz der bekannten Probleme, die ich hier nicht im Einzelnen aufführen muss, in fast jeder dieser Regionen erhebliche Entwicklungspotenziale, die wir fördern müssen. Wichtig ist es, dass wir dazu die Akteure vor Ort in die Entscheidung einbeziehen. Deshalb - das möchte ich in Richtung unseres Bundesministeriums sagen - war es richtig, das Programm „Regionen Aktiv“ für zwei Jahre zu verlängern. Auch wenn wir weniger Geld haben und über neue Instrumente nachdenken müssen, bleibt die grundlegende Entscheidung Deutschlands aus früheren Jahrzehnten richtig, den Wegfall landwirtschaftlicher Beschäftigung durch Erwerbschancen in Industrie, Gewerbe und Dienstleistung im ländlichen Raum rechtzeitig auszugleichen. Frankreich zum Beispiel hat diese strategische Entscheidung verschlafen und leidet bis heute unter den Folgen. Noch können wir in unseren ländlichen Räumen auf ein besonders hohes ehrenamtliches Engagement unserer Bürger zurückgreifen. Wir müssen versuchen, trotz knapper finanzieller Mittel dieses Kapital ehrenamtlicher Tätigkeit an wichtigen Schaltstellen gezielt zu fördern. Dabei geht es um Betreuungsangebote kultureller und sportlicher Art für Jungendliche. Diese können mancherorts aufrechterhalten bleiben oder sogar verbessert werden. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass das letzten Endes nichts anderes ist als eine vorsorgende Maßnahme gegen den wachsenden Einfluss rechtsradikaler Organisationen insbesondere in ländlichen Regionen, die benachteiligt sind. Dort unterbreiten solche Organisationen Jugendlichen gezielt Freizeitangebote, um über diesen Weg ihr verhängnisvolles Gedankengut in deren Köpfe zu bringen. ({5}) Wer über Perspektiven für ländliche Räume spricht und ohne Illusionen in die Zukunft schaut - das ist schließlich unsere Aufgabe in diesem Hohen Haus -, der darf nicht die Augen vor den mit hoher Sicherheit zu erwartenden Klimaveränderungen verschließen. Nüchterne Einschätzungen deuten darauf hin, dass wir uns von der bisherigen Erfahrung von jährlichen Ertragszuwächsen in Höhe von etwa 3 Prozent verabschieden müssen, allein deshalb, weil sich die Temperatur- und Niederschlagsverteilung in den kommenden Jahrzehnten erheblich verändern wird. Wir sind also gut beraten, ohne Hast, aber konsequent und entschlossen unsere Forschung im Agrar- und Forstbereich auf diese Herausforderungen rechtzeitig einzustellen. Herr Bundesminister, an dieser Stelle möchte ich Sie ausdrücklich bestärken, diesen Aspekt mit Blick auf die Vorhaben im Bereich der Ressortforschung, die wir alle tragen - natürlich muss im Detail noch darüber beraten werden; aber wir unterstützen sie -, einzubeziehen. Denn es werden Zeiten kommen, in denen wir froh und vielleicht auch etwas stolz darauf sein werden, dass wir Agrarforscher, Züchter und Verfahrenstechniker mit ausreichender Kapazität Vorbereitungen haben treffen lassen, damit die verbliebenen Landwirte, die in den kommenden Jahrzehnten unsere Bevölkerung versorgen sollen, über die entsprechenden Maßnahmen und Verfahren verfügen. Ich glaube, dass wir alle - damit möchte ich zum Schluss kommen - uns darüber klar sind, dass ländliche Räume, die Landwirtschaft und der Beruf des Landwirts nicht mehr den Stellenwert haben, den sie vor einigen Jahrzehnten noch hatten. Aber wir sollten nicht müde werden, unseren Mitbürgern, den Medien und allen anderen Interessenvertretern klar zu machen, dass sie wichtig sind. Das war immer so und es wird so bleiben. Wir hängen existenziell von dieser Branche, von den ländlichen Räumen ab. Deshalb hoffe ich, dass wir trotz aller Aktivitäten, die wir Parlamentarier auf diesen Gebieten abwickeln, die Zukunft unseres Vaterlandes dementsprechend gemeinsam gestalten. Vielen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bärbel Höhn spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal unabhängig vom Thema dieser Debatte darauf hinweisen, dass in diesem Moment das Kuratorium „Baum des Jahres“ tagt. An dieser Sitzung können wir leider nicht teilnehmen, weil wir diese Debatte führen. Heute wird nämlich der Baum des Jahres ausgerufen: die Waldkiefer. Wir sollten diesem Baum und damit dem Naturschutz in unserem Land alles Gute wünschen! ({0}) Jetzt komme ich auf den Agrarpolitischen Bericht 2006 der Bundesregierung zu sprechen. Herr Seehofer, ich muss sagen, dass ich Ihre Rede enttäuschend fand. Denn die Diskussion über den Agrarbericht ist eine Grundsatzdebatte. Deshalb hätte ich schon erwartet, dass Sie zum Beispiel auf das eingehen, was die EU-Agrarkommissarin Fischer Boel im „Handelsblatt“ vom 16. Oktober dieses Jahres gesagt hat. Dort heißt es: Fischer Boel kündigte ferner an, dass sie das Budget für die Direktzahlungen an die Bauern stärker senken wolle als in der EU-Finanzplanung bis 2013 vorgesehen. Das Geld solle stattdessen in den Fonds für ländliche Entwicklung fließen. … So würden Bauern mit zukunftsweisenden Geschäftsideen belohnt, sagte sie. ({1}) Herr Seehofer, auf diese Ankündigung hätte ich von Ihnen eine Reaktion erwartet. Sie haben die Kürzungen der zweiten Säule hingenommen und gesagt, diese Kürzungen seien nicht schlimm, da es sich nur um 1 Milliarde Euro handele, was kein großer Betrag sei. Auf diese Weise haben Sie versucht, die Bedeutung dieser Kürzungen herunterzureden. Für viele Bereiche der deutschen Landwirtschaft und für viele Regionen unseres Landes sind diese Kürzungen der zweiten Säule allerdings eine existenzielle Bedrohung. Das sollten wir immer wieder betonen. ({2}) Einige Bauern, beispielsweise in bestimmten Landkreisen Bayerns, sind finanziell stärker von der zweiten Säule als von der ersten Säule abhängig. Herr Goppel wird Ihnen das bestätigen, wenn Sie es noch nicht wissen. Von den Kürzungen der zweiten Säule sind sowohl die Bauern, die extensive Landwirtschaft betreiben, als auch die Bauern, die naturnahe Landwirtschaft betreiben, betroffen. Sie haben dramatische Auswirkungen. Deshalb müssen wir etwas gegen diese Kürzungen unternehmen. ({3}) Genau die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind, um diesen Kürzungen zu begegnen, haben Sie abgewürgt, indem Sie nicht nur die Kürzungen der zweiten Säule hingenommen haben, sondern auch noch die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe gekürzt haben. Das Fatale an dem, was Sie getan haben, ist, dass Sie die Mittel für die Bauern mit zukunftsweisenden Ideen gekürzt haben. Der Unterschied zwischen der Politik von Rot-Grün und Ihrer Politik besteht darin, dass wir für zukunftsweisende Konzepte Geld zur Verfügung gestellt haben, Sie aber tun das Gegenteil. ({4}) Ich möchte noch auf einen anderen wichtigen Bereich eingehen, den Sie, Herr Seehofer, nicht angesprochen haben: die Gentechnik. Wir könnten in diesem Zusammenhang sehr lange über ethische und ökologische Gesichtspunkte diskutieren. Ich will heute aber einzig und allein über den wirtschaftlichen Vorteil reden, den Europa hätte, wenn es gentechnikfrei bliebe. Das wäre auch ein wirtschaftlicher Vorteil für die Bauern in diesem Land, nicht nur ein Vorteil für die Verbraucherinnen und Verbraucher. ({5}) Das große Land Kanada kann mittlerweile keinen gentechnikfreien Raps mehr liefern. Doch was tut die Ernährungswirtschaft? Sie fragt nach gentechnikfreiem Raps. Auch Soja kann in vielen Bereichen nicht mehr gentechnikfrei geliefert werden. Was ist das Ersatzprodukt? Das Ersatzprodukt ist gentechnikfreier Raps. Das bedeutet, der Rapspreis hat sich nicht nur aufgrund gestiegener Energiekosten erhöht, sondern auch, weil Europa bisher gentechnikfrei geblieben ist. Das hat darüber hinaus eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit zur Folge. Das muss so bleiben. ({6}) Sie, Frau Happach-Kasan, waren doch gerade erst in Argentinien. Wissen Sie, wie in Argentinien das schlimmste Schimpfwort lautet, das Bauern und Vertreter der Ernährungswirtschaft in den Mund nehmen? Es lautet Monsanto. Denn durch die Lizenzgebühren, die dieses Unternehmen verlangt, sind viele Bauern in Abhängigkeit geraten. Mittlerweile ist es so, dass Monsanto sowohl die Bauern als auch die Ernährungswirtschaft knebelt. Einen solchen Zustand wollen wir in Deutschland nicht. ({7}) Es gibt noch einen Bereich, den ich ansprechen will und für den Sie, Herr Seehofer, auch keine Worte gefunden haben: den Tierschutz. Ich finde es gut - am heutigen Tage sollte man darauf hinweisen -, dass wir im Hinblick auf Robbenprodukte einen gemeinsamen Antrag eingebracht haben. Wir wollen heute - allerdings zu nachtschlafender Zeit; daher spreche ich dieses Thema schon jetzt an - für Deutschland die Einführung eines Stopps des Imports von Robbenprodukten beschließen. Das ist richtig, weil wir dadurch der grausamen Robbenjagd in Kanada endlich etwas entgegensetzen und erreichen, dass sich in diesem Land im Tierschutz etwas verändert. Das ist gut. ({8}) Vielen Dank an alle Fraktionen, übrigens auch an die PDS, die dieses Vorhaben inhaltlich auch unterstützt. Darüber hinaus wurden die Haltungsbedingungen für Pelztiere verbessert. Dieses Thema ist erst vor kurzem im Bundesrat behandelt worden. Aber das reicht uns Grünen nicht. Denn beim Tierschutz geht es nicht nur um Robben und Pelztiere. Ein Verbot von Robbenprodukten macht Ihnen, um es so zu sagen, wenig aus. Wir wollen, dass die Einfuhr von Katzen- und Hundefellen verboten wird. Dem entsprechenden Antrag von uns haben Sie bisher nicht zugestimmt. Vor allen Dingen wollen wir eine Verbesserung für Nutztiere. Durch Ihre Entscheidung in der Frage der Hennenhaltung und der Schweinehaltung haben Sie dazu beigetragen, dass Millionen von Tieren unter schlechteren Bedingungen leben müssen als vorher, als Rot-Grün regiert hat. ({9}) Wir müssen mehr für den Tierschutz tun in diesem Land. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Uda Heller. ({0})

Uda Heller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Agrarbericht zeigt deutlich die große Bedeutung, welche die Bundesregierung einer starken und auf dem internationalen Markt wettbewerbsfähigen Land- und Agrarwirtschaft beimisst. Ich habe mir ein Kapitel aus diesem Bericht ausgewählt, und zwar die Mittel zum Leben, besser gesagt: die Lebensmittel. Als nachgelagerter Wirtschaftsbereich spielt insbesondere die Ernährungswirtschaft eine entscheidende Rolle für die Sicherung der Versorgung unserer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. 80 Prozent unseres Nahrungsbedarfs werden mit heimischen Produkten gedeckt und das ist gut so. Die Ernährungsbranche ist mit etwa 5 900 Betrieben, circa 1,3 Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von rund 260 Milliarden Euro im Jahr einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige in Deutschland. Die Branche boomt und wird von den Bürgern in Deutschland, aber auch im Ausland angenommen und geschätzt. Wenn wir jetzt noch lernen, nicht nur auf den Preis, sondern auch auf die Qualität zu schauen, sind wir auf dem richtigen Wege. ({0}) Die Vielfalt an Brot- und Biersorten in Deutschland - um nur zwei Beispiele zu nennen - ist einzigartig in der Welt. Allein im ersten Halbjahr 2006 wurden Nahrungsgüter im Wert von 18,1 Milliarden Euro exportiert. Ich denke, damit sind wir auf einem sehr guten Weg. Die Landwirtschaft ist aber in hohem Maße von der Verarbeitung ihrer Produkte und vom Handel abhängig. Denn fast alle Agrarprodukte erreichen den Verbraucher in verarbeitetem Zustand. Die positiven Synergieeffekte von Land- und Ernährungswirtschaft sind wichtig, weil beide Glieder eine Wertschöpfungskette bilden. ({1}) Dabei gilt es, eine möglichst hohe Wertschöpfung zu erzielen, weil diese für die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Agrarwirtschaft von großer Bedeutung ist. In der vergangenen Woche fand in Magdeburg erstmals eine zweitägige „Zukunftskonferenz Ernährungswirtschaft“ auf Initiative von Bundesminister Horst Seehofer statt. Unter dem Motto „Neue Wege und neue Chancen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft“ konnten sich Vertreter der Landwirtschaft und der deren Produkte verarbeitenden Ernährungswirtschaft austauschen. Besonders erfreut war ich darüber, dass das Bundesministerium als Veranstaltungsort für diese Konferenz Magdeburg in meinem Heimatland Sachsen-Anhalt gewählt hat. Sachsen-Anhalt hat mittlerweile eine Spitzenposition in der ostdeutschen Ernährungsbranche erreicht. ({2}) Marken wie Rotkäppchen, Hasseröder Bier und Halberstädter Würstchen sind weit über die Grenzen von Sachsen-Anhalt bekannt. Markenprodukte haben einen positiven Identitätswert für unsere Menschen, die stolz sind, wenn sie selbst in einem Supermarkt in Berlin oder Hamburg Produkte aus ihrer Heimat vorfinden. Mit einer Umsatzsteigerung um über 300 Millionen Euro auf 5,8 Milliarden Euro im Jahr 2005 lag Sachsen-Anhalt über dem Bundesdurchschnitt. Die Exportumsätze stiegen in diesem Zeitraum um 12 Prozent. Als ein besonders wichtiges Signal werte ich aber die leichte Zunahme der Zahl der im Ernährungsgewerbe in Sachsen-Anhalt Beschäftigten. Dort waren 2005 knapp 21 000 Arbeitnehmer in dieser Branche tätig. ({3}) Interessant ist: In Mecklenburg-Vorpommern liegt der Umsatz der Ernährungswirtschaft mit 4,8 Milliarden Euro noch deutlich vor dem der Tourismusbranche mit 3,5 Milliarden Euro. Im Gegensatz zur Tourismusbranche, die weitgehend vom Saisongeschäft abhängig ist, besitzt die Ernährungsbranche ein sehr viel höheres Wachstumspotenzial. Dieses gilt es auszuschöpfen. Als umsatzstärkste Branche des verarbeitenden Gewerbes in Ostdeutschland hat sie zudem entscheidend zum Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 5,6 Prozent in den vergangenen fünf Jahren beigetragen. Dies ist ein erfreuliches Ergebnis, das zum großen Teil den mittelständischen Unternehmen zu verdanken ist. Um in Zeiten der Globalisierung im internationalen Konkurrenzkampf um Marktanteile in der Ernährungsbranche erfolgreich zu sein, müssen wir auf unsere qualitativ hochwertigen Produkte bauen. Gleichzeitig gilt es, die typisch deutschen Spezialitäten und kulinarischen Besonderheiten einzelner Regionen intensiver und erfolgreicher zu vermarkten. ({4}) Auf lange Sicht ist es auch für uns unverzichtbar, in noch viel höherem Maße neue ausländische Absatzmärkte zu erschließen. ({5}) Insbesondere geht es auch darum, Perspektiven auf den Weltagrarmärkten auszuloten und sich bietende Chancen beim Export in Drittländer zu nutzen. Ein hohes Nachfragepotenzial besitzen die neuen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union, aber auch die aufstrebenden Länder mit einer großen Wirtschaftskraft wie Brasilien, Indien und China.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Uda Heller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003550, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Meine Damen und Herren, als jemand, deren Vorfahren in einer über hundertjährigen Geschichte Lebensmittel hergestellt haben und die selbst in der Obst- und Gemüsebranche gelernt und später Lebensmitteltechnologie studiert hat, sei es mir gestattet, auf eine große Chance für unsere Jugend hinzuweisen. Ein Blick in diesen Berufszweig ist interessant. Er ist vielseitig und hat Zukunft. Hochmoderne Anlagen und zum Teil komplizierte Technik verlangen gut qualifiziertes Personal nicht nur für die Herstellung selbst, sondern zum Beispiel auch für die Bereiche Lebensmittelüberwachung und Lebensmittelkontrolle. Salopp gesagt: Gegessen und getrunken wird immer. Deshalb rufe ich alle jungen Leute dazu auf, sich in dieser Branche ausbilden zu lassen und hier die Chancen zu nutzen, die gegeben sind. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Uli Kelber spricht jetzt für die SPD-Fraktion.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Rednerin der FDP hat zu Beginn davon gesprochen, sie könne keinen Politikwechsel feststellen. Sie können sich vorstellen, dass ich als Sprecher der Fraktion, die vor der letzten Bundestagswahl sieben Jahre lang in der Regierungskoalition war und die es jetzt im Augenblick auch ist, das eher als Lob denn als Kritik verstehe. ({0}) - Frau Happach-Kasan, ich greife das auf, weil Sie als Nächstes gesagt haben, Sie könnten in diesem Agrarbericht nichts Positives entdecken. Ich mag eine solche Schwarz-Weiß-Malerei nicht. Es gibt genügend Themen, über die man unterschiedlicher Meinung ist. Niemand in der Bevölkerung nimmt uns ab, wenn wir erklären, der eine habe in allem Recht, der andere habe nie Recht, alles sei schlecht oder alles sei gut. So funktioniert die Welt nicht. ({1}) Sie sollten schon einmal in den Bericht hineinschauen. Auch der Unterschied in der Darstellung der Oppositionsfraktionen war sehr interessant. Es ist aus Ihrer Sicht also nichts Positives, dass es bei den wirtschaftlichen Ergebnissen der landwirtschaftlichen Betriebe seit mehreren Jahren einen Aufschwung gibt? Das steht im Agrarbericht. ({2}) Die stürmische Entwicklung bei den erneuerbaren Energien, in dessen Verlauf wir nicht nur die Nutzung für die Landwirte verbessert haben, sondern auch Weltmarktführer in den entsprechenden Technologien geworden sind, ist also nichts Positives in diesem Agrarbericht für Sie? Auch die steigende Bereitschaft der Verbraucherinnen und Verbraucher, für bestimmte Produkte mehr Geld auszugeben - zum Beispiel für Produkte aus der ökologischen Landwirtschaft -, ist also nichts Positives in diesem Agrarbericht für Sie? ({3}) Schwarz-Weiß-Malerei an dieser Stelle nützt nichts. ({4}) Von der Fraktion der Grünen haben sich Frau Behm und Frau Höhn in ihren Reden mit dem Agrarbericht beschäftigt. Ich gehe auf die Punkte ländlicher Raum und Biosprit ein. Die Auseinandersetzung bezüglich des ländlichen Raumes hatten wir ja schon einmal. Frau Höhn und Frau Behm, ich würde mir wünschen, dass sie nicht nur der jetzigen Regierung vorwerfen, dass sie Mittel für die ländlichen Räume kürzt, sondern auch erklären, wo Sie denn gewesen sind, als die größten Kürzungen bei den Gemeinschaftsaufgaben durch eine grüne Ministerin erfolgt sind. Das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu. ({5}) Diese statistischen Daten sind wir beim letzten Mal gemeinsam durchgegangen und Sie haben sie an dieser Stelle immerhin anerkannt. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kelber, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Happach-Kasan zulassen?

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte eigentlich zuerst den Biosprit abhandeln, aber da Sie gerade fragen, lasse ich sie selbstverständlich jetzt zu und tue das danach, Frau Präsidentin.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Happach-Kasan.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kelber, ich finde es ausgesprochen angenehm, dass Sie hier das Thema Biosprit tatsächlich angesprochen haben.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das wollte ich noch tun.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Langsam, Sie haben es hier angesprochen. Sie haben kritisiert, dass ich die Politik der Bundesregierung hinsichtlich Biosprit angegriffen habe. Wir sind - da Sie auch einmal das Positive dargestellt haben wollten - in einem Punkt durchaus einer Meinung: Als wir im Bundestag gemeinsam die Steuerbefreiung für Biodiesel bis Ende 2008 beschlossen haben, waren wir auf einem gemeinsamen Weg. Wenn Sie diese Entscheidung so positiv bewerten, wie Sie das jetzt gemacht haben, dann möchte ich Sie fragen, warum Sie dann im Koalitionsvertrag gemeinsam mit der CDU und der CSU beschlossen haben, diese Entscheidung, die eine hervorragende und privat initiierte Entwicklung in Gang gesetzt hat, zu revidieren und die Steuerbefreiung durch die Biokraftstoffquote zu ersetzen. Das widerspricht der positiven Bewertung, die Sie vorher abgegeben haben.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Möglichkeit geben, etwas zum Thema Biosprit zu sagen. Da Sie in Ihrer Frage nur den Biosprit angesprochen haben, gehe ich davon aus, dass Sie die anderen Punkte wie wirtschaftlicher Aufschwung, positive Entwicklung bei den erneuerbaren Energien und steigende Bereitschaft zu höheren Preisen anerkennen. ({0}) Zum Biosprit selbst. Die Entwicklung mit mehreren Millionen Tonnen Biosprit ist in der Tat sehr gut. ({1}) Jetzt schauen wir uns genau an: Was war bisher die Gesetzeslage und was kommt jetzt? Ich persönlich könnte mir sogar noch mehr als das vorstellen, was jetzt noch kommt, aber bleiben wir bei diesem Vergleich. Bisher war in dem Gesetz vorgesehen, bis zum Jahr 2009 Biokraftstoffe steuerlich zu fördern. Die Überkompensationsprüfung war in diesem Gesetz bereits enthalten. Jetzt gilt folgende Regelung: Bei Ethanol bleibt diese steuerliche Förderung bis 2015 anstatt bis 2009, bei Biogas bis 2018 anstatt bis 2009 und bei Biodiesel bis 2011 bestehen. Zwar wird ab dem nächsten Jahr die Förderung abgebaut, aber gleichzeitig wird sie durch eine Quote unterstützt, die beim Absatz eine Mindestmenge sicherstellt. Aus meiner Sicht sollten wir diese Quote sogar noch höher setzen und die reinen Kraftstoffe einbeziehen. Das ist eine Ausweitung der bisherigen Beschlüsse. Das ist eine Verstetigung und bedeutet eine Erhöhung der Absatzchancen. Zudem ist diese Regelung industriefreundlich. Wer zum Beispiel Ethanol herstellt, weiß jetzt, was er nicht nur in den nächsten ein oder zwei Jahren, sondern in den nächsten sieben Jahren, wenn seine Anlage fertig ist, für Möglichkeiten hat. Ich halte das für eine Verbesserung. Ich frage mich bei der Kritik der FDP immer Folgendes: Bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien fordern Sie eine Abkehr von der finanziellen Förderung und eine Hinwendung zu einer Quote. ({2}) Beim Biosprit wollen Sie weg von der Quote und hin zu einer finanziellen Förderung. An dieser Stelle sollten Sie als Partei eine einheitliche Position beziehen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kelber, möchten Sie jetzt eine Frage von Frau Höhn zulassen?

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kelber, ich habe darauf gewartet, dass Sie dieses Thema ansprechen. Wir haben darüber bereits diskutiert. Deshalb habe ich mir vom Bundesministerium die Zahlen dazu besorgt, wie sich die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe entwickelt haben. Diese Zahlen wurden unserem Ausschuss zur Verfügung gestellt. Ich gehe davon aus, dass Sie sie kennen. Erster Punkt. Können Sie bestätigen, dass die konservativen Landwirtschaftsminister in dem Zeitraum ab 1992 bis heute die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe pro Jahr doppelt so stark wie Rot-Grün gekürzt haben? Zweiter Punkt. In der Tat hat Herr Funke die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe weniger als Renate Künast gekürzt. Aber können Sie ebenso bestätigen, dass dann, wenn man die vielen Programme von Renate Künast aus dem Bereich der zweiten Säule einrechnet, zum Beispiel „Regionen Aktiv“, Programme zur artgerechten Tierhaltung und zur Förderung des Ökolandbaus, die es neben der Gemeinschaftsaufgabe gegeben hat, die Mittel im Bereich der zweiten Säule sogar noch erhöht anstatt gekürzt worden sind? ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In dem Zeitraum von 1992 - man kann auch früher oder später ansetzen - bis 2006 gibt es eine klare Reihenfolge: Am meisten haben die Minister der CDU/CSU gekürzt, dahinter kommt die Ministerin der Grünen und erst an dritter Stelle folgt der rote Agrarminister. Das können wir gerne gemeinsam festhalten. Genau diesen Punkt habe ich angesprochen. Es gehört zur Bewertung dazu, dass man nicht dann, wenn man zwischen Opposition und Regierung oder Regierung und Opposition wechselt, auf einmal alles vergisst, was man vorher gesagt hat. Das nehmen die Menschen nicht mehr ernst. ({0}) Man muss zu seiner Regierungsverantwortung, aber auch zu seiner Oppositionsverantwortung stehen. Ich habe versucht, das zum Ausdruck zu bringen. ({1}) Ich weiß, dass ich beim ersten und auch beim zweiten Mal noch nicht alle in diesem Parlament davon überzeugen kann. Aber ich werde dieses Thema beim nächsten Mal wieder ansprechen und ich hoffe, dass ich dann mehr Erfolg haben werde. Dass ein Politikwechsel ausgeblieben ist - ich greife gerne Ihre Äußerung auf, Frau Kollegin HappachKasan -, ({2}) wird auch innerhalb der Koalition debattiert. Die ständigen Wiederholungen, dass wieder mehr Vertrauen in die Politik notwendig ist und wir in Europa mit einer Stimme sprechen müssen, ermüden langsam. Wir sprechen hier über Politik; es geht nicht um Werbereden auf dem eigenen Parteitag, liebe Kollegen in der Koalition. Dass zum Beispiel der Boom bei den erneuerbaren Energien nicht nur Einnahmemöglichkeiten bietet, sondern auch zur Stabilisierung der Rohstoffpreise und damit der Erträge der landwirtschaftlichen Betriebe geführt hat, ist einem Gesetz zu verdanken, dass wir gegen den teilweise erbitterten Widerstand der damaligen Opposition durchsetzen mussten. Die gute wirtschaftliche Situation und das große Vertrauen in die Wirtschaft sind nicht erst in den letzten elf Monaten entstanden; sie gehen vielmehr auf dieses Gesetz zurück. ({3}) Wenn wir über die wirtschaftliche Situation der Landwirtschaft sprechen, dann gehören auch die Grüne Gentechnik und ihr Einsatz in Deutschland zu diesem Thema. Den Skeptikern bzw. Gegnern hinsichtlich eines vermehrten Einsatzes von Grüner Gentechnik wird oft vorgeworfen, nur den Verbraucherschutz und den Umweltschutz im Blick zu haben. Als jemand, der für Umweltpolitik und Verbraucherpolitik in meiner Fraktion mitverantwortlich zeichnet, halte ich das eher für ein Lob als für eine Kritik. Aber der entscheidende Punkt ist - davon sind meine Fraktion und ich fest überzeugt -, dass auch handfeste, für die Landwirtschaft überlebensnotwendige ökonomische Gründe für eine restriktive Linie beim Einsatz von Grüner Gentechnik sprechen. ({4}) Denn wenn die Nutzung unter gegenwärtigen Bedingungen deutlich ausgeweitet oder wenn sie bei unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen auch nur minimal betrieben würde, dann wären sehr viel mehr Arbeitsplätze in der Landwirtschaft bedroht, als durch den Einsatz Grüner Gentechnik je geschaffen werden könnten. ({5}) Die Wirtschaft ist der entscheidende Punkt. Wenn Deutschland keine gentechnikfreien Produkte garantieren kann, dann entstehen daraus für unsere Landwirtschaft massive Probleme. Ein Problem ist in der Debatte bereits genannt worden. Dabei handelt es sich um die Exporte. In der Tat können wir feststellen, dass bei bestimmten Produkten wie Mais und Raps andere Regionen der Welt keine GVO-freien Produkte mehr garantieren können und deswegen für deutsche Unternehmen neue Exportchancen entstanden sind. Man kann sich nicht darauf verlassen, in Amerika, Kanada und anderen Regionen der Welt gentechnikfreie Rohware zu bekommen. In Deutschland ist das aber möglich. Das war die Grundlage für den Abschluss entsprechender Exportverträge. Wir alle erinnern uns an die Aussage von Hipp und anderen Unternehmen, die ihren Namen in der Öffentlichkeit nicht mehr mit dem Begriff Gentechnik verbunden sehen wollten und deutlich gemacht haben, dass sie ihre Rohware aus dem Ausland beziehen müssten, wenn in Deutschland nicht mehr garantiert werden könnte, dass sie gentechnikfrei ist. Damit würde in Deutschland Wertschöpfung wegfallen. Das sind ökonomische Gründe, die auch Gentechnikenthusiasten zu einer rationalen Betrachtung der Chancen und Risiken bringen sollte. Deswegen haben Sie, Herr Minister Seehofer, die volle Unterstützung der SPD bei Ihrer derzeitigen Linie, die Chancen und Risiken abzuwägen. Wir sollten uns in der Tat die Zeit nehmen, die wir brauchen, und dann eine Entscheidung treffen, die den Wünschen der Verbraucherinnen und Verbraucher und den ökonomischen Chancen der deutschen Landwirtschaft am besten gerecht wird. Es geht um nicht weniger als die echte Wahlfreiheit zwischen Gentechnikfreiheit und Gentechnik. Ich glaube, dass eine solche Wahlfreiheit in einer freien Gesellschaft selbstverständlich ist. Dazu gehört die klare Kennzeichnung der Produkte, die aus meiner Sicht auch die Kennzeichnung von Produkten aus tierischer Produktion umfasst, die mit Gentechnik in Verbindung gekommen sind. ({6}) Ich würde mich freuen, wenn das Parlament diese Position einheitlich vertritt, damit der Minister das in der EU entsprechend darstellen kann. ({7}) Demnach müssten auch Milch und Fleisch gekennzeichnet werden, wenn die Tiere mit Gentechnik in Verbindung gekommen sind. ({8}) Wir wollen auch keinen schleichenden Einzug der Gentechnik. Das würde die Wahlfreiheit vernichten. Deswegen muss eine Grenze gezogen werden, die noch unterhalb des Grenzwerts von 0,9 Prozent liegt. Dieser gesetzliche Grenzwert muss die Ausnahme sein; das gentechnikfreie Produkt muss die Regel sein. Auf diesen Normalfall muss die Politik ausgerichtet sein. Die Sicherung einer gentechnikfreien Landwirtschaft in Deutschland ist im Interesse der Absatzprodukte und des klaren Wunsches von 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher nach gentechnikfreien Produkten notwendig. Zur Wahlfreiheit gehört auch, dass die Landwirte, die gentechnikfrei produzieren wollen - das ist die überwiegende Mehrzahl -, nicht auf den Kosten eines verstärkten Einsatzes von Gentechnik in Deutschland sitzen bleiben. ({9}) Ich versuche, das am Beispiel der Tests darzulegen. Schon heute sind die Tests aufwendig und teuer, die ein Landwirt, wenn er zum Beispiel Mais anbaut, durchführen muss, um nachzuweisen, dass sein Mais gentechnikfrei ist bzw. der GVO-Anteil unter 0,9 Prozent liegt. Die Kosten der Tests können durchaus einen substanziellen Anteil am Ertrag pro Hektar ausmachen. ({10}) Wenn es in Zukunft nicht nur eine gentechnisch veränderte Maissorte gibt, sondern zwei Maissorten, wenn nicht nur Bt-Mais, sondern beispielsweise auch eine Maissorte mit besonders hohem Eiweißgehalt auf dem Markt ist und die Zahl der Tests demzufolge zunimmt, ist der Kostenfaktor der Überprüfung auf Gentechnikfreiheit möglicherweise höher als der Ertrag. Wir brauchen also eine klare Regelung, wer an dieser Stelle für die Kosten der Landwirte aufkommt. Wir haben zuletzt eine Debatte über ein Moratorium beim Einsatz der Grünen Gentechnik geführt. Diese wurde von der Fraktion der Grünen und dem CSU-Generalsekretär Söder angestoßen. ({11}) Beide wissen natürlich, dass ein solches Moratorium nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die Grünen haben das - im Gegensatz zu Herrn Söder - in der Begründung ihres Entschließungsantrags zumindest zugegeben. Aber vielleicht können wir uns auf Folgendes einigen: Das deutsche Parlament fordert den Minister auf, eine Initiative in der EU zu starten mit dem Ziel, dass sich Gebietskörperschaften zu gentechnikfreien Regionen verbindlich erklären können. Ich denke, darin könnten wir alle den Minister unterstützen. ({12}) Verbündete würden wir in den Staaten finden, in denen schon heute vom EU-Recht abgewichen wird. Es würde bei der regionalen Unterscheidbarkeit und der Vermarktung helfen, wenn man sagen könnte: Aus unserer Region garantiert gentechnikfrei! ({13}) Damit kein Zweifel aufkommt: Meine Skepsis gilt der Anwendung, nicht der Forschung. Ich befürworte die Forschung zuallererst aus Sicherheitsgründen; denn wir müssen wissen, womit wir umgehen. Wir müssen zudem erforschen, ob eine zweite oder dritte Generation gentechnisch veränderter Organismen weniger Risiken birgt und mehr gesellschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Ich bin zwar skeptisch, möchte es aber erforschen. Deswegen unterstütze ich eine Ausweitung der Forschung. Dann können wir gemeinsam erreichen, dass die Gentechnik wirtschaftlich nicht negativ, sondern positiv von der deutschen Landwirtschaft beurteilt wird sowie von den Verbraucherinnen und Verbrauchern akzeptiert wird. Das wünsche ich mir. Vielen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste hat das Wort die Kollegin Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kelber, hinsichtlich der Grünen Gentechnik und der Wahlfreiheit betreffend Erzeuger, Verarbeiter und Konsument müssen wir wohl noch ein bisschen üben. ({0}) Zur Sache: In meiner Heimat gibt es die Regionalbewegung „Alles“. Dieses Kürzel steht für „Artenreiches Land - Liebenswerte Stadt“. Die Botschaft dieser Bewegung lautet: Wir setzen auf eine Partnerschaft von Stadt und Land; Stadt und Land Hand in Hand. Übertragen auf die Politik der Union bedeutet das: Wir setzen auf alle Produktionsrichtungen und alle Betriebsformen, ob große oder kleine, ob ökologisch oder konventionell wirtschaftende Betriebe. ({1}) Wir unterscheiden nicht zwischen Gut und Schlecht. Gott sei Dank gehört damit die grüne Symbolpolitik der Vergangenheit an. ({2}) Es ist keine Schande, als deutscher Landwirtschaftsminister deutsche Interessen in Brüssel und den WTOVerhandlungen zielgerichtet und glaubwürdig zu vertreMarlene Mortler ten. Danke, sehr geehrter Herr Bundesminister, für Ihren Einsatz. ({3}) Sie erleben sicherlich genauso wie ich, dass das Globale in zunehmendem Maße bestimmt, was wir national noch machen dürfen. Unser Ziel muss aber eine umweltfreundliche, multifunktionale und flächendeckende Landwirtschaft bleiben. ({4}) Zum Haushalt: Es ist schon toll, wenn die, die noch vor kurzem auf der Regierungsbank saßen und bei der GAK 200 Millionen Euro gekürzt haben, jetzt von den Oppositionsstühlen aus die gleiche Summe wieder einfordern. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Höhn zulassen?

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die kann man im Anschluss beantworten. ({0}) - Nein, ich habe Herrn Trittin schon in ähnlicher Sache geantwortet. Fischer Boel ist aus meiner Sicht eine weise Frau. Sie hat erstens von Gesundheitscheck gesprochen und Sie hat davon gesprochen, dass die Bauern und Bäuerinnen Planungssicherheit bis 2013 haben werden und diese auch brauchen. So habe ich ihre Aussage interpretiert. Ich finde, es ist eine Ohrfeige für unsere Bauern und Bäuerinnen im Land, wenn Sie, liebe Frau Höhn, sagen, gerade den zukunftsweisenden Bauern seien Mittel gekürzt worden. Auch normal wirtschaftende Betriebe sind Zukunftsbetriebe. ({1}) In Bayern werden wir diese Lücke, die wir bei der zweiten Säule haben, mit viel Fantasie wieder schließen. ({2}) Wir sind auf gutem Weg. Passen Sie auf! Die gute Stimmung und die hohe Investitionsbereitschaft der Bauern und Bäuerinnen bedeuten für uns in der Regierung bzw. für uns Parlamentarier auch, weiter für Verlässlichkeit und für Planungssicherheit zu sorgen. Ich denke, der Spruch von Frau Fischer Boel „Raus aus den Büros und rein in die Felder“ ist ein guter Slogan. Nur, Anspruch und Wirklichkeit sind hier noch weit auseinander. Auch auf Bundesebene haben wir noch Verbesserungsbedarf. Ich merke auch kritisch an, dass im Bereich der Saisonarbeitskräfte die Grenze der Leidensfähigkeit vieler Betriebsleiter längst überschritten ist. Wir brauchen dringend eine Verbesserung der Eckpunkteregelung für 2007. ({3}) Die Biokraftstoffe der ersten Generation haben viele Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen. Wir dürfen die Biokraftstoffe der ersten Generation nicht abwürgen. Sie brauchen auch weiter eine faire Chance. ({4}) Deshalb halten wir uns die Zweiwegestrategie vor Augen; denn aus meiner Sicht ist die zweite Generation, von der viele so wundervoll reden, noch lange nicht lebensfähig. Der Verbraucher spielt in unserem Tun eine wichtige Rolle. Ich möchte kurz das Thema Ökolebensmittel aufgreifen. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass Ökolebensmittel ihre Reise um die halbe Welt antreten. ({5}) Für mich ist das ein wirklich großer Widerspruch. Darum setze ich im Gegensatz zur Bundesregierung auch weiterhin auf eine verpflichtende Herkunftskennzeichnung. ({6}) Der Verbraucher muss wählen können, woher sein Bioprodukt kommt. Ich komme zum Schluss. Was die landwirtschaftliche Unfallversicherung betrifft, so kann es nicht sein, dass die Beitragszahler von heute weiter die Versicherungsfälle von vorgestern bezahlen müssen. Ich setze auf eine schnelle und gemeinsame Lösung, die die Akzeptanz und vor allem die Finanzierbarkeit dauerhaft sichert.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Mortler.

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Begreifen wir Landwirtschaft als Zukunftsbranche. Die grünen Jobs sind Jobs mit Zukunftsperspektive. Die noch freien Ausbildungsplätze zeigen es. Ich danke Ihnen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/640, 15/5820 und 16/1442 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnis- ses 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/3010 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt 16/640 überwiesen werden. - Damit sind Sie einverstan- den. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 n und 30 p bis 30 t sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 6. Februar 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu- blik Kroatien zur Vermeidung der Doppelbe- steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/2955 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Jemen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 16/2861 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Auswärtiger Ausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. Juni 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Arabischen Republik Ägypten über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 16/2862 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Auswärtiger Ausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. und 20. April 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Islamischen Republik Afghanistan über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 16/2863 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 10. August 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Republik Timor-Leste über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 16/2864 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Auswärtiger Ausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Transparenzrichtlinie-Gesetzes - Drucksache 16/2952 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Eichgesetzes - Drucksache 16/2920 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Berufsaufsicht und zur Reform berufsrechtlicher Regelungen in der Wirtschaftsprüferordnung ({5}) - Drucksache 16/2858 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Verdienste und Arbeitskosten ({7}) - Drucksache 16/2918 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({8}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Versorgungsrücklagegesetzes - Drucksache 16/2855 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 14. März 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Franzö- sischen Republik über den Bau einer Eisen- bahnbrücke über den Rhein bei Kehl - Drucksache 16/2860 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung l) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen - Drucksache 16/2951

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO m)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Stasi-UnterlagenGesetzes - Drucksache 16/2969 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes - Drucksache 16/2919 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales p) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenabkommen vom 22. Juli 2005 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und zu der Verwaltungsvereinbarung vom 9. März 2006 zwischen dem Bundesministerium für Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland und dem Minister für Gesundheit und Solidarität der Französischen Republik über die Durchführungsmodalitäten des Rahmenabkommens vom 22. Juli 2005 über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich - Drucksache 16/2859 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({3}) Innenausschuss q) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Siebenter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik - 2005 - Drucksache 15/5960 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung r) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 2003/2004 sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 15/5790 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien s) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Ursula Lötzer, Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Keine Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt - Drucksache 16/2995 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung t) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Moratorium für PC-Gebühren - Sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages - Drucksache 16/3002 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 3 a)Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Mücke, Horst Friedrich ({8}), Patrick Döring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzes Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsprojekte - Drucksache 16/3008 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN PC-Gebühren-Moratorium verlängern - Drucksache 16/2793 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz c) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({11}), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetanschluss - Die Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren - Drucksache 16/2970 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Haushaltskonsolidierung konsequent anpacken - Haushaltsgesetzgebung reformieren - Drucksache 16/2998 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({13}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige Arzneimittel - Drucksache 16/3013 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf Drucksache 16/2969 - Tagesordnungspunkt 30 m - soll zur Federführung an den Ausschuss für Kultur und Medien und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Innenausschuss, den Sportausschuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Der Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3002 - Tagesordnungspunkt 30 t - mit dem geänderten Titel „Moratorium für PC-Gebühren - Sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages“ soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 s sowie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 31 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 23. Mai 1997 über die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Seegerichtshofs und zu dem Abkommen vom 14. Dezember 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Internationalen Seegerichtshof über den Sitz des Gerichtshofs - Drucksache 16/1288 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({14}) - Drucksache 16/2797 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Markus Meckel Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/2797, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ist damit mit dem einstimmigen Votum des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. März 1998 über die Vorrechte und Immunitäten der Internationalen Meeresbodenbehörde - Drucksache 16/1289 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({15}) - Drucksache 16/2798 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Markus Meckel Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/2798, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auflösung der Unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR - Drucksache 16/2256 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({16}) - Drucksache 16/2808 Berichterstattung: Abgeordnete Günter Baumann Maik Reichel Gisela Piltz Jan Korte Silke Stokar von Neuforn Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2808, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Weiterverwendung von Informationen öffentlicher Stellen ({17}) - Drucksache 16/2453 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({18}) - Drucksache 16/3003 Berichterstattung: Abgeordneter Martin Dörmann Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3003, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP und der Fraktion Die Linke. Gegenstimmen gab es keine. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Diejenigen mögen sich erheben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor angenommen worden. Tagesordnungspunkt 31 e: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. September 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Belarus zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/2705 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({19}) - Drucksache 16/2992 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({20}) Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache 16/2992, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 1. Dezember 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Kirgisischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/2706 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 16/2994 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({1}) Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache 16/2994, den Gesetzentwurf anzunehmen. Es mögen sich diejenigen erheben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 g: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Slowenien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/2707 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 16/2993 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({3}) Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache 16/2993, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte wiederum diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Umsetzung der Ratsentscheidung vom 19. Dezember 2002 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren für die Annahme von Abfällen auf Abfalldeponien - Drucksachen 16/2580, 16/2680 Nr. 1.1, 16/2839 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Eva Bulling-Schröter Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf der Drucksache 16/2839, der Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linksfraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und bei Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 31 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 92 zu Petitionen - Drucksache 16/2763 Wer stimmt der Sammelübersicht zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der Linksfraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 98 zu Petitionen - Drucksache 16/2764 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 99 zu Petitionen - Drucksache 16/2765 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 31 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 100 zu Petitionen - Drucksache 16/2766 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der Linksfraktion bei Zustimmung des übrigen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 31 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 101 zu Petitionen - Drucksache 16/2767 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 102 zu Petitionen - Drucksache 16/2768 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der Linksfraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 31 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 103 zu Petitionen - Drucksache 16/2769 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 31 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 104 zu Petitionen - Drucksache 16/2770 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen worden. Tagesordnungspunkt 31 q: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 105 zu Petitionen - Drucksache 16/2771 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 31 r: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 106 zu Petitionen - Drucksache 16/2772 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 106 ist mit den Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 31 s: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 107 zu Petitionen - Drucksache 16/2773 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 4: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth ({16}), Hans-Josef Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes ({17}) - Drucksache 16/961 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18}) - Drucksache 16/2880 Berichterstattung: Abgeordnete Josef Göppel Dirk Becker Eva Bulling-Schröter Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 16/2880, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion und bei Gegenstimmen des Rests des Hauses. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Neue Armut in Deutschland - Die aktuelle Diskussion um so genannte Unterschichten Als erste Rednerin rufe ich Katja Kipping für die Fraktion der Linken auf. ({19})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die soziale Ausgrenzung, die wir alle bedauern, ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern wurde von Wirtschaft und herrschender politischer Klasse in den letzten Jahren massiv befördert. ({0}) Sie waren es doch, die mit der Erleichterung von Minijobs die Ausweitung des Niedriglohnsektors massiv vorangetrieben haben! Sie waren es doch, die mit Steuererleichterungen für Reiche und Unternehmen auf der einen Seite und mit Leistungskürzungen für die Armen auf der anderen Seite eine Umverteilung in großem Umfang vorangetrieben haben! Nur war das leider eine Umverteilung von unten nach oben. ({1}) Da Wirtschaft und Politik die soziale Ausgrenzung selber zu verantworten haben, sind sie jetzt auch in der Pflicht, dagegen vorzugehen. ({2}) Herr Müntefering äußerte im Rahmen der Debatte um die so genannte Unterschicht, man müsse zu den Erwerbslosen auch einmal sagen: Ihr müsst euch anstrengen! Ein solcher Satz erweckt den Eindruck, als ob der fehlende Antrieb bei den Erwerbslosen die Ursache für die Massenarbeitslosigkeit sei. Als ob fünf Millionen offene Stellen in diesem Land darauf warten, dass sich jemand bewirbt! Das Gegenteil ist doch leider der Fall. Heute ist das Problem doch: Selbst die Bereitschaft, alles, aber auch wirklich alles für einen Job zu tun, hilft nur noch in den seltensten Fällen weiter. ({3}) Erst kürzlich kam ein Erwerbsloser zu mir in die Sprechstunde, der wirklich bereit war, alles zu tun. Er war auch bereit, fünf Tage auf dem Bau mit Überstunden Probe zu arbeiten - und das Ganze kostenlos. Das Ende vom Lied war, dass er nach den fünf Tagen des kostenlosen Probearbeitens nach Hause geschickt wurde, damit sein Chef den nächsten Erwerbslosen für fünf Tage kostenloses Probearbeiten anstellen kann. ({4}) Die Bereitschaft, alles, aber auch wirklich alles für einen Job zu tun, führt in der Praxis leider dazu, dass die Leute immer mehr und immer stärker ausgebeutet werden. Ich glaube, an diesem Punkt müssen wir etwas tun. ({5}) Insofern sollten wir mit einer Ideologie nach dem Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“ vorsichtig sein. Eine solche Ideologie verschleiert nur den Blick auf die wirklichen, auf die strukturellen Ursachen von Verelendung und Massenarbeitslosigkeit. Gestern im Ausschuss bekam ich von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP zu hören, Geld allein sei nicht alles. Ja, das stimmt, Geld allein ist nicht alles, aber ganz ohne Geld ist alles andere auch nichts. ({6}) Spätestens dann, wenn man am Ende des Monats nicht einmal mehr Geld hat, um sich eine Fahrkarte zu leisten, um zum Erwerbslosentreff zu fahren, schlägt materielle Armut in soziale Ausgrenzung um. Deswegen sind wir gefordert, mehr Geld in die Hand zu nehmen. ({7}) Deswegen brauchen wir endlich eine soziale Grundsicherung in diesem Land, die wirklich für alle Menschen Teilhabe gewährleistet. Das, meine Damen und Herren, sind wir der Demokratie schuldig. ({8}) Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sagen immer, dass Armut vor allem ein Bildungsproblem ist. ({9}) Hier möchte ich Sie gern beim Wort nehmen. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Kümmern wir uns um folgende drei Projekte! Nehmen wir folgende drei Projekte gemeinsam in Angriff: Erstens. Die Kommunen müssen immer stärker sparen. Sie sparen unter anderem, indem sie Kindern von Erwerbslosen den Anspruch auf einen Kitaplatz verweigern. Was bedeutet das in der Praxis? In der Praxis heißt das, dass diese Kinder von klein an das Gefühl des Ausgeschlossenseins erleben, dass sie von der Bildungsinstitution Kindertagesstätte abgeschnitten werden. Von daher sollten wir uns dafür einsetzen, dass es bundesweit für alle Kinder, gerade und besonders für die Kinder von Erwerbslosen, einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz gibt. ({10}) Zweitens. Immer mehr Kinder gehen ohne ein vollwertiges Frühstück in die Schule. Infolgedessen lässt ihre Lernfähigkeit tatsächlich nach. Mangelhafte Ernährung wirkt sich nämlich negativ auf die Konzentration aus. Ein kostenloses Mittagessen in der Schule für alle, das wäre ein Ansatzpunkt, um nicht nur der Fehlernährung, sondern auch der sozialen Spaltung in der Schule entgegenzuwirken. ({11}) Drittens. Die frühe Aufteilung in Haupt-, Realschule und Gymnasium benachteiligt vor allem Kinder aus den armen Familien. Werben wir in den Ländern also für Gesamtschulen! Denn Skandinavien zeigt: Längeres gemeinsames Lernen kann gleichzeitig den Lernstarken und den Lernschwachen helfen. ({12}) Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie nur die Hälfte Ihrer Betroffenheit über soziale Ausgrenzung ernst meinen, dann müssen Sie zu einem grundlegenden Kurswechsel in der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik bereit sein. Wer aber nicht bereit ist, über einen grundlegenden Kurswechsel auch in der Wirtschaftspolitik zu reden, der sollte über die angebliche Antriebsschwäche bei der so genannten Unterschicht lieber schweigen. Besten Dank. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat - nach ihrer eigenen Veröffentlichung - versucht, herauszufinden, welche Wertepräferenzen in der Bevölkerung vorliegen und welche Zuordnungen zu politischen Typen diese Präferenzen erlauben, und hat dabei einen Typus ausgemacht, der von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen geprägt ist. Das ist das, worum es eigentlich ging. Bei den Problemen, die dabei beschrieben werden, haben wir es nicht nur und nicht in erster Linie mit zu wenig finanziellen Leistungen des Staates zu tun, sondern mit kultureller Armut, mit einem Mangel an Bildung, an Perspektiven, an sozialer Anbindung, an eigenem Antrieb und an Leistungsbereitschaft. Deswegen wird in dieser Studie auch von einem Prekariat und nicht etwa von „Unterschicht“ gesprochen. Ich glaube, dass der Bundesarbeitsminister Recht hat, wenn er feststellt: Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Das hat es schon immer gegeben. - Wahr ist jedoch, dass die Unterschiede in den letzten Jahren in vielen Bereichen größer geworden sind. Das muss uns zu denken geben. Deswegen ist es richtig, dass wir in dieser großen Koalition daran arbeiten, die Probleme zu lösen. Wir sind dankbar für alle Daten und Fakten, die wir in diesem Zusammenhang bekommen, um die Probleme auch angehen zu können. Was wir allerdings heute hier mit dieser Aktuellen Stunde erleben, in deren Titel von „neuer Armut“ und „so genannten Unterschichten“ die Rede ist, trägt nun überhaupt nicht dazu bei, uns neue Fakten zu liefern. Im Gegenteil, es ist der Versuch, zu vernebeln, zu täuschen und Ursachen und Wirkungen durcheinander zu bringen. Das werden wir nicht mitmachen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({0}) Von den Linken wird hier groß herausgestellt, dass das Problem besonders in den neuen Bundesländern bestehe. Wahr ist, dass das ein Problem ist, das wir gemeinsam zu lösen haben. Nur, diejenigen, die 40 Jahre lang mit eiserner Knute ({1}) die Probleme, die jetzt hier kritisiert werden, herbeigeführt haben und die zum Teil noch heute in den Ländern regieren, sind die Brandstifter, die sich jetzt zur Feuerwehr aufspielen. Deshalb sind Sie mit Ihren Äußerungen völlig schief gewickelt. ({2}) Sie müssten sich für die Zahlen gerade in den neuen Ländern schämen. ({3}) Lassen Sie mich auf die Diskussion über den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht am 2. Juni 2005 hier in diesem Hause zurückkommen. Der Kollege Kurth hat in dieser Debatte zu Recht festgestellt, dass es zwischen 1998 und 2003 zu einer Zunahme der Armutsquote gekommen ist. Das ist leider wahr, Herr Kollege Kurth. Wer in dieser Zeit regiert hat, ist uns genauso bekannt wie Ihnen. In dem Zusammenhang von „neuer Armut“ zu sprechen, ist pure Heuchelei. Wir haben es mit Problemen zu tun, die wir lösen müssen, deren Ursachen aber weit zurückliegen und lange bekannt sind. Das hat mit neuer Armut überhaupt nichts zu tun. Deswegen ist es völlig unangebracht, dass Sie damit ein politisches Süppchen kochen wollen. ({4}) Insbesondere ist es völlig unangebracht, hier jetzt einen Zusammenhang mit angeblichem sozialen Kahlschlag durch Hartz IV herzustellen. Die Hartz-IVReform ist ausdrücklich durchgeführt worden, um den früheren Sozialhilfeempfängern dieselben Arbeitsmarktinstrumente und dieselbe professionelle Betreuung zukommen zu lassen wie bis dahin nur den Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. ({5}) Das war damals unsere gemeinsame Absicht. Da waren Sie als Grüne im Übrigen dabei; es ist schade, dass Sie das so schnell vergessen haben und sich von dem verabschiedet haben, was wir uns damals gemeinsam als Fördern und Fordern vorgenommen haben. ({6}) Angesichts der Entwicklung, dass wir nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Jahr 2005 5 Milliarden Euro mehr für die Menschen ausgeben und dass bei deutlich sinkender Arbeitslosigkeit die Ausgaben weiter steigen, und zwar nicht für irgendwelche Verwaltungskosten, sondern direkt für die Menschen, ist es absolut polemisch, hier von sozialem Kahlschlag zu reden. Das ist entschieden zurückzuweisen. Wir sind mit dem, was wir in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik machen, auf dem richtigen Weg. ({7}) Das ist genau das, was man machen muss, wenn man den Menschen helfen will. Wir dürfen nicht die Menschen, um die es geht, abschieben. Es ist ein Teil unseres christlichen Menschenbildes, unseres christlichen Verständnisses vom Menschen, die Menschen, die Hilfe brauchen, nicht abzuschieben, sondern anzunehmen. Dieser Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht nur über bessere Bildung und mehr Arbeitsplätze. ({8}) Das ist das, was wir uns hier vorzunehmen haben. Die vielen Fehler, die in der Bildungspolitik gerade von den grünen Bildungsideologen gemacht worden sind, haben doch dazu beigetragen, dass wir in vielen Bundesländern die nun bestehenden Probleme haben. Schauen Sie sich doch in der PISA-Studie die Ergebnisse der von Ihnen verantworteten Bildungspolitik an! ({9}) Bei der Bildungspolitik, bei der frühkindlichen Bildung muss angesetzt werden. Außerdem geht es um mehr Arbeit. Wir sind froh, dass wir in dieser Bundesregierung heute feststellen können, dass es fast eine halbe Million Arbeitslose weniger als vor einem Jahr gibt ({10}) und dass ein Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu verzeichnen ist. Mit unseren Arbeitsmarktreformen arbeiten wir daran, auf diesem Weg weiterzugehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit sind wir auf dem richtigen Weg und damit werden wir den Menschen, um die es hier geht, helfen. Nicht mit Vernebelungsdebatten und irgendwelchen Unterschichtsbegriffen, sondern mit konkreten Maßnahmen, wie wir sie schon durchgesetzt haben und weiterhin, zur Not auch gegen den Widerstand der Opposition, durchsetzen werden, werden wir helfen, die Probleme, die mit dieser Studie aufgezeigt worden sind, zu beseitigen. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Sie so höre, Herr Brauksiepe, dann scheint Ihre Welt ja in Ordnung zu sein und es gibt keine Probleme. ({0}) Aber es ist anders, wie man feststellt, wenn man genau hinschaut. Wir wissen - das ist kein Phänomen, das der Herr Beck entdecken musste - seit den Armutsberichten 2001 und 2005, dass die Armut in Deutschland zunimmt, ({1}) dass die Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland zunimmt, dass insbesondere der Prozess, dass Kinder ein spezifisches Armutsrisiko sind, nicht gestoppt ist. In Berlin, wo die PDS regiert, leben 37 Prozent der Kinder laut Aussage des Deutschen Kinderschutzbundes in Armut. Ich sehe bei Ihnen auch nicht im Ansatz eine Sozial- und Wirtschaftspolitik, die diese Defizite ausgleichen könnte. ({2}) Man muss verstehen - dieser Punkt ist genauso wichtig -, dass die Armut heute mit unterschiedlichen Verteilungsfragen verschränkt ist. Es geht also um Einkommen und Zugangsmöglichkeiten. Armut besteht aus Bildungsarmut und aus mangelnden Zugangsmöglichkeiten und Chancen. In diesem Zusammenhang hilft die Klassifizierung „Unterschicht“ nicht weiter; denn mit diesem diskriminierenden Begriff werden die Armen noch weiter ausgegrenzt. Ich glaube, wir haben in der deutschen Sprache mit dem Begriff der Armut eine deutliche Bezeichnung. Auch der Begriff „Prekariat“ hilft nicht wirklich weiter. Denn die verwendeten Begriffe sollten von denen verstanden werden, um die es geht. ({3}) Hartz IV ist nach meiner Überzeugung nicht die Ursache dieser neuen Armut. ({4}) Hartz IV ist vielmehr ein Versuch, auf diese neue Armut zum Teil eine Antwort zu geben. ({5}) Dieser Versuch - das sage ich an die Adresse der PDS, auch wenn es Ihnen nicht gefällt - ist zum Teil gelungen. Zum Beispiel hat gestern der Generalsekretär von Caritas, Georg Cremer, deutlich gesagt - das können Sie nachlesen -, dass mit Hartz IV die verdeckte Armut deutlich reduziert werden konnte. ({6}) Es war ein wichtiger Punkt, dass das Einkommen von Sozialhilfeempfängern und von Menschen, die trotz Arbeit weniger Geld als das Sozialhilfeniveau hatten, durch die Hartz-IV-Gesetzgebung verbessert worden ist. Das Gleiche gilt auch für ihre Möglichkeiten für den Zugang zum Arbeitsmarkt. ({7}) Ich halte überhaupt nichts davon, wenn man diesen Teil der Wahrheit ausblendet, nur um - wie die Kolleginnen und Kollegen von der PDS - eine einfache Antwort zu finden. ({8}) - Ganz ruhig! Durch Ihr Geschrei werden Ihre Argumente nicht wahrer. Das ist einfach so. ({9}) Ein zweiter Punkt. Es gibt bei der Hartz-Gesetzgebung ein Grundversprechen, zu dem sich alle vor Jahren, als dieses Thema im Vermittlungsausschuss behandelt wurde, bekannt haben. Damals hieß es, dass die Kürzungen bei Arbeitslosenhilfeempfängern, die gut verdient hatten - in diesem Bereich gab es in der Tat Kürzungen -, nur dann zu verantworten sind, wenn es bessere Möglichkeiten für den Zugang zum Arbeitsmarkt gibt, wenn also das Fördern ein elementarer Bestandteil der gesamten Hartz-Gesetzgebung ist. Das war die Basis, auf der wir im Vermittlungsausschuss die Verhandlungen abgeschlossen haben. ({10}) An die Adresse der Regierung, also an den anwesenden Staatssekretär, und an die Kollegen Fraktionsvorsitzenden von SPD und CDU/CSU, die lieber heute Abend im Fernsehen diskutieren als jetzt im Parlament, ({11}) sage ich: Sie stehen auf der Bremse, wenn es um das Fördern geht. Sie haben das Fördern zur Sparkasse der Bundesagentur für Arbeit gemacht. Durch die Haushaltssperre sind die Eingliederungstitel um 900 Millionen Euro gekürzt worden. Vor Ort fehlt dieses Geld für Qualifikationsmaßnahmen, für Eingliederungsmaßnahmen und für Maßnahmen, die für das Fördern wichtig sind. Sie sind beim Fordern stark gewesen, aber beim Fördern sind Sie abgestürzt. Auch das ist ein Grund dafür, dass sich die Lage jetzt verschlechtert. ({12}) Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, zwischen September 2005 und September 2006 ist zwar die Arbeitslosigkeit zurückgegangen, aber der Anteil der Menschen, die von Dauerarbeitslosigkeit betroffen sind, ist von 37,4 Prozent auf 42,2 Prozent gestiegen. ({13}) Das ist ein Grund, beim Fördern endlich von der Bremse zu gehen und den Menschen zu helfen, die dauerarbeitslos sind, und zwar mehr, als es diese Regierung derzeit tut. ({14}) Ein letzter Punkt. Wenn wir diese Debatte über Armut ernst nehmen wollen - wir müssen sie nun endlich führen -, dann müssen wir damit aufhören, die Menschen, die in Armut und in Dauerarbeitslosigkeit leben oder die Probleme mit ihren Kindern haben, noch zusätzlich durch diese leidige Missbrauchsdebatte zu diskriminieren, die vor allem von der Union - aber auch die SPD nimmt sie auf - immer wieder geführt wird. ({15}) Ich sage Ihnen klipp und klar: Solche Sprüche wie die von Herrn Müller von der CSU, der nachher noch reden wird, die dem Muster folgen, man solle einen Zwangsdienst für Arbeitslose einrichten, und auch solche Sprüche von Herrn Tiefensee über den Einsatz von Arbeitslosen in der S-Bahn und U-Bahn haben keine andere Wirkung als die, dass man auf die Schwierigkeiten, die Dauerarbeitslose sowieso schon haben, noch eines draufsetzt. Man sagt damit nämlich nichts anderes als: Da ihr Missbrauch treibt, seid ihr eigentlich selber schuld an dem Schicksal, das ihr jetzt beklagt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Vorschläge, die die Union jetzt gemacht hat, bedeuten nichts anderes als: Die Leute wollen überhaupt nicht arbeiten. Man muss ihnen jetzt durch Kürzungen auf die Sprünge helfen. - Wir halten das für grottenfalsch. Das ist eine zusätzliche Diskriminierung. Ich sage zum Abschluss: Wer den Armen durch Missbrauchsdebatten auch noch ihre Würde nimmt, der macht aus Armut Elend. Dann wird es noch viel schlimmer. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde diese Diskussion sehr gut. ({0}) Ich kann die Feststellung, dass wir über gesellschaftliche Probleme diskutieren, die nicht neu sind, ausdrücklich unterstreichen. Es ist gut, darüber zu diskutieren und zu versuchen, richtige Wege zu finden, um für die Menschen Abhilfe zu schaffen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat bei rund 3 000 Personen eine Untersuchung vorgenommen. Solche Untersuchungen sind nicht neu. Mit ihnen wird versucht, politische Werte und Einstellungen herauszubekommen und sie zu klassifizieren. Ähnliche Untersuchungen gab es Anfang der 90er-Jahre, zum Beispiel die Sinus-Studie. Jeder erinnert sich auch an die wunderbare Debatte über den Hedonismus in Deutschland und bestimmte Beteiligte, die besonders gern dem Hedonismus frönten. Dass es Unterschichten gibt, ist eine ganz alte Tatsache. In früheren Untersuchungen hießen sie anders, zum Beispiel Arbeitermilieu. Bei Karl Marx und anderen kann man etwas über das Lumpenproletariat lesen. Das eigentliche Problem besteht meines Erachtens darin, dass man sich damit auseinander setzen muss, dass es diese Gruppe in unserer Gesellschaft gibt. ({1}) Dass diese Gruppe wächst, ist überhaupt nicht zu bestreiten. Sie definiert sich nicht nur durch nicht so hohe Einkommen, sondern auch durch eine Reihe anderer Positionen, mit denen man sich auseinander setzen muss und die bei einer politischen Konzeption eine Rolle spielen müssen. Deswegen sind Kurzschlussargumentationen - das sei wegen Hartz IV so, das läge an der Politik der Regierung Schröder oder an den beiden Armutsberichten und der darin nachzulesenden Entwicklung der Quote, an der man ja sehe, wer die Verantwortung dafür trage - ganz billige Debatten. ({2}) Damit versucht jeder, sein eigenes Süppchen zu kochen. Was ist eigentlich die Aufgabe, vor der wir stehen? ({3}) Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist mit den Stichworten Teilhabe und Chancengerechtigkeit gekennzeichnet. ({4}) Es geht um die Frage: Wie realisiere ich Teilhabe und wie organisiere ich Chancengerechtigkeit? ({5}) Die Problemlage ist komplizierter und vielfältiger. Das ist eine Folge der lang anhaltenden Arbeitslosigkeit, und zwar nicht erst seit der Zeit der letzten Regierung. Wer ehrlich darüber diskutiert, weiß, dass uns das Problem schon seit den 70er-Jahren bewegt. Jeder kann sich je nach Regierungsbeteiligung selbst ein Stückchen Schuld zuschreiben. Denjenigen, die mit einfachen Rezepten daherkommen und zum Beispiel sagen, man müsse das ALG II doch nur um 20 Prozent erhöhen, sei gesagt: Das ist zwar schöner Populismus, aber das hilft nicht. ({6}) Ich finde, wir als Regierung haben unsere Verantwortung sowohl in den letzten Legislaturperioden als auch in der jetzigen Legislaturperiode wahrgenommen. Es geht nämlich darum, etwas zu tun, um Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Das heißt, wir müssen ihnen den Weg in den Arbeitsmarkt öffnen. Mir muss keiner erzählen - auch nicht Oskar Lafontaine -, dass wir gegenwärtig zu wenig Arbeitsplätze haben. Das weiß selbst die Bundesregierung; Sie werden es nicht fassen. Man kann Menschen aber nur in den Arbeitsmarkt bekommen, wenn auch Arbeitsplätze vorhanden sind. ({7}) An dem Prinzip „Fördern und Fordern“ ändert das jedoch überhaupt nichts. Das ist in einer solchen Situation wie der jetzigen völlig richtig. ({8}) Wenn man dieses Prinzip umsetzen will, muss man berücksichtigen, dass damit viele Faktoren zusammenhängen, die ich jetzt nicht im Einzelnen darlegen kann. Aber im Gegensatz zu den Jahren 2001, 2002 und 2003 werden wir in diesem Jahr voraussichtlich eine Wachstumsrate von 2,3 Prozent haben. Für das nächste Jahr wird eine Wachstumsrate von 1,4 Prozent prognostiziert. Dass damit ein Beschäftigungszuwachs einhergeht, merkt wohl jeder. Selbst die PDS muss merken, dass es mehr Beschäftigung gibt. ({9}) Dass die Zahl der offenen Stellen zunimmt, müssen auch Die Linke und die PDS merken. Es besteht die Chance, hier etwas zu bewegen. Im Februar 2006 waren mehr als 5 Millionen Menschen arbeitslos. Jetzt sind es 4,2 Millionen Menschen. Man muss sich ferner über den Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit Gedanken machen. ({10}) Es geht hier nicht um diejenigen, die ein Jahr arbeitslos sind. Es gibt Gruppen, die teilweise sehr viel länger arbeitslos sind. ({11}) Diesen Menschen muss man spezielle Hilfen anbieten und ihnen einen Weg aufzeigen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Sie sollen nicht auf Dauer irgendwo verwahrt werden, sondern Beschäftigung finden. Dieser Ansatz hebt sich deutlich von Ihrer Forderung nach einem flächendeckenden öffentlichen Beschäftigungsmarkt ab; das will ich Ihnen ganz klar sagen. ({12}) Sie folgen der Melodie: Wir machen ganz viele Programme. - Das haben wir schon probiert. Jetzt diskutieren wir darüber, wie wir mit speziellen Programmen weiterhelfen können. Wir müssen Programme für Kinder und Jugendliche auflegen. Dabei geht es in erster Linie um Bildungschancen. ({13}) Es geht um den Kindergartenbesuch. Es geht darum, die Kinder und Jugendlichen aus diesen Bevölkerungsgruppen so früh wie möglich anzusprechen, um eine Einmauerung in ein bestimmtes Milieu oder eine bestimmte Situation zu verhindern. ({14}) Die Regierung stellt bis 2007 4 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen zur Verfügung. Wir haben ein ganz neues Konzept für den Umgang mit Betreuung. Durch Geschlechtergerechtigkeit muss Chancengleichheit geschaffen werden. Dass wir viel dafür tun müssen, dass Frauen Kinder haben können, ohne die Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verlieren, gehört genauso dazu. Für mich gehört auch dazu - wir brauchen nicht die PDS, um das zu erkennen -, ({15}) dass wir dafür sorgen müssen, dass Menschen vernünftig entlohnt werden. ({16}) Ich weiß, dass das ein ganz schwieriges Thema ist. Es ist nicht so einfach, wie es den Anschein macht, wenn Sie es hier platt vortragen. Die Koalition setzt sich gegenwärtig mit den Fragen auseinander, wie besonders schwer zu vermittelnde Gruppen gefördert werden können und wie Beschäftigungsmöglichkeiten für sie geschaffen werden können. Sie befasst sich ferner - das ist ein ganz wichtiges Thema, das mit dazugehört - mit der Beschäftigungssituation Älterer; hier will man fördernd einwirken. Wir müssen auch in den Bereichen der Jugendarbeitslosigkeit und der Bildung und Berufsausbildung junger Menschen etwas tun. All das gehört für mich dazu. ({17}) Der Titel der Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben, lautete ursprünglich: Die Entdeckung der Unterschichten durch die politische Klasse. Donnerwetter! Wie einfach die Welt doch sein kann, wie schön man sie sich malen kann! ({18}) Dazu fällt mir eigentlich überhaupt nichts mehr ein. Es geht um plumpen Populismus. ({19}) Sie sagen einfach: Hartz ist schuld. Erhöht den Benefit, dann ist alles erledigt! - Frau Kipping, darüber haben wir gestern im Ausschuss diskutiert. Man kann doch nicht einfach sagen: Ihr müsst nur die Sozialtransfers erhöhen, dann ist alles bestens. Legt beim ALG II etwas drauf und woanders auch noch. - Wir haben doch das Kindergeld erhöht. ({20}) Eine plumpe Diskussion darüber, dass die ALG-IISätze und die Sozialhilfesätze nicht ausreichen, hilft nicht weiter. Wir sind der Auffassung, dass die Sätze ausreichend hoch sind und dass es nicht darum gehen kann, einfach zu fordern, dass sie erhöht werden. Für genauso verfehlt halte ich allerdings die Vorstellung, man könne dem Problem durch simple Kürzungen beikommen. ({21}) Ich denke, hier muss es darum gehen, eine ganz kluge Politik zu machen und den Versuch zu unternehmen, sich den Problemen zu stellen. Ich glaube nicht, dass man einfach antreten und sagen kann, man könne diese Probleme abschaffen. Ich bin auch weit davon entfernt, zu sagen, jeder sei seines Glückes Schmied. Das wäre verrückt. Jedem bieten sich die gesellschaftlichen Möglichkeiten. Ein bisschen muss man sich aber selbst anstrengen und bewegen. Das zu fördern und zu entwickeln, ist Kernphilosophie dessen, was wir als aktivierenden Sozialstaat bezeichnen. Jeder soll Hilfe erhalten, um seine Situation durch Erwerbsarbeit, durch Teilhabe an Bildung und durch entsprechende Maßnahmen selbst zu verbessern. Wer sich so an der Diskussion beteiligt, der hilft, für Deutschland einen vernünftigen Weg zu finden. Schönen Dank. ({22})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die hier benutzte Terminologie belegt, dass ein großer Teil der Debatte tatsächlich purer Populismus ist. Liberale unterscheiden die Menschen nicht in Schichten oder Klassen. ({0}) Wir haben die Vorstellung von einer liberalen Bürgergesellschaft, in der jeder Bürger die gleichen Rechte hat und die gleichen Startchancen bekommen muss. ({1}) In dieser Bürgergesellschaft gibt es Stärkere und Schwächere. Das muss man auszugleichen versuchen, ohne in Gleichmacherei zu verfallen. ({2}) Ich habe die Zwischenrufe vonseiten der PDS gehört. Ich bin mit Sicherheit niemand, der Sippenhaft unterstützt, und würde das Zitat auch nicht wiederholen, wenn es nicht von einem Mitglied eines Landesvorstandes Ihrer Partei - Ihrer Frau, Herr Lafontaine - stammen würde. Frau Müller sprach von der „Reproduktion des asozialen Milieus“. Das zeigt Ihre wahre Wertschätzung derjenigen, für die Sie hier vermeintlich sprechen. ({3}) Dass die Grünen sich dieser Debatte anschließen, wirft ein bemerkenswertes Licht auf den Zustand Ihrer Fraktion, Herr Kuhn. Aber sei es drum. Wir diskutieren hier im Kern über den Fluch der falschen Tat: Armut in Deutschland ist das Ergebnis falscher Politik. Der Armut in Deutschland liegt nicht nur die Antriebsschwäche Einzelner zugrunde, sondern eine dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, gegen die gesetzgeberisch weder von der letzten Regierung noch von dieser Regierung das Richtige unternommen wurde. Das ist das Grundproblem. ({4}) Die Bundesrepublik leistet sich ein Sozialbudget in Höhe von 696 Milliarden Euro. Je mehr Aufgaben der Staat an sich zieht, desto mehr Menschen werden vom Staat abhängig. Je mehr Menschen in die Abhängigkeit des Staates geraten, desto mehr Menschen verlieren ihre Antriebsfähigkeit und versuchen oftmals gar nicht mehr, sich aus ihrer depressiven Situation zu befreien. Walter Wüllenweber vom „Stern“ schreibt in dieser Woche: Mit mehr Sozialknete kann man die Benachteiligung nicht wirksam bekämpfen. Bekäme jede arme Familie 200 oder 300 Euro mehr Stütze im Monat, würden sich dadurch ihre Aussichten auf einen Job, auf ein selbstbestimmtes Leben, auf bessere Aufstiegschancen ihrer Kinder keinen Millimeter verbessern. ({5}) Damit hat Walter Wüllenweber Recht. Es geht nicht um das weitere Verteilen von Staatsknete. Die Konzepte der vergangenen Jahrzehnte waren bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit offenkundig nicht erfolgreich. Es geht darum, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der es den Menschen ermöglicht, durch eigene Arbeit Teilhabe an der Gesellschaft zu haben. Deswegen ist die FDP die Partei der sozialen Verantwortung. ({6}) Wir wollen eine Politik gestalten, die es den Menschen ermöglicht, durch ihrer eigenen Hände Arbeit wieder an dieser Gesellschaft teilhaben zu dürfen. Wir brauchen eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, ein Steuersystem, das den Menschen und den Betrieben mehr Geld vom Selbstverdienten übrig lässt, und ein Arbeitsrecht, das Beschäftigung ermöglicht und nicht verhindert. Genau das Gegenteil hat die rot-grüne Bundesregierung gemacht und die schwarz-rote Bundesregierung tut nichts, um diese Missstände zu beheben. Wenn bei dieser vermeintlich großen Koalition Stillstand herrscht, ist das vermutlich das Beste, was für die Bürger erreicht werden kann. ({7}) Wir brauchen eine Veränderung der Schwerpunktsetzung hinsichtlich dessen, was der Staat zu finanzieren hat. Das heißt, wir müssen, wie es die Landesregierung in Baden-Württemberg macht, weit mehr für frühkindliche Bildung tun. Es geht um Sprachförderung und nicht nur um die Frage, ob man die deutsche Sprache beherrscht. Es geht auch um die rechtzeitige Erkennung von Sprachentwicklungsverzögerungen. Im Haushalt des Landes Baden-Württemberg haben wir Mittel zur Verfügung gestellt, die eingesetzt werden, um Sprachdefizite bereits im vierten Lebensjahr zu erkennen, sodass die Kinder beim Eintritt in die Grundschule gleiche Startchancen haben. ({8}) - Das ist richtig. Die dortige Regierung, an der die FDP beteiligt ist, ist hervorragend. Jedes Jahr verlassen 80 000 Schülerinnen und Schüler unser Bildungssystem ohne Abschluss. Selbst Arbeitgeber, die in ihren Betrieben Ausbildungsplätze anbieten, müssen oftmals feststellen, dass die Bewerber keine hinreichende Ausbildungsfähigkeit vorweisen können. Dieses Problem können Sie nicht wegdiskutieren. Davon erfahren Sie, wenn Sie Betriebe besuchen, egal in welcher Region und Branche. Unser Ansatz muss also sein, einerseits die 696 Milliarden Euro, die für Sozialleistungen zur Verfügung stehen, sinnvoller einzusetzen als nach dem Prinzip Gießkanne, wie es bisher der Fall war. Wir müssen einen größeren Teil dieser Mittel in Bildung, insbesondere in frühkindliche Bildung, investieren. Andererseits müssen wir diejenigen, die ihre Antriebskräfte verloren haben, motivieren, sich wieder einzubringen. Es darf nicht sein, dass sie sich in einer sozialen Hängematte ausruhen. ({9}) Vielmehr sollte unser Sozialsystem als Netz fungieren, das jeden, der hineinfällt, wie ein Trampolin zum Mitmachen in unsere Gesellschaft katapultiert. ({10}) Die Anreize müssen anders gesetzt werden. Wir fordern ein Bürgergeldsystem, eine Kombination aus Steuer- und Transfersystem: Diejenigen, die genug Geld verdienen, sollen Steuern zahlen, und diejenigen, die nicht genug Geld verdienen, sollen im Rahmen einer negativen Einkommensteuer die notwendige Unterstützung erhalten. Das ist ein wegweisender Vorschlag, der über all das, was hier bisher angesprochen worden ist, hinausgeht. Vergessen Sie Ihren Populismus! ({11}) Legen Sie Ihre Rezepte von vorgestern in die Schublade zurück! Machen Sie eine Politik, die den Menschen in diesem Land Chancen eröffnet! Das wäre der richtige Weg. Vielen herzlichen Dank. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Stefan Müller für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die wir heute führen, ist sehr bemerkenswert. Sie wurde durch eine Studie der Friedrich-EbertStiftung mit dem Titel „Gesellschaft im Reformprozess“ ausgelöst, in der es eigentlich überhaupt nicht um das Thema Armut, sondern um die Reformbereitschaft der Deutschen geht. In dieser Untersuchung wird versucht, bestimmte Gesellschaftsgruppen daraufhin zu identifizieren, ob sie in Zukunft SPD wählen oder nicht. So könnte man den Inhalt dieser Studie auf den Punkt bringen. ({0}) Über den Inhalt dieser Studie kann man streiten. Letztlich müssen ihn allerdings ihre Adressaten bewerten. Der Begriff „neue Armut“, um den es in dieser Aktuellen Stunde geht, erweckt den Eindruck, als liege eine gänzlich neue Erkenntnis vor, als hätte man dieses Thema bzw. die soziale Frage insgesamt neu entdeckt. Ich möchte uns alle zunächst einmal auffordern, den Begriff „Unterschichten“ nicht zu verwenden, und zwar ganz einfach deswegen, weil er die Betroffenen - wir alle kennen sie und können sie identifizieren - stigmatisiert. ({1}) Immerhin, Herr Kuhn, haben Sie zugegeben, dass diese Debatte auch für die Grünen nicht ganz neu ist. Als ich mich vorhin im Internet auf der Homepage Ihrer Fraktion umgesehen habe, ({2}) stellte ich fest, dass Sie dort über das Thema der heutigen Debatte schreiben: Handeln statt Reden. Die Debatte über Armut und soziale Ausgrenzung ist nicht neu. So weit bin ich einverstanden. Gewundert habe ich mich aber beim nächsten Satz: Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir verschiedene Maßnahmen zur Armutsbekämpfung gefordert. ({3}) Manchmal erwecken Sie den Eindruck, als hätten Sie in der letzten Wahlperiode nicht regiert. Aber ich denke, wir sind uns schon einig, dass Sie in der 15. Wahlperiode mitregiert haben. ({4}) Noch besser ist es, wenn man die grüne Sozialbilanz vom Juli 2005 liest. Darin haben Sie geschrieben: Im Mittelpunkt grüner Politik steht der Schutz vor sozialer Ausgrenzung. Das ist in Ordnung. Weiter heißt es allerdings: Nun steigt, wie der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung von 2005 zeigt, die Zahl jener an, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind. … Es stimmt, dass 2003 mehr Menschen unter die Armutsgrenze fielen als 1998. Auch an dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, wer in den letzten zwei Wahlperioden regiert hat. ({5}) - Wenn Sie sagen, Sie seien ehrlich, muss ich Ihnen antworten: Gebracht hat es nichts. Es ist ein Eingeständnis eigener Schwäche, wenn ausgerechnet Sie hier skandalisieren. Das ist in höchstem Maße unanständig, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen; denn Sie haben doch in den letzten sieben Jahren mitregiert. ({6}) Nun wird niemand bestreiten, auch die Union nicht, dass es Armut in Deutschland gibt, dass Armut und soziale Ausgrenzung in diesem Land keine Randphänomene sind. Das ist natürlich eine große Herausforderung für die Politik. Gerade weil wir in einem nach wie vor reichen Land leben, müssen wir hier etwas tun; niemand darf sich mit dieser Situation abfinden. Es ist eine Tatsache, dass sich viele Menschen in unserem Land in ungesicherten Lebensverhältnissen befinden: Menschen, die Stefan Müller ({7}) keine Arbeit haben, aber auch Menschen, die zwar Arbeit haben, aber nicht wissen, ob es ihren Arbeitsplatz in Zukunft noch geben wird. Mich beschwert natürlich auch, was in Teilen der deutschen Wirtschaft los ist. Ich habe genauso wenig Verständnis dafür, dass die Folgen diverser Kostensteigerungen oder Managementfehler allein den Arbeitnehmern aufgebürdet werden. Auch ich finde das unanständig. ({8}) Aus der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wissen wir, dass es Menschen gibt, die keine Hoffnung haben, dass sich ihre Lage in Zukunft bessern wird. Das ist auch einer der Gründe, warum der wirtschaftliche Aufschwung bisher nicht in dem gewünschten Maße vorhanden ist. Wenn Unsicherheit verbreitet wird, wird natürlich nicht konsumiert und auch nicht investiert. Wir wollen mit unserer Politik wieder für mehr Sicherheit und politische Verlässlichkeit sorgen. Daran, dass die heutige Debatte dazu beiträgt, habe ich erhebliche Zweifel. Das ergibt sich jedenfalls aus der Art und Weise, wie wir sie führen. Es gibt etliche Studien und Gutachten, die zeigen, dass es in Deutschland ein steigendes Armutsrisiko gibt. Es gibt auch etliche Studien und Gutachten, in denen festgestellt wird, dass die Zunahme des Armutsrisikos mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit einhergeht. Nun brauchen wir heute nicht darüber zu reden, warum in der Vergangenheit so viele Arbeitsplätze verschwunden sind; darüber sind wir uns, glaube ich, großenteils einig. Aber es bleibt doch die Feststellung, dass die Hauptursache für Armut und soziale Ausgrenzung die Arbeitslosigkeit ist. Die Verkürzung auf populistische Thesen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, bringt uns nicht weiter. Es ist doch Unsinn, zu behaupten, Hartz IV habe diese Armut verursacht. Hartz IV hat die Armut nicht verursacht, sondern nachgewiesenermaßen verdeckte Armut erst sichtbar gemacht. ({9}) Deswegen ist Ihre Schlussfolgerung letztendlich falsch. ({10}) Das wirksamste Mittel gegen das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ist ein sicherer Arbeitsplatz. Es sind eben nicht höhere Transferleistungen, wie Sie sie fordern, auch wenn Sie das vorhin bestritten haben, Frau Kipping. Tatsächlich wollen Sie alle Probleme finanziell lösen. Doch durch mehr finanzielle Leistungen wird das Problem nicht gelöst. Auch eine dauerhafte Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge bedeutet ein latentes Armutsrisiko. Deswegen sind wir aufgerufen, die Rahmenbedingungen für mehr wirtschaftliches Wachstum und für mehr Arbeitsplätze zu schaffen; der Herr Staatssekretär hat dies schon angesprochen. Eine Politik für Arbeitsplätze ist immer noch die beste Sozialpolitik. Ich finde, die große Koalition ist hier auf dem richtigen Weg. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Brauksiepe, ich habe Ihnen genau zugehört. ({0}) Wissen Sie, manchmal gibt es auch in meiner Fraktion Meinungsverschiedenheiten. Doch Sie schaffen es immer wieder, uns zusammenzuschweißen. ({1}) Das finde ich auch ganz in Ordnung. Da hilft die CDU und da helfen auch Sie persönlich. Herr Müller war ja heute auch völlig zahm. Herr Müller, sonst stellen Sie lauter Forderungen, die Arbeitslosen zu drangsalieren. Heute haben Sie hier einen ganz anderen Typ abgegeben. ({2}) Herr Niebel, in einem Punkt möchte ich Ihnen Recht geben. Der Begriff „Unterschicht“ ist indiskutabel - er stammt aber nicht von uns, sondern aus dieser Studie -, ({3}) weil dieser die Leute diskriminiert. ({4}) Eine „Armutsschicht“ gibt es. Wenn Sie behaupten, es gebe keine Schichten in der Gesellschaft, ({5}) dann fragen Sie einmal eine Sozialhilfeempfängerin und Herrn Ackermann, ob sie glauben, dass sie in einer Schicht sind. Ich sehe da schon Unterschiede. ({6}) Ich hätte mir gewünscht, dass sowohl Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten als auch Grüne in dieser Aktuellen Stunde einmal selbstkritisch sind. Doch davon kann keine Rede sein. Hat es die Politik der letzten sieben Jahre gegeben oder hat es sie nicht gegeben? Haben Sie vergessen, was Sie alles beschlossen haben? Sie haben die Steuern für die Konzerne dramatisch gesenkt, die Körperschaftsteuer um 15 Prozent. ({7}) Sie haben die Veräußerungserlössteuer für die Kapitalgesellschaften gestrichen, die muss keiner mehr bezahlen. Sie haben Parteitage abgehalten und von einer Vermögensteuer geredet, aber natürlich keine eingeführt, als Sie an der Regierung waren. Sie haben den Spitzensatz der Einkommensteuer um 11 Prozent gesenkt. Sie haben die Reichen in der Gesellschaft gefördert. Das ist wahr. ({8}) Herr Staatssekretär, in den letzten sieben Jahren sind die Einkommen in Deutschland um 0,9 Prozent gesunken. In den USA sind sie um 20 Prozent gestiegen, ({9}) in Großbritannien sind sie um 25 Prozent gestiegen und in der EU sind sie im Schnitt um 9 Prozent gestiegen. Hier sind sie gesunken. Das ist die Wahrheit. Und das sind Ursachen für Armut in Deutschland. ({10}) Hinzu kommt: Zur selben Zeit, als Sie die Steuergeschenke gemacht haben, haben Sie den Kranken gesagt, sie müssten zuzahlen, weil Sie nicht mehr genug Geld hätten, und Sie haben den Rentnerinnen und Rentnern gesagt, sie müssten zusätzliche Beiträge zahlen, sodass es ein Minus gab. Sie haben Nullrunde auf Nullrunde folgen lassen und nicht einmal die Preissteigerungen ausgeglichen. Auch das führt zu Armut in einer Gesellschaft. ({11}) Schließlich haben Sie Hartz IV für die Arbeitslosen eingeführt. Es stimmt - das will ich einmal sagen -, dass es einigen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern entweder gleich gut oder sogar besser geht. ({12}) Den meisten Arbeitslosen geht es aber schlechter. Ich nenne Ihnen wieder mein Beispiel: Ein Ingenieur, 51 Jahre alt, wird arbeitslos. Aufgrund der altersrassistischen Gesellschaft hat er mit 51 Jahren überhaupt keine Chance mehr auf eine Vermittlung. Das ist die Wahrheit. ({13}) Er erhält ein Jahr lang Arbeitslosengeld I. Nach einem Jahr sagt der Gesetzgeber: Wir akzeptieren den Lebensstandard, den er sich 25 Jahre lang als Ingenieur aufgebaut hat, nicht mehr. Er muss die Werte seiner Wohnung, seines Auto und seines Sparguthabens auf das Niveau senken, das man einem Sozialhilfeempfänger zubilligt. Wenn er das nicht tut, bekommt er gar nichts mehr. Das ist Armut per Gesetz und das haben Sie beschlossen. ({14}) Hinzu kommen noch die Mini- und Midijobs. Was macht die neue Regierung? Man konnte hoffen, dass es ein paar Korrekturen gibt. Eines haben Sie getan: Sie haben wenigstens das ALG II Ost an das Westniveau angeglichen; das stimmt. Bei den jüngeren Leuten haben Sie das aber gekürzt und Sie haben den Druck auf die Arbeitslosen ständig erhöht. Jetzt haben Sie per Gesetz beschlossen, dass das Geld für die Leute, die irgendeinen Job ablehnen, bis auf null gestrichen wird. Jeden Tag gibt es neue Missbrauchsdebatten. Es gibt immer irgendwo Einzelne, die etwas missbrauchen. Sie sind aber nicht der Maßstab. Maßstab sind die Millionen Arbeitslosen, die eine Erwerbsarbeit wollen. ({15}) Ich verstehe diese Drangsalierungsdebatten nicht. Es gibt dabei noch einen Punkt, der hier bisher überhaupt nicht angesprochen worden ist. Laut der Studie gibt es einen großen Unterschied in der Anzahl der Armen zwischen West und Ost. Im Westen sind es 4 Prozent, im Osten sind es 20 Prozent. Wieso ist das kein Thema mehr? ({16}) Wir haben zwei unterschiedliche Teilgesellschaften, die sich weiter auseinander entwickeln. Seit Jahren reden bestimmte Leute davon, dass wir einen Fahrplan brauchen, dass es irgendwann gleichen Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Lebensleistung geben muss und dass wir eine Investitionspauschale für die Kommunen brauchen, damit dadurch Wirtschaftskreisläufe in Gang gesetzt werden und Arbeitsplätze entstehen können. Nichts dergleichen geschieht. Sie diskutieren nicht einmal mehr darüber. ({17}) Ich sage Ihnen: Das wird in einer Katastrophe enden. Zum Teil erreichen wir die Armen noch und zu einem kleinen Teil erreicht die SPD sie noch. Die meisten gehen aber gar nicht mehr wählen und viele wählen rechtsextrem. Wenn wir das nicht wollen, wenn wir keine Gesellschaftszerstörung wollen, dann müssen wir die Armut in der Gesellschaft allein schon in unserem Interesse und erst recht im Interesse der Betroffenen überwinden. Dazu möchte ich einmal Vorschläge hören. ({18}) Natürlich gibt es Mittel dafür. Natürlich brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir müssen sagen, was man in Deutschland mindestens mit einer Stunde Arbeit zu verdienen hat. Das ist keine abwegige Idee. ({19}) Viele Staaten haben sich dafür entschieden und wir könnten das auch. ({20})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir brauchen auch mehr soziale Gerechtigkeit. Dafür brauchen wir gerechte Steuern. Davor drücken Sie sich. Ihnen fehlt der Mut dazu, weil Sie gegenüber den Konzernen - genauso wie leider auch die Grünen und die SPD - immer nur einknicken. Danke schön. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gerade haben wir hier wieder einen populistischen Vortrag zu einem Problem gehört, ({0}) das nicht neu ist, um das deutlich zu sagen. Zumindest wir Sozialdemokraten begrüßen, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie auf den Weg gebracht hat, um ein bekanntes Problem noch einmal in Erinnerung zu rufen. Dabei haben auch viele Persönlichkeiten in diesem Land deutlich gemacht, wie es mit Armut und Reichtum, Chancen und Chancenlosigkeit in dieser Gesellschaft bestellt ist. Beispielsweise sagt der Bischof Reinhard Marx - ich selbst kenne ihn recht gut - noch einmal ganz deutlich, dass das Problem, um das es sich hier handelt, seit mindestens 20 Jahren existiert. Die Sozialdemokraten kennen die soziale Not. Genau deshalb haben wir damals mit unserem Koalitionspartner den Armuts- und Reichtumsbericht eingeführt. ({1}) Wir wollten eine klare Ausgangsposition haben und wissen, wo wir in diesem Land stehen. Wir wollten vor diesem Problem die Augen nicht verschließen, sondern öffnen und uns der Herausforderung stellen. Das ist die Aufgabe der Sozialdemokraten. ({2}) Wir wollen nicht, dass sich der Staat seiner Verantwortung entzieht, insbesondere seiner sozialen Verantwortung. Deshalb stellen wir uns den Problemen. Durch das Sozialgesetzbuch II - vielen als Hartz IV bekannt wurden Arbeitssuchende - das ist ein großes Verdienst -, die in der Vergangenheit berechtigte Ansprüche nicht geltend gemacht haben, aus dem statistischen Dunkel hervorgeholt. Es handelt sich hier um eine Größenordnung von über 400 000 Menschen, die wir aus dem statistischen Dunkel hervorgeholt haben. Ihre Situation haben wir auf die Tagesordnung gesetzt und organisieren jetzt für diesen Personenkreis ganz besondere Prozesse. ({3}) - Man kann es Prozesse nennen. Jedenfalls ist es so, dass wir für diesen Personenkreis endlich auch Förderangebote schaffen. Wenn Sie fordern „Hartz IV muss weg“, dann müssen Sie wissen, dass Sie damit insgesamt 36 Milliarden Euro, die diese Gesellschaft zur Finanzierung der Langzeitarbeitslosen ausgibt, einfach streichen wollen. Ihr monotoner Spruch „Hartz IV muss weg“ bedeutet Armut pur. ({4}) Wir müssen in dieser Situation aber auch erkennen, dass fast die Hälfte der Arbeitslosengeld-II-Empfänger besondere Probleme hat. Die Hälfte hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, nahezu ein Viertel hat keinen Schulabschluss und fast ein Viertel leidet unter gesundheitlichen Einschränkungen. Die Ursachen dafür liegen weit in der Vergangenheit, in den 80er-Jahren; ich habe das bereits angesprochen. Sie werfen ein Schlaglicht auf die Versäumnisse, die, wenn wir Hartz IV nicht entwickelt hätten, nicht angefasst worden wären. Auch wenn die Situation nicht einfach ist: Wir haben das Rückgrat gehabt, das Thema transparent zu machen. Das ist das Verdienst der jetzigen Politik. ({5}) Viele Populisten neigen dazu, Hartz IV in Bausch und Bogen zu verdammen; das haben wir auch heute wieder gehört. Fakt ist jedoch, dass dieses Gesetz viele neue Möglichkeiten eröffnet, den Menschen zu helfen. Klar ist - das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen -, dass Arbeitsmarktpolitik kein Reparaturbetrieb der Nation sein kann, denn die Arbeitslosigkeit ist die Ursache für die Armut, nicht das SGB II. ({6}) Die Ursachen für die Armut werden in unserem Land früh gelegt. Die PISA-Studie hat gezeigt, wo die Probleme liegen. Eine frühe Aussonderung Schwächerer und fehlende Angebote am Nachmittag sind das Problem. In diesem Zusammenhang will ich ganz klar sagen, dass das von Rot-Grün gemeinsam entwickelte Ganztagsschulprogramm erstmals einen Weg in die richtige Richtung gewiesen hat. Ich denke, dass dies von den Ländern konsequent umgesetzt werden müsste. ({7}) Die frühkindliche Betreuung in Deutschland ist unzureichend; das wissen wir. Kinder aus bildungsfernen Schichten werden in der Schule schon früh abgehängt. Ein zentrales Problem in diesem Zusammenhang ist nun einmal die Bildungsarmut. Da sind die Länder gefordert. Sie können sich nicht mehr damit herausreden, dass wir sie im Stich lassen. Vielmehr haben wir die Mittel dafür zur Verfügung gestellt. ({8}) Wer glaubt, den Menschen durch höhere Transfers helfen zu können, der betätigt sich als Menschenfänger, ohne tatsächlich zu helfen. Die Armut in unserem Land ist nicht nur materielle Armut, sondern auch Armut an Bildung, an Kultur und auch Armut in Bezug auf ein gesundes Leben. ({9}) Da sich die Linke - das haben wir heute gehört - in Sprüchen wie „Hartz IV muss weg“ - zu dem Umfang der Ausgaben habe ich bereits etwas gesagt - oder „Ganz ohne Geld ist alles andere nichts“ ergötzt, muss sie sich einfach vorhalten lassen, was diese Gesellschaft an Mitteln aufbringt. Ich habe die 36 Milliarden Euro bereits angesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen Punkt ansprechen. Das ständige Rufen nach verschärften Sanktionen oder dem Abbau von Arbeitnehmerrechten ist nichts anderes als blanker Populismus. ({10}) Denn wer den Menschen jede Sicherheit nimmt, der raubt ihnen auch die Fähigkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens. Durch weniger Arbeitnehmerrechte werden die Arbeitsplätze nicht sicherer. Leistungskürzungen motivieren nicht; sie demotivieren vielmehr. Deshalb sage ich unserem Koalitionspartner an dieser Stelle ganz offen: Herr Söder von der CSU liegt völlig falsch, wenn er meint, Rot-Grün trage die Schuld an der heutigen Armut. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Ursachen für die Armut sind alt. Wir gehen ihnen nach. Deshalb müssen wir mit einer offensiven Beschäftigungspolitik und einer verbesserten Bildungspolitik, bei der auch die Länder gefordert sind, weitermachen. Das sind die besten Antworten auf die Armut. Wir wollen nicht nur über materielle Verteilungsspielräume reden, sondern wir wollen Chancen bieten. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Markus Kurth für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Debatte ist an einem Punkt angekommen, an dem man sich mit den Worten und Taten der großen Koalition und mit den Fakten auseinander setzen muss. Ich will an dieser Stelle nicht über die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte, die gerade die Kaufkraft der unteren Einkommensgruppen weiter schwächen wird, und über die kleine Kopfpauschale von 8 Euro sprechen, die offenkundig diejenigen überproportional treffen wird, die monatlich weniger als 800 Euro zur Verfügung haben. Ich möchte vielmehr ein Thema aufgreifen, das Sie alle unisono angesprochen haben, nämlich die Forderung nach mehr Bildung. Das ist durchaus richtig. Diesen Punkt haben Herr Brauksiepe und Herr Staatssekretär Andres angesprochen. Sie haben das noch einmal betont, Herr Brandner. In dem Bereich muss mehr getan werden. Herr Heil hat von einer neuen Philosophie in der Sozialpolitik gesprochen. Diese Äußerungen könnte man immerhin schon als Fortschritt in der politischen Debatte werten. Denn bisher wurde insbesondere auf einer Seite des Hauses statt über eine vernünftige Förderung mit Leidenschaft darüber diskutiert, ob und wie man arbeitslose Ingenieure am besten in ein Spargelfeld bringt. Das zeigt die ganze Armseligkeit der politischen Debatte, mit der bislang über Ausgrenzung und Langzeitarbeitslosigkeit gesprochen wurde. Bildung ist - darin sind wir uns offenbar einig - eine Schlüsselressource. Heute Abend könnte die große Koalition einen kleinen Schritt in Richtung Armutsbekämpfung tun. Denn wir werden heute Abend Änderungen im Sozialhilferecht beschließen. Dazu liegt ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vor, in dem wir Öffnungsklauseln vorschlagen. Die Jobcenter sollen Schülerinnen und Schüler gezielt mit Schulbüchern versorgen, ihnen die Teilnahme am Schulessen ermöglichen und die Vereinsbeiträge von Kindern und Jugendlichen direkt übernehmen können, sofern die Betroffenen selbst nicht dazu in der Lage sind. ({0}) Das entspricht genau der neuen Philosophie, die Transferleistungen nicht mehr direkt zu erhöhen, sondern eine zielgerichtete Hilfe speziell für Kinder und Jugendliche zu bieten. ({1}) - Frau Kipping, das braucht man gerade auch in Berlin, wo in Ihrer Verantwortung die Kitagebühren erhöht wurden ({2}) und wo es kein kostenloses Kitaessen gibt. Sie stellen sich hier als selbstgenügsame Traditionalistin dar und bejammern, dass die Kinder morgens ohne Frühstück in die Schule gehen. ({3}) Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben in unserem Antrag die Öffnungsmöglichkeiten gefordert. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen heute Abend ebenso ablehnen, wie Sie es gestern im Ausschuss getan haben. Sie greifen ihn nicht einmal in Form einer eigenen Initiative auf. ({4}) Das finde ich heuchlerisch. Es ist nicht in Ordnung, hier mehr Bildung zu fordern, aber entsprechende Änderungsmöglichkeiten nicht aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. So geht es nicht. ({5}) Es ist bezeichnend, dass diese Debatte heute Abend zu einer Zeit stattfindet, wenn die Kameras abgeschaltet und die Tribünen leer sind. Denn wie leider festzustellen ist, bewegt sich nicht nur die Armut im Dunkeln; auch die entsprechende Gesetzgebung scheint das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen, obwohl die Probleme riesengroß sind. Damit komme ich zu dem mangelnden Aufstiegswillen, den insbesondere Ihr Parteivorsitzender, Herr Beck, beklagt. Aufstiegswillen hat auch etwas mit Aufstiegschancen zu tun. Solange die Chancen durch aktive Förderung so gering sind, wie Herr Kuhn es beschrieben hat, ist es nahezu unverschämt, ({6}) Benachteiligten und Armen mangelnden Aufstiegswillen vorzuwerfen. Ich will Ihnen einmal aufzeigen, wo wir aufgrund der zuletzt betriebenen Politik im europäischen Vergleich stehen. In Dänemark sind 22 Prozent der Menschen ohne Berufsausbildung in einer Weiterbildungsmaßnahme oder in einem Kurs. In Deutschland sind es gerade einmal 3 Prozent derjenigen ohne Berufsausbildung. Hier gilt es zu investieren. ({7}) Der Vorwurf des mangelnden Aufstiegswillens hat nichts mit der Realität zu tun. Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass es 2 Millionen Geringverdiener gibt, die kein Arbeitslosengeld II beziehen, obwohl sie darauf Anspruch haben. Das sind Menschen, die auf eigenen Beinen stehen wollen. Das muss man anerkennen. Ich empfehle insbesondere dem SPD-Vorsitzenden Beck, sich einmal Einrichtungen der Jugendberufshilfe und der Beschäftigungsträger anzuschauen. ({8}) Wenn Sie einmal vor einem jungen Erwachsenen gestanden haben, dessen sechsmonatiger 1-Euro-Job ausgelaufen ist und der, teilweise mit Tränen in den Augen, fragt: „Können Sie mir eine Anschlussförderung vermitteln? Was kann ich jetzt machen, um nach oben zu kommen?“, und ihm antworten müssen: „Ich kann leider nichts machen“, während Sie gleichzeitig zugeben müssen, dass 900 Millionen Euro Eingliederungsmittel nicht ausgegeben werden, dann wird Ihnen sicherlich weh ums Herz. Wenn Sie das wirklich ernst nehmen, dann werden Sie nicht mehr von mangelndem Aufstiegswillen bestimmter Gruppen sprechen. ({9}) Ich bin sehr dafür, dass wir die Würde der betroffenen Menschen achten; denn sonst fehlen alle Voraussetzungen für eine vernünftige Politik. Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Andreas Steppuhn, SPD-Fraktion.

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte es für richtig, dass wir in Deutschland begonnen haben, eine grundsätzliche sozialpolitische Debatte zu führen. Die zum Teil vorab veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den Lebensbedingungen und beschäftigungspolitischen Perspektiven der uns anvertrauten Menschen ist hierbei eine sehr große Hilfe. Wir alle im deutschen Parlament haben die Aufgabe, alles Erdenkliche zu tun, um die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinander klaffen zu lassen, sondern, wenn irgend möglich, zu schließen. ({0}) Eine Spaltung der Gesellschaft, wenn auch nur in der politischen Diskussion, ist wenig hilfreich. Sie ist kontraproduktiv, weil wir sonst Gefahr laufen, hierdurch Menschen, die in Armut leben oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig sind, den rechten Rattenfängern in die Arme zu treiben. ({1}) Unabhängig davon müssen wir diese wichtige sozialpolitische Debatte führen. Wir dürfen nicht die Augen verschließen, sondern müssen die Situation ehrlich analysieren, um hieraus politischen Handlungsbedarf abzuleiten. Hierfür stehen wir als Sozialdemokraten. ({2}) Wir sind für gleiche Bildungschancen und für bessere Perspektiven auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Ich erinnere noch einmal daran, dass es eine SPD-geführte Bundesregierung war, die mit dem Armuts- und Reichtumsbericht dafür gesorgt hat, dass die soziale Lage in Deutschland offen gelegt wird. Hierdurch ist eine Analyse erst möglich geworden. ({3}) Außerdem haben wir Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammengelegt. Dadurch haben wir der statistisch verdeckten Arbeitslosigkeit ein Ende gemacht. ({4}) Im Übrigen war diese Maßnahme seinerzeit unumstritten. Durch diese beiden Maßnahmen sind wir erst in die Lage versetzt worden, zu Studien zu kommen, die die soziale Lage der Menschen, denen es alles andere als gut geht, in Gänze erfassen. Es muss für uns eine Herausforderung sein, denjenigen Menschen, die auf der Schattenseite des Wohlstandes leben, mehr Bildungschancen einzuräumen und berufliche Perspektiven zu bieten. Gerade jungen Menschen und Kindern sind wir es schuldig, alles Erdenkliche zu tun, dass sie überhaupt eine Aussicht haben, eine Chance auf eine gute Zukunft zu bekommen. ({5}) Es ist sicherlich auch Selbstkritik angebracht. Diese muss aber in einem zweiten Schritt dazu führen, Überlegungen anzustellen, was anders und besser gemacht werden muss. Hierzu gehört nicht nur, dass wir über Armut in Deutschland debattieren und zeitweise schöne Bekenntnisparolen herausposaunen, sondern auch, dass wir das Thema Reichtum in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken. ({6}) Nur so kann eine zusammenhängende Debatte geführt werden. Die zentrale Frage dabei lautet: Wie kann es zu einer Umverteilung von oben nach unten kommen? ({7}) Das allzu oft gebrauchte Wort der Verteilungsgerechtigkeit darf nicht nur eine Worthülse sein, sondern muss auch konsequent mit Leben erfüllt werden. Es muss aber auch die Aufgabe von Politik sein, also unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, die Menschen mitzunehmen und ihnen eine persönliche Perspektive zu geben. Dies gilt vor allem für die Menschen in den neuen Bundesländern; denn offensichtlich sind hier die Lebensunterschiede und die Perspektivlosigkeit besonders groß. Doch auch das ist nicht neu. Arbeit war für die Menschen in Ostdeutschland nicht nur ein Muss, es war auch eine Pflicht. Als Bundestagsabgeordneter für die Harzregion erlebe ich genau das in vielen meiner Bürgersprechstunden: Die Menschen in Ostdeutschland fühlen viel deutlicher, dass sie auf der Strecke geblieben sind, dass sie von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen abgekoppelt sind. Hier müssen wir etwas tun. Eine Spaltung, auch die zwischen Ost und West, dürfen wir nicht akzeptieren. ({8}) Vieles von dem, was wir heute hier diskutieren, ist doch nicht ganz neu, wenn wir ehrlich sind. Sicherlich hat Politik und haben auch Sozialdemokraten in der Vergangenheit Fehler gemacht. Jedoch muss man aus Fehlern auch lernen und daraus ableiten, was man anders und besser machen kann. Dass die Stärkeren solidarischer mit den Schwächeren sein müssen, darf sich nicht nur im politischen Handeln ausdrücken, sondern dieses Leitmotiv muss auch wieder ein Bestandteil von gesamtgesellschaftspolitischer Verantwortung werden. Deshalb brauchen wir eine Fortentwicklung der Arbeitsmarktpolitik, aber - das sage ich ganz deutlich - wir brauchen auch Mindestlöhne in Deutschland. ({9}) Wer die Lebenssituation von Menschen mit Begrifflichkeiten, die ich hier nicht wiederholen möchte, bezeichnet und damit prägt, der versucht, Deutschland zu spalten. Dies kann kein Akt von demokratischer Verantwortung sein. Wir haben in Deutschland Probleme. Die können und die wollen wir als Sozialdemokraten nicht verschweigen. Unsere Hausaufgabe lautet, dafür Sorge zu tragen, dass den Menschen, deren Lebensumstände aufgrund ihrer sozialen Situation schlecht sind, die sich von der Gesellschaft an den Rand gedrängt fühlen und deren Bildungsstand niedrig ist, zukünftig eine echte Perspektive gegeben wird. Hier denke ich in erster Linie an Familien mit Kindern und an junge Menschen. Lassen Sie uns gemeinsam dieser Verantwortung gerecht werden. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Michalk, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn sich Frau Kipping und Herr Gysi hierher stellen und feststellen, dass die Arbeitslosigkeit und damit auch die proportionale Armut in den neuen Bundesländern besonders hoch sind, höher jedenfalls als in den alten Bundesländern, ohne mit einem Wort darauf hinzuweisen, dass wir immer noch mit den Folgen von 40 Jahren SED-Misswirtschaft kämpfen, ({0}) die Sie verursacht haben und für die Sie als Partei immer noch Verantwortung tragen, dann ist das unverschämt. ({1}) Betroffen macht mich, dass diese Aktuelle Stunde von den Linken und dem Bündnis 90/Die Grünen beantragt worden ist; denn wir wissen alle, dass ehrenwerte Bürgerinnen und Bürger der Bürgerbewegung, die die friedliche Revolution mit auf den Weg gebracht haben, in der Fraktion der Grünen aufgegangen sind. Diese Allianz macht mich betroffen. ({2}) Nun zur Sache. Als vor fünf Jahren zum ersten Mal der Armutsbericht der Bundesregierung vorgelegt wurde, wurde wissenschaftlich bestätigt, was wir alle, die wir uns den angeborenen Blick für das Normale in diesem Leben bewahrt haben, schon wussten, nämlich dass es jeder zehnte Mitbürger unter uns - ungewollt und manchmal auch selbst verschuldet - im Leben etwas schwerer hat, weil er wenig Einkommen hat. Man spricht von der so genannten Einkommensarmut. Der zweite Bericht im letzten Jahr hat allerdings gezeigt und verdeutlicht, dass ziemlich viel Bewegung in diesem Prozess ist. Ein Drittel der Einkommensarmen kann nämlich nach einem Jahr und ein weiteres Drittel nach zwei Jahren die Armut hinter sich lassen. Auch das muss hier einmal gesagt werden. Die Bedingung dafür ist natürlich - das haben wir immer festgestellt - eine ordentliche Ausbildung und selbstverständlich ein Arbeitsplatz. Hier hapert es. Fakt ist: Wir haben in Deutschland nicht zu wenig Arbeit - sie steht und liegt überall herum -; uns fehlt ausreichend bezahlbare Arbeit. Diese Diskrepanz ist in den neuen Bundesländern in der Tat besonders groß. Leider gibt es aber auch dort Leute, die sich in unserem Sozialsystem eingerichtet haben. Sie nehmen alles, was zu holen ist. Sie sind froh, den lieben Tag über ihre Ruhe zu haben, und schimpfen in aller Öffentlichkeit über den ach so schlechten Staat, der ihnen zu wenig zum Leben gibt. Gewissenlose Gesellen, die es in unserer Gesellschaft auch gibt, machen sich diese Stimmung zunutze. Darauf sollten wir stärker achten. Die meisten arbeitslosen Menschen in den neuen Bundesländern sind jedoch motiviert und gewillt, jede Art von Arbeit anzunehmen. Es ärgert sie selbstverständlich, dass sie zum Beispiel als überqualifiziert gelten - Beispiele sind schon genannt worden - und deshalb keine niedrig qualifizierte Arbeit erhalten, obwohl sie diese annehmen wollen - einfach nur, um Arbeit zu haben. So wichtig der Lohn in der Lohntüte am Monatsende ist, so wichtig sind für sie immer noch das Gefühl und die Gewissheit, nützlich zu sein und gebraucht zu werden. ({3}) Ich weiß nicht, wie viele der öffentlich geförderten Arbeitsprogramme schon gelaufen sind, mit gutem und weniger gutem Erfolg. Ich weiß nur, dass wir diese auch in Zukunft brauchen werden, um Menschen Hoffnung zu geben und sie nicht in die totale arbeitsmäßige Armut und Isolation fallen zu lassen. In den neuen Ländern sind nämlich einfach zu wenige Arbeitsplätze für die in den Arbeitsprozess strebenden Menschen vorhanden. Die Anzahl dieser Menschen ist größer, als man es sich vor Jahren vielleicht ausgemalt hat. Bezahlen tun das die Leute - auch das muss man immer wieder sagen -, die jeden Tag zur Arbeit gehen und am Monatsende unterm Strich mitunter auch nicht mehr in der Lohntüte haben als die, die ihr Monatseinkommen von der Bundesagentur für Arbeit überwiesen bekommen. Wenn im Jahre 2005 etwa 11 Prozent aller Kinder in Deutschland in Haushalten lebten, in denen kein einziges Mitglied einer Erwerbstätigkeit nachging, dann müssen wir uns nicht wundern, dass diesen Kindern ein Weg vorgelebt wird, den sie nur mit großer Anstrengung verlassen können. Ich erinnere mich an einen Lehrling meiner früheren Arbeitsstätte, der als Einziger in der Familie täglich um halb sechs aufgestanden ist, um pünktlich zur Arbeit zu kommen, um am Monatsende sein Lehrlingsgeld nach Hause zu bringen. Erahnen wir eigentlich, welche Kraft und Motivation dieser junge Mann jeden Morgen brauchte, um sich - vorbei an den schlafenden Eltern und Geschwistern - ohne Frühstück aus der Wohnung zu schleichen, damit er keine Abmahnung wegen Unpünktlichkeit erhielt, die letztlich den Verlust seines Ausbildungsplatzes bedeutet hätte? Wie viel Kraft musste dahinterstecken? Wie viel Hilfe, die übrigens auch vom Staat bezahlt wird, war wohl nötig, damit er motiviert blieb, um diese Ausbildung durchzuhalten? Mit diesem Beispiel - das ist bestimmt kein Einzelfall - wird deutlich, wie differenziert die Frage Armut zu sehen ist. Man sieht, wie schnell man in Armut hineinrutschen kann. Man sieht aber auch, dass unsere Gesellschaft viele Möglichkeiten bietet, sich daraus zu befreien. Ich verweise nur auf §§ 240 ff. SGB III. Diese Paragrafen gibt es nicht erst seit wenigen Monaten, sondern seit vielen Jahren. Die dort enthaltenen Regelungen sollen sozial benachteiligten Jugendlichen den Weg in eine gute berufliche Zukunft ermöglichen. Ich will noch ein weiteres Thema ansprechen. Das Suchen nach einem Arbeitsplatz und die damit verbundene Abwanderung führen zu Strukturveränderungen, die wir sehr ernst nehmen müssen. Mich hat zum Beispiel eine 80-jährige rüstige Omi um halb sechs in der Frühe angerufen und gesagt: Tun Sie etwas dafür, dass mein Enkel hier in der Nähe eine Arbeit findet, damit ich nicht allein bin und jemanden habe, den ich anrufen kann, wenn ich Hilfe brauche.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will damit nur sagen: Unser Leben bedeutet Anstrengung. Wir sind nicht für ein bequemes Leben geboren, sondern für Anstrengung. Dies gilt für alle: für die, die viel leisten können, und für die, die wenig leisten können. Auf diesem Weg sind wir. Ich danke Ihnen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ist eine falsche Debatte. Gleichzeitig ist sie eine richtige und wichtige Debatte. ({0}) Diese Debatte ist zum Beispiel deswegen eine falsche Debatte, weil diese Studie überhaupt noch nicht komplett veröffentlicht ist. Dennoch debattiert die Öffentlichkeit seit Wochen intensiv darüber. ({1}) - Seit 14 Tagen. Es handelt sich um eine falsche Debatte, weil es in dieser Studie überhaupt nicht - das ist bereits mehrfach gesagt worden - um Armut und Armutsentwicklung in Deutschland geht. Vielmehr geht es um politische Einstellungen und um politische Wertvorstellungen. Diese sind geordnet und in verschiedene Gruppen eingeteilt worden. Genannt werden hier unter anderem die selbstgenügsamen Traditionalisten, Herr Kurth, und das so genannte Prekariat. Es ist aber auch eine richtige und wichtige Debatte, auch wenn sie aus falschem Anlass geführt wird. Wir sprechen jetzt nämlich endlich nicht nur hier im Deutschen Bundestag, sondern auch in einer breiten Öffentlichkeit über das Thema Armut und Armutsentwicklung. Ich hielte es für richtig, wenn wir gleichzeitig in diesem Zusammenhang auch über Reichtum und Reichtumsentwicklung in Deutschland reden würden. ({2}) Was an Schuldzuweisungen zu lesen und zu hören war, bringt überhaupt nichts. Einen Zusammenhang zwischen der in der Tat wachsenden Armut in Deutschland und Hartz IV herzustellen, ist abwegig. Das hat sogar Michael Sommer öffentlich festgestellt. Hier liegt nicht die Ursache. Die Befragung - ein ganz einfaches Argument - ist im Februar/März dieses Jahres durchgeführt worden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Hartz IV gerade einmal ein Jahr wirksam war. Hier liegt also nicht die Ursache. Ursache ist vielmehr - das ist uns allen bewusst - die seit langem verfestigte Massenarbeitslosigkeit. ({3}) Ihre wirtschaftlichen bzw. weltwirtschaftlichen Ursachen sind jedem in diesem Raum bekannt. Ich komme zu dem Begriff „Unterschicht“, der in der öffentlichen Debatte eine, wie ich finde, merkwürdige Rolle spielt. Als wissenschaftlicher Begriff ist er seit langem in Gebrauch. Dagegen spricht auch überhaupt nichts. Als politischen Kampfbegriff muss man ihn jedoch, so meine ich, ablehnen, da er in der Tat nur dazu führt, diejenigen, die sich ohnehin bereits ausgegrenzt fühlen, zusätzlich auch noch sprachlich auszugrenzen. Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass wir schon zwei Armuts- und Reichtumsberichte vorliegen hatten und debattiert haben, übrigens - leider - mit einer deutlich geringeren öffentlichen Resonanz, als wir sie jetzt, dieser Tage, erleben, und auch mit einer deutlich geringeren Resonanz hier im Deutschen Bundestag. Auch über den nationalen Aktionsplan zur Vermeidung und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit haben wir hier im Bundestag fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit gesprochen. Das war nicht etwa auf die Tageszeit zurückzuführen, zu der wir darüber debattiert haben, sondern darauf, dass es offensichtlich kein öffentliches Interesse an diesem Thema gegeben hat. Ich hoffe, dass sich das jetzt ändert. Übrigens musste es in diesem Hause erst eine rotgrüne Mehrheit geben, damit die Vorlage eines Armutsund Reichtumsberichtes durchgesetzt werden konnte. ({4}) Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass unser Antrag zu Zeiten Helmut Kohls mit dem Argument abgelehnt wurde, Armut gebe es in Deutschland nicht. Es gebe Sozialhilfe, das sei bekämpfte Armut. - Fertig, Schluss, Aus. Meine Damen und Herren, mehrfach ist heute von Bildung gesprochen worden. Es ist richtig: Wenn wir wirksam etwas gegen Armut tun wollen, müssen wir die Kinder im Blick haben, die in diesen Verhältnissen aufwachsen und leben, die nicht nur materiell arm sind, sondern die ausgegrenzt, die zum Teil weitgehend von Bildung ausgeschlossen und auch gesundheitlich unterversorgt sind usw. Ich empfehle wirklich, sich mit dem Zwölften Kinder- und Jugendbericht auseinander zu setzen. Ich glaube, dass wir Kinder- und Jugendpolitik als eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe auffassen müssen. Wir werden das Problem nicht mit Sozialpolitik und auch nicht mit Transferleistungen lösen. Bildung von Anfang an als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung ist die einzige Chance, die wir haben. ({5}) Bei der Umsetzung werden wir, meine Damen und Herren, vor großen Problemen stehen. Das Ressortdenken, in dem wir selbst immer wieder verhaftet sind, aber auch die unterschiedlichen Zuständigkeiten der verschiedenen staatlichen Ebenen für das, was mit dem erweiterten Bildungsbegriff gemeint ist, werden die Umsetzung sicherlich erschweren. Aber wie viele Hinweise wollen wir denn noch haben? PISA-Studie, Jugendbericht, Armutsbericht - seit Jahren wird uns die Situation vor Augen geführt. Wir haben in Deutschland bisher nicht die Kraft gehabt, das Problem über die Grenzen der Ebenen hinweg konsequent anzugehen und mit der Bildung für Kinder und Jugendliche, gerade für diejenigen, die in Armut leben, ernst zu machen, um ihnen die Chance zu eröffnen, ein eigenständiges Leben zu führen und aus der Armut herauszukommen. Diese Leiter müssen wir bereitstellen und vielleicht müssen wir auch einmal helfen, damit sie die Leiter tatsächlich hochkommen. Das alles ist längst überfällig. Deshalb sollten wir uns darauf verständigen, Kinder- und Jugendpolitik als zentrale gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Wir sollten in den nächsten Wochen und Monaten zu einem konkreten Handeln kommen. Herzlichen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marcus Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003861, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Rede mag jetzt einige Punkte wiederholen, aber ich glaube, dass es für einige im Saal das richtige Mittel ist, gewisse Dinge durch Wiederholung zu vertiefen. ({0}) Die Kollegen vor mir haben es schon angesprochen, dass es für die Menschen in dieser Stadt tragisch ist, dass Ihre Partei weiterregiert, Frau Kipping. Entlarvend ist doch: Das, was Sie hier reden, hat mit den Handlungen Ihrer Partei in Berlin nichts gemein. Der Kollege Kurth von den Grünen hat bereits nachgewiesen, dass Sie die Kitagebühren erhöht haben und dass die Kinder in die Kitas kommen, ohne gefrühstückt zu haben. Ich rate Ihnen, Frau Kollegin Kipping: Gehen Sie nach der Debatte in Ihr Büro und rufen Sie eine Mitarbeiterin der Allgemeinen Sozialen Dienste hier in Berlin an! Fragen Sie die Dame, wie viel Zeit Sie denn hat, um sich um ein Kind zu kümmern, welches die Hilfe zur Erziehung bekommt! Dann erleben Sie die Realität in Berlin. ({1}) Aber Sie verkünden hier vollmundig, was Sie meinen, im Bereich der Familienpolitik bewegen zu können. Ich halte das für falsch. Ich glaube, wir müssen als Fazit der Debatte zwei Dinge konstatieren: Zum einen geht es um Begriffsklarheit und zum anderen um die Frage von Ursache und Wirkung. Zur Begriffsklarheit: Meinem Vorredner stimme ich nicht in der Einschätzung zu, dass es heute eine Unterschicht gibt. Natürlich gab es, in der historischen Betrachtung, Klassen und Schichten in Deutschland. Mittlerweile sprechen wir über Milieus. Das Milieu, über das wir heute sprechen, hat nicht die Formation einer Schicht. Zur Frage von Ursache und Wirkung: Materielle Armut gab es in der Historie der Bundesrepublik tragischerweise schon immer. Doch daraus zu schließen, dass Hartz IV die Ursache für die Entwicklung des genannten Milieus sei, ist schlichtweg falsch. Wer - das hat mein Vorredner gesagt - die Frage aufwerfen will, wie man dieses Milieu wieder in die Gesellschaft zurückholt, kommt zu den Themen Bildungspolitik und Kultur-, Jugend- und Familienpolitik als den zentralen Ansätzen für politisches Handeln. Dieses Milieu, das durch eine gewisse Hoffnungslosigkeit und soziale Schwäche geprägt ist, bricht von Zeit zu Zeit aus. Ich denke da an das Beispiel der RütliSchule. Dort sind Jugendliche ausgebrochen, weil sie in Bezug auf ihren schulischen Werdegang ohne Perspektive waren und gemerkt haben, dass sie gesellschaftlich am Rande stehen. Das ging übrigens einher mit der Ablehnung von staatlichen Autoritäten und mit der Tendenz, den demokratischen Bereich zu verlassen. In der Diskussion muss, wie es schon von fast allen Vorrednern angesprochen wurde, unter anderem eine moderne Bildungspolitik im Mittelpunkt stehen. In Deutschland haben wir jetzt endlich erkannt, welche Bedeutung frühkindliche Bildung und Vorschulbildung haben, und sind über die Phase hinaus, die Schule als Reparaturbetrieb betrachten zu müssen. Wir müssen in diesen Bereich investieren und die Bildungspyramide auf den Kopf stellen. ({2}) Das ist bisher nicht gelungen. Dabei besteht gerade für die Kinder aus diesem Milieu das Problem, dass sie von Anfang an nicht die Möglichkeit haben, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Wir müssen zudem über die Fragen sprechen, wie man Kindertagesbetreuung und Grundschule besser vernetzen und sie in einer Zukunftsoption verzahnen kann, wie man Grundschule und Sekundarstufe koppeln kann und wie man Möglichkeiten schafft, dass die Menschen von sich aus - oder gegebenenfalls mit staatlicher Unterstützung - ihren Berufsweg einschlagen. Was die Bundesregierung in dieser Frage gemacht hat, ist richtig. Sie hat gerade bei der Ausbildung angesetzt: Jobstarter und Ausbildungspakt. Es muss der Grundsatz gelten, dass kein Jugendlicher eine Bildungsinstitution ohne einen Anschluss verlässt; kein Abschluss ohne Anschluss. Der zweite Bereich - das hat auch mein Vorredner deutlich gemacht - ist die Familienpolitik, die Jugendpolitik und die Jugendhilfe. Ich komme aus Hamburg. Da gab es den Fall der kleinen Jessica, die zu Tode gekommen ist. Wer so etwas einmal erlebt hat und ertragen musste, der weiß, was auf unser Land zukommen kann. Fälle dieser Art sind Einzelfälle, sie hat es immer gegeben und wird es tragischerweise wohl auch immer geben. Aber dahinter besteht die große Gefahr, dass mehr und mehr Kinder und Jugendliche vernachlässigt werden. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir über eine Vernetzung der Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, also über eine Vernetzung von Kitas, Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen, zu einer engeren Kooperation kommen. Auf der politischen Ebene werden das in naher Zukunft die Themen sein. Über die ökonomischen Betrachtungen wurde hier schon das eine oder andere gesagt. Unter dem Strich bleibt: Begriffliche Klarheit, Ursache und Wirkung klar definieren! Hartz IV ist nicht die Ursache. Hartz IV ist die Folge einer falschen Politik. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Aktuelle Stunde darf gerade beim Thema Armut keine einmalige Stunde bleiben. Ich habe die ausdrückliche Hoffnung - ich darf hier ja zum Schluss reden -, dass sich dieses Parlament in Kontinuität und ernsthaft mit diesen Fragen beschäftigt, wie in der Vergangenheit, so auch in Zukunft. ({0}) Ich komme auf das zurück, was unser sozialdemokratischer Urvater Lassalle gesagt hat - manche werden es wissen -: Am Anfang muss stehen: Sagen, was ist. Vielleicht kann man es so sehen: Von Kurt Beck ist ein Stein ins Wasser geworfen worden, das hat uns gemeinsam dazu gebracht zu sagen, was ist. In Klassenanalysen, in Schichtenanalysen und in Polaritäten kann man ausdrücken, dass es in dieser Gesellschaft natürlich Arm und Reich gibt - darüber muss man sprechen können -, dass es natürlich Oben und Unten gibt - darüber muss man sprechen können - und dass es Dabei-Sein und Außen-vor-Sein gibt. Aber es gibt auch Resignation und Hoffnung. Wenn wir es einfacher aussprechen, fühlen sich vielleicht auch mehr Menschen angesprochen. Sie können von ihrem Parlament erwarten, dass es diskutiert, wie sie etwas ausdrücken und wie sie etwas erleben. Ich möchte es so wenden, dass mindestens ich mich durch das, was durch die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aufgeworfen worden ist, nicht nur das Ökonomische, sondern auch das Mentale, wie sich Menschen fühlen, angesprochen fühle. Das muss dann in einem Parlament Ausdruck finden. Es muss dort seinen Niederschlag in den Parteien finden. Wir alle hoffen: in diesem Spektrum der Parteien und nicht in einem erweiterten Spektrum, das uns - wir haben es in den Ländern gesehen - droht. Deshalb ist es vielleicht nicht gut, hier nur im Dissens zu reden. Es ist gut, auch im Konsens zu debattieren und sich zu fragen: Was haben wir denn gemeinsam? Wo brauchen wir Unterschiedlichkeit, die, auch wenn sie letztlich wieder integriert und zusammenführt, Menschen, die sich abgehängt, resigniert, außen vor gelassen, arm fühlen oder erleben oder dies auch sind, Stimme gibt? Ohne dass das schulmeisterlich sein soll, will ich zunächst gern in zwei Richtungen fragen. Bei Ihnen von der FDP ist mir aufgefallen, dass Sie zu Armut sprechen sollten, aber über Systempolitik der FDP räsoniert haben. ({1}) Bei Ihnen ist nicht spürbar, ob Sie als Partei eigentlich merken, dass es ein Signal an die Gesellschaft und auch an die Menschen in Armut, ohne Ausbildung und ohne Arbeit sein könnte, wenn Sie sagen würden: Wir von der FDP wissen, wie viele Selbstständige wir vertreten, die auf uns ihre Hoffnung richten. ({2}) Wir sind Treuhänder dafür, dass wir in diese Gruppe der Selbstständigen hinein die Botschaft geben: Überlegt einmal, zweimal, dreimal, ob ihr als diejenigen, die vielfach kleine Betriebe - eins bis 20 Beschäftigte - führen, noch eine Lehrstelle mehr mobilisieren könnt! ({3}) Das wäre ein soziales Anliegen der FDP. Das könnte ein Signal sein, das Sie aus dieser Debatte geben. Ich lasse Sie jetzt gern allein, bitte aber trotzdem darum, dass Sie das in einer Armutsdebatte, die in einer Gesellschaft etwas bewegen soll, aufnehmen; denn wir stehen doch auch für Parteien, an die die Menschen Erwartungen und Wünsche haben. Kollege Gysi, Ihnen will ich sagen: Der Hinweis „20 Prozent in Ostdeutschland, 4 Prozent in Westdeutschland“ ist richtig. Aber ist das eine rein materielle Betrachtung oder geht es auch um die Mentalität und die Hoffnung? Das schwingt bei Ihnen durch; aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie, wenn Sie den Anspruch haben, Betriebsrat, Sprachorgan derjenigen, die sich dort abgehängt fühlen, zu sein, wirklich so handeln, wie es Betriebsräte tun: Sie sagen auch Wahrheiten; ({4}) sie sagen zum Beispiel, was sich verändert und wie man sich auf diese Veränderungen einstellen muss. Sie sagen den Leuten nicht nur, dass sie den Status des Opfers haben, ({5}) sondern sie gehen in diese Kreise der Bevölkerung und sagen den Menschen, wie sie - bei allen Schwierigkeiten; da will ich jetzt nichts schönreden - aus der Opferrolle in eine mitgestaltende Rolle kommen können. Wir finden, diese Erwartung muss an eine solche Debatte geknüpft werden können. An die Politik besteht die Erwartung, dass Wahrheiten ausgesprochen werden, und mit ihr werden Hoffnungen verknüpft. Damit muss sich die Politik selbstkritisch befassen. Ich will, weil das von uns erwartet wird, sagen, dass wir in Bezug auf das Grundprinzip des Förderns und Forderns bei Hartz IV sicherlich keine Abstriche zu machen haben. Wir müssen als Sozialdemokratie allerdings sehr wohl überlegen, ob wir in Bezug auf die Weiterbildung, die Qualifizierung, die Umschulung, das Geben von Chancen zusammen mit den Grünen zu weit gegangen sind und ob wir dort selbstkritisch in eine Revision, in neue Überlegungen eintreten müssen. ({6}) Weil wir merken, dass Armut ein weit gespanntes Feld ist, will ich umgekehrt fragen, ob wir tatsächlich wissen, wie wichtig es ist, eine Wohnung zu haben, die bezahlbar ist. Wir sollten überlegen, ob wir gemeinschaftlich, als neues Zentrum, Wohnungsbestände nicht so sehr als Kapitalverwertung, als attraktiv für internationale Fonds, sondern als für die betroffenen Menschen wichtig sehen sollten. Sonst geht es ganz schnell nur noch um Finanzprodukte und REITs. Die Frage ist: Ist uns der Mieterbund oder die Deutsche Börse wichtig? ({7}) Man muss die CDU/CSU natürlich fragen - obwohl Herr Weinberg das, wie ich finde, schon sehr differenziert angesprochen hat -, ob wir bestimmte gemeinsame Grundprinzipien nicht zusammen vertreten können, beispielsweise die Bildung in Kindertagesstätten und Krippen, statt sie negativ zu werten, als Unterstützung für frühkindlichen Aufwuchs zu sehen. Das gilt auch für Bildung, Ganztagsschulen und längeres gemeinsames Lernen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich darf Sie an die Redezeit erinnern.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dies kann das Ergebnis einer solchen Debatte werden, weil wir dann anders sprechen, weil wir uns dann vielleicht auch einen Ruck geben müssten, mehr mit den Betroffenen zu sprechen. Ich habe einen Wunsch: dass die Kanzlerin beispielhaft

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- bei einer Tafel, einem sozialen Dienst ist und zeigt, wie man sich dem zuwendet. Außerdem möchte ich, dass wir ein Klima haben,

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich muss Sie noch einmal an die Redezeit erinnern!

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- in dem auch diejenigen, um deren Anliegen es geht, den Ton der Debatte mitbestimmen können. Danke schön. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 5 a bis 5 c: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Gestaltung einer ergebnisoffenen transparen- ten Endlagersuche mit großer Öffentlichkeits- beteiligung - Drucksachen 16/1605, 16/2690 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Umgehend Konzept für eine ergebnisoffene Standortauswahl für ein nationales Atommüllendlager vorlegen - Drucksache 16/2790 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Offene Fragen zur Entsorgung radioaktiver Abfälle klären - Verantwortung für nachfolgende Generationen übernehmen - Drucksachen 16/267, 16/1462 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Angelika Brunkhorst Sylvia Kotting-Uhl Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Renate Künast von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage, die sich angesichts eines atomaren Endlagers stellt, ist keine geringe. Sie lautet: Ob und wie kann man hoch radioaktiven Müll für mehr als 1 Million Jahre von der Biosphäre fernhalten und damit Sicherheit schaffen? Das ist die Frage, die jeder Wissenschaftler über alles setzt. An dieser Stelle könnte man sagen, das sprengt eigentlich unser aller Vorstellungskraft. Ich will einmal einen Vergleich mit den Pyramiden anstellen, um zu verdeutlichen, worum es geht. Diese Bauwerke wurden vor sehr langer Zeit errichtet. Wir bewundern, dass sie nur unter Zuhilfenahme des Hebelprinzips gebaut wurden und nach so vielen Jahren noch existieren. Der Vergleich eines Endlagers mit den Pyramiden hinkt aber. Warum? Die Pyramiden existieren seit ungefähr 5 000 Jahren. Die Aufgabe, vor der wir jetzt aber stehen, nämlich ein atomares Endlager zu errichten, ist damit nicht zu vergleichen. Denn bei einem Endlager geht es nicht um einen Zeitraum von 5 000, 10 000 oder 20 000 Jahren, sondern um einen Zeitraum von mehr als 1 Million Jahren, in dem die Bausubstanz erhalten werden muss, um den hoch radioaktiven Müll sicher zu lagern. Ich wundere mich, dass an dieser Stelle vonseiten der Regierung keinerlei Vorlage kommt, obwohl die Hausaufgaben eigentlich schon alle gemacht sein müssten. Das Ganze droht offenbar schon wieder im Klein-Klein und Koalitionshickhack zwischen Gabriel und Glos unterzugehen. ({0}) Wenn die vorherige Bundesregierung unter grüner Beteiligung nicht den Atomausstieg organisiert hätte, wäre das Problem heute noch viel größer. Wegen des Atomausstiegs ist die Masse an hoch radioaktivem Material relativ begrenzt. Wir werden aber endgültig im Jahr 2030 ein Lager für hoch radioaktiven Abfall brauchen, weil dann die Zwischenlagerung nicht mehr funktioniert. Wir werden auf der Basis des Atomausstiegs zu diesem Zeitpunkt 24 000 Kubikmeter hoch radioaktiven Müll und 256 000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiven Müll haben. Die Grundlage für eine sichere Lagerung muss aber heute gelegt werden. Deswegen frage ich: Herr Glos und Frau Merkel, wo bleibt die entsprechende Vorlage? ({1}) Das ist keine einfache Aufgabe, zumal weltweit gesehen bisher noch kein genehmigtes Endlager existiert. Wir wissen: Ein Endlager muss maximale Anforderungen erfüllen. Für den Schutz von Mensch und Umwelt muss es mehr als 1 Million Jahre Bestand haben. Es muss sich um ein bestmögliches Endlager in tiefen geologischen Formationen handeln. Um sicherzustellen, dass keine Radioaktivität in die Biosphäre gelangt und dass die Menschen damit nicht in Berührung kommen, muss man auf die Beschaffung der Oberfläche achten. Außerdem muss man beachten, wie die Nutzung dieses Bereichs in 100 000 oder 200 000 Jahren aussehen könnte, wie die Klimaveränderungen sein werden und auf welchen Stand das Wasser steigen könnte. Kurz gesagt: Man muss alle Szenarien durchdenken. Auf dieser Basis und unter Beachtung der möglichen veränderten Nutzung durch den Menschen muss man ein sicheres Endlager schaffen. ({2}) - Was wir in sieben Jahren Regierung gemacht haben, werde ich Ihnen gleich erzählen. Ich bitte Sie, diese Frage nachher auch den SPD-Rednern zu stellen. ({3}) Wir wissen ja - die FDP vielleicht nicht -, dass zu einer Koalition immer zwei gehören. ({4}) - Ich weiß, in Zukunft gehören drei dazu. Vielleicht werden Sie eines schönen Tages dazu gehören. Die Argumente der Gegner spiegeln nicht die ganze Wahrheit wider. Sie behaupten erstens, man habe bereits eine Lösung, und zweitens, es gebe eine sichere Lösung. Ich will darauf hinweisen, dass beide Behauptungen falsch sind. Der Salzstock in Gorleben und der Schacht Konrad für den mittelradioaktiven Müll sind nicht aus Sicherheitserwägungen vorgeschlagen worden. Außerdem sind beide bis heute noch nicht endgültig auf ihre Tauglichkeit geprüft worden. Ich war vor Ort und habe mich informiert. ({5}) Es wurde mir gesagt, diese Standorte seien noch nicht endgültig geprüft und man habe noch nicht einmal richtig mit der Prüfung angefangen. ({6}) Beide Standorte sind aus ökonomischen Interessen vorgeschlagen worden. Der Schacht Konrad war finanziell nicht mehr lukrativ. Deswegen gab es den Vorschlag, ihn zum Endlager umzufunktionieren. Die Region Wendland und der Landkreis Lüchow-Dannenberg sind, was Arbeitsplätze anbelangt, schwach aufgestellt. Deshalb wurde dieser Vorschlag gemacht. Wir setzen aber auf einen offenen Prozess bei der Endlagersuche. Dabei dürfen keine Rücksichten genommen werden. Warum? Meine Sorge, wenn ich auf die Industrie blicke, ist, dass hier wieder nur Preisdrückerei passiert oder nach dem Sankt-Florians-Prinzip verfahren wird. Leute wie Herr Koch oder Herr Stoiber wollen zwar Atomkraftwerke betreiben, sogar länger als der Konsens vorsieht, wenn es aber um das Suchen von Lagern geht, heißen sie alle Sankt Florian. Das Sankt-Florians-Prinzip lautet: Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andere an. Ich sage Ihnen, wer Atomkraft will und behauptet, das sei kein Problem, ist der Erste, der in seinem Bundesland auch eine Suche zulassen muss. ({7}) Ich vermute an der Stelle eine Preisdrückerei. Warum Preisdrückerei? - Weil man natürlich das Interesse hat, für die unabhängige Suche keine weiteren Gelder auszugeben. Deshalb möchte man es am liebsten gleich beim Salzstock in Gorleben oder beim Schacht Konrad belassen. Ich sage Ihnen ganz klar, die Vorarbeiten sind gemacht. Die Vorgängerregierung hat über den AkEnd - national und international viel beachtet - Auswahlkriterien vorgelegt. Sie wurden von Atomkraftgegnern und Atombefürwortern zusammen erarbeitet. Da geht es darum, bis 2030 den bestmöglichen Standort zu haben. Was ist der bestmögliche Standort? Das ist einer, bei dem Sicherheit wirklich vor Finanzfragen oder anderen ökonomischen Fragen geht; bei dem man auf der höchsten Ebene der geowissenschaftlichen Erkenntnisse ist; bei dem man ein bundesweites Auswahlverfahren durchführt; bei dem klar ist, dass es eine Verursacherverantwortung gibt. Das heißt, die Betreiber, die den Abfall erzeugt haben, müssen die Suche und den Betrieb des Standortes finanzieren. ({8}) Ein weiterer Punkt ist: Wir brauchen ein echtes Bürgerbeteiligungsverfahren und am Ende die abschließende Entscheidung durch den Deutschen Bundestag. Wir reden hier nicht über einen Komposthaufen, den man nach Wochen oder Monaten einmal umgräbt oder an eine andere Stelle versetzt. Wir reden hier über hoch radioaktiven, lebensgefährlichen Müll, der über 1 Million Jahre gelagert werden muss.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit hinweisen!

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist mein letzter Satz. Ich bitte in Richtung Regierungsfraktionen an der Stelle um eines: Beantworten Sie unsere Fragen hier in der Debatte nicht so, wie Sie das in der Beantwortung unserer Großen Anfrage getan haben. Bei 31 Fragen haben Sie elfmal plump auf die Antwort zu Frage zwei verwiesen. Dort steht: Nach dem Koalitionsvertrag beabsichtigt die Bundesregierung, die Lösung der sicheren Endlagerung radioaktiver Abfälle zügig und ergebnisorientiert anzugehen. Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht den Verweis auf die Antwort zu Frage zwei, sondern wir brauchen endlich einen Gesetzentwurf, damit ab 2030 eine sichere Lagerung möglich ist. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte um die Errichtung von Endlagern für atomaren Müll in Deutschland dauert schon Jahrzehnte. Es scheint mir, dass dabei die Fakten leicht durcheinander geraten. Deshalb möchte ich zunächst einmal den Status quo feststellen: Derzeit stehen als potenzielle Endlager zwei Standorte im Mittelpunkt der Diskussion: für schwach- und mittelradioaktive Abfälle der Schacht Konrad und für hoch radioaktive Abfälle das Erkundungsbergwerk Gorleben. Aus physikalischen Gründen brauchen die beiden Sorten Abfälle nämlich unterschiedliche Lagerbedingungen. Wie der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz noch gestern im Umweltausschuss ausführte, gibt es im Schacht Konrad seit 1975 Voruntersuchungen; 1982 wurde bei der zuständigen Behörde, dem niedersächsischen Umweltministerium, der Antrag auf Planfeststellung gestellt; 1992/93 fand ein nach Aussage von Präsident König sehr aufwendiger Erörterungstermin mit großer Öffentlichkeitsbeteiligung statt; 2002 erfolgte der Planfeststellungsbeschluss durch den damaligen niedersächsischen Umweltminister Jüttner der Regierung Gabriel und bis März 2006 wurden die gerichtlichen Anfechtungen dieses Beschlusses vor dem OVG Lüneburg verhandelt. Dies bestätigte den Planfeststellungsbeschluss in vollem Umfang und wies alle Klagen ab. ({0}) Gegen die Nichtzulassung der Revision liegen derzeit noch Klagen beim Bundesverwaltungsgericht vor. Sollten diese abgewiesen werden, könnte die Umrüstung des Schachtes zum Endlager erfolgen. Bundesumweltminister Gabriel hat in seiner Presseerklärung zum Urteil des OVG unmissverständlich gesagt, dass das Urteil des OVG ein Endlager sehr wahrscheinlich mache, zunächst aber die Entscheidung über die Revisionsnichtzulassungsbeschwerde abzuwarten sei. Das Letztere ist aus Respekt vor den Klägern und dem Gericht selbstverständlich. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung nach Vorlage des Urteils zügig handelt. Nun zum Erkundungsbergwerk Gorleben. 1977 beschloss die Bundesregierung Schmidt, Gorleben als Endlagerstandort zu erkunden. Vorausgegangen waren ein Auswahlverfahren der Bundesregierung, die 26 verschiedene Standorte in Betracht zog, und eine Untersuchung von mehr als 140 Salzstöcken durch die niedersächsische Landesregierung, die schließlich Gorleben zur intensiven Erkundung vorschlug. Seit 1979 wird der Salzstock oberirdisch und seit 1986 auch unterirdisch untersucht. 1979 fand zudem unter der Regierung Albrecht in Niedersachsen das Gorleben-Hearing zur Standortentscheidung statt. Das war eine aufwendige, eine Woche dauernde öffentliche Anhörung, die auch vom Niedersächsischen Landtag begleitet wurde. Seit 2000 ist die Erkundung durch das Moratorium, das im Rahmen des Atomausstiegs vereinbart wurde, unterbrochen, um so genannte Zweifelsfragen abzuarbeiten. Angesichts dieser Fakten mutet die Endlagerdebatte in Deutschland manchmal etwas irreal an. So wird darauf verwiesen, es habe eine willkürliche Standortauswahl gegeben und der Untersuchung hätten keine nachvollziehbaren Kriterien zugrunde gelegen. Tatsächlich aber haben die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen verschiedene Standorte in Betracht gezogen. An den Standorten Schacht Konrad und Gorleben ist seit mehr als 20 Jahren für ein Gesamtkostenvolumen von mehr als 2 Milliarden Euro erkundet worden. Kein Mensch konnte mir bislang erklären, wie man so lange für so viel Geld Dinge untersuchen kann, ohne zu wissen, was man eigentlich untersucht. ({1}) In jüngster Zeit wurde immer wieder gesagt - wir haben es gerade wieder gehört -, man suche nicht einen geeigneten Standort, wie es im Atomgesetz steht, sondern den bundesweit bestmöglichen Standort. Man könnte ja an zwei oder drei anderen Standorten ober- oder unterirdische Erkundungen durchführen. Wer wollte dem angesichts einer Technologie, die tatsächlich besondere Sicherheitsanforderungen stellt, denn nicht spontan zustimmen? Ich frage aber: Versprechen wir den Menschen nicht etwas, was wir letztendlich gar nicht halten können? Ich habe bislang von niemandem gehört, dass Alternativuntersuchungen in dem gleichen Umfang wie an den Standorten Gorleben und Schacht Konrad durchgeführt werden sollen. Der Präsident des BfS nannte gestern im Ausschuss einen erforderlichen Zeitraum von lediglich fünf bis sechs Jahren. Wie können diese Daten dann aber vergleichbar sein mit denen, die über 20 Jahre an den beiden bislang intensiv untersuchten Standorten erhoben worden sind? Und wenn doch intensiver untersucht werden soll: Wer soll das finanzieren? Das Atomgesetz sieht in § 21 b vor, dass der notwendige Aufwand zur Suche, zur Errichtung und zum Betrieb von Endlagern von den Kraftwerksbetreibern zu leisten sei. Ist aber die Suche nach einem alternativen Endlager notwendiger Aufwand? Das OVG Lüneburg hat in seinem Urteil zum Schacht Konrad festgestellt, dass ein Mangel nicht darin bestehe, „dass alternative Standorte nicht umfassend und vergleichend untersucht worden sind. Ein derartiges Standortsuchverfahren ist nach den geltenden atomrechtlichen Bestimmungen nicht vorgesehen.“ Wenn man nun dennoch verschiedene Standorte eingehend untersuchen würde - in Deutschland kommen wohl nur Ton- und Salzbergwerke infrage -, käme man auch dann nicht zu einer eindeutigen Aussage. Für einige Anforderungen der atomaren Endlagerung ist Ton besser geeignet und für andere Salz. Selbst wenn man zwei Salzstandorte miteinander vergliche: beim einen ist die Ausdehnung des Salzstocks besser, beim anderen seine tiefe Lage unter der Oberfläche, beim dritten seine Abdeckung, also das so genannte Deckgebirge. Angesichts dessen kann man nicht sagen, der eine Standort ist am besten geeignet. Man kann nur sagen, ob ein Standort geeignet ist oder nicht. ({2}) Die Bundesregierung hat immer wieder betont, dass es bis 2030 ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle geben werde. Das ist auch deshalb erforderlich, da die Zwischenlager und die Castorbehälter lediglich für 40 Jahre genehmigt sind und niemand wollen kann, dass sie über diesen Zeitpunkt hinaus Bestand haben. Wenn noch andere Standorte erkundet werden sollen, so ist der Zeitpunkt 2030 für ein funktionierendes Endlager unerreichbar. Der Vorschlag der Union lautet deshalb: Das Versuchsbergwerk Gorleben muss zügig zu Ende erkundet werden. Das dauert noch circa zwei bis drei Jahre. Danach ist eine Langzeitsicherheitsanalyse in Vorbereitung des Planfeststellungsverfahrens erforderlich. Die erhobenen Daten müssen bewertet werden. Dafür ist - wiederum nach Angaben von Präsident König von gestern ein Zeitraum von acht bis zehn Jahren erforderlich. Das BfS unterstreicht in seinem Synthesebericht „Wirtsgesteine im Vergleich“ vom November 2005 ausdrücklich, dass ein Nachweiskonzept für die Langzeitsicherheit verfügbar ist und die Sicherheit eines möglichen Endlagers nur mit standort- und anlagenspezifischen Sicherheitsanalysen ermittelt werden kann. Dabei könnte der am 3. September 2006 in der „Welt am Sonntag“ gemachte Vorschlag des Umweltministers, durch internationale Gutachter internationale Sicherheitsstandards anlegen zu lassen, helfen, eine Analyse, die Entscheidungsgrundlage für die Politik sein kann, zu erhalten. Machen wir uns nichts vor: Entscheiden und die politische Verantwortung für die Auswahl des Endlagers übernehmen muss der Deutsche Bundestag. Dazu sind wir Abgeordnete der großen Koalition - ich verweise auf unseren Koalitionsvertrag - bereit. Sollte die Langzeitsicherheitsanalyse für Gorleben sprechen, dann sollten wir uns für Gorleben entscheiden. Spricht sie gegen diesen Standort, so muss selbstverständlich ein anderer Standort gesucht werden. ({3}) Erst danach beginnt das Planfeststellungsverfahren, das im Fall von Schacht Konrad 20 Jahre gedauert hat und bei dem selbstverständlich eine umfangreiche Beteiligung der Öffentlichkeit vorgesehen ist. Dann wird der Planfeststellungsbeschluss sicherlich noch einmal gerichtlich überprüft werden. Das Zieldatum 2030 ist aus meiner Sicht ohnehin kaum noch zu erreichen. Doch das soll uns nicht daran hindern, den vorgeschlagenen Weg zu gehen. Sorgfalt und Sicherheit gehen dabei vor Termindruck. Doch wir sollten jetzt zügig an der Lösung der Probleme arbeiten, auch um der Bevölkerung vor Ort endlich Sicherheit hinsichtlich der Planungen der Politik zu geben. Die Bevölkerung in Gorleben und der Samtgemeinde Gartow trägt seit über 30 Jahren an ihrer Bereitschaft, möglicherweise ein nationales Endlager bereitzustellen. Bei jedem Castortransport führen großenteils angereiste Demonstranten zu teilweise erheblichen Behinderungen des öffentlichen Lebens. Dennoch haben die Gemeinde Gorleben und die Samtgemeinde Gartow im Herbst 2005 in einem Brief an die Verhandlungsführer der großen Koalition gefordert, die Erkundung zügig fortzusetzen. Die kommunalen Mehrheitsverhältnisse, die diesen Brief tragen, sind bei der Kommunalwahl vor drei Wochen eindrucksvoll bestätigt worden. Wir sollten uns unserer nationalen Verantwortung für die sichere Endlagerung radioaktiver Abfälle stellen, die Lösung dieser Frage zügig und ergebnisorientiert angehen und noch in dieser Legislaturperiode zu einem Ergebnis kommen, so, wie der Koalitionsvertrag es vorsieht. Herzlichen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Brunkhorst, FDP-Fraktion. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen und Herren! Ich muss mich wirklich wundern. Frau Künast, ich empfehle Ihnen dringend, die Chronologie zu lesen, die vom BfS im Jahr 2005 in dem Bericht „Endlagerung radioaktiver Abfälle als nationale Aufgabe“ erstellt wurde. Dort werden Sie Antworten darauf finden, wonach Sie heute gefragt haben. Herr Trittin - dahinten sitzt er muss ja ständig zusammengezuckt sein; ({0}) denn Sie haben hier die Hinterlassenschaft Ihrer Politik kritisiert. Das haben Sie gerade getan und nichts anderes. ({1}) Kommen wir zum Thema. Wir brauchen endlich eine Lösung für das Problem der Lagerung der bereits in erheblichem Maße angefallenen radioaktiven Abfälle. Das ist allen im Hause klar. Ich denke, dass wir eine baldige Endlagerung für die schwach- und mittelradioaktiven Abfälle in Sicht haben. Sie ist greifbar nahe. Denn wir haben bereits einen Planfeststellungsbeschluss für den Schacht Konrad. Dieser Planfeststellungsbeschluss ist unter der Ministerpräsidentschaft von Herrn Gabriel in Niedersachsen entstanden. Es stehen natürlich noch einige rechtliche Beschwerden aus. Aber ich habe die Hoffnung, dass das Verfahren Ende des Jahres abgeschlossen sein wird. Dann können wir unter Umständen Anfang nächsten Jahres mit dem Bau von Schacht Konrad beginnen. Ich bin in dieser Hinsicht sehr zuversichtlich. ({2}) Äußerst dringlich ist den Liberalen natürlich die Lösung des Problems der Endlagerung der hoch radioaktiven Abfälle, auch wenn diese insgesamt gerade einmal 10 Prozent aller radioaktiven Abfälle ausmachen. Die Menge von etwa 25 000 Kubikmeter wurde genannt. Ich denke, trotz alledem stellt sich die Sachlage so dar, dass die Untersuchungen im Erkundungsbergwerk Gorleben bereits weit fortgeschritten sind. Die Situation wurde ja so dargestellt, als wäre überhaupt noch nichts passiert. Deswegen möchte ich sie hier noch einmal darstellen. Das Erkundungsbergwerk Gorleben besteht seit 1977. Zwei Drittel aller anstehenden Arbeiten sind bereits erledigt. In Gorleben wird eine Konditionierungsanlage geprüft und dort wird zwischengelagert. Die finanziellen Aufwendungen sind von der Kollegin Flachsbarth bereits genannt worden. Sie liegen mittlerweile bei 2 Milliarden Euro. Dort ist also schon einiges geleistet worden, nicht nur wissenschaftlich, technisch und von der Expertise her, sondern auch finanziell. Deswegen ist es für mich unerklärlich, dass Sie, Herr Gabriel, am Moratorium festhalten. Denn wir haben die so genannten zwölf Zweifelsfragen, die vom damaligen Umweltminister Trittin in Auftrag gegeben wurden, abgearbeitet und 2005 als geklärt bewertet. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/ Die Grünen, Sie reklamieren in Ihrem Antrag Transparenz. Das finde ich gut, aber auch erstaunlich, weil Sie diejenigen sind, die im September 2005, als es darum ging, das Ergebnis der Klärung dieser zwölf Zweifelsfragen offen und transparent darzustellen, einen Workshop hinter verschlossenen Türen gemacht haben. ({4}) - Aha, so war das. Als Stand der Dinge ist zu konstatieren: Die Bewertungen der Experten von GRS, DBE und BGR fallen so aus, wie es auch gestern von Herrn König, dem Präsidenten des BfS, bestätigt wurde - das wiederhole ich natürlich gerne -: dass die grundsätzliche Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben ({5}) nicht infrage zu stellen ist und die fachliche Aussage der Experten weiterhin Bestand hat, dass es aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür gibt, eine der in Deutschland vorkommenden Wirtsgesteinformationen - Granit, Ton und Salz - zu favorisieren. ({6}) Ich möchte aus Sicht der Liberalen an Herrn Minister Gabriel appellieren: Das „Moratorium Gorleben“ muss aufgehoben werden. Dieser Schritt ist längst überfällig. ({7}) - Drei Mitglieder Ihrer Fraktion werden zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen. Sie können dann auf meine Ausführungen eingehen. ({8}) - Wenn wir den Salzstock Gorleben weiter erkunden, werden wir sehen, ob er geeignet ist. Wir wollen ihn doch auch weiterhin erkunden, Herr Kelber. ({9}) Herr Gabriel hat in den letzten Stellungnahmen, die er im Umweltausschuss abgegeben hat, formuliert, dass noch Handlungsbedarf besteht. Er hat einen weiteren Synthesebericht angefordert und gesagt, dass er weitere Sicherheitskriterien aufstellen möchte. Diese Aussagen sind für uns nebulös. Daher hake ich jetzt an einer Stelle nach, an der Frau Flachsbarth bereits sehr weit in die Tiefe gegangen ist: Wir untersuchen das seit 20 Jahren und haben auch wissenschaftlichen Sachverstand einfließen lassen. Es wird doch wohl irgendwelche Sicherheitskriterien gegeben haben. Es kann doch nicht ohne jegliche Basis und ohne Anforderungen geforscht worden sein. Es geht um Sicherheitsaspekte. Das gilt für die letzten 20 Jahre, für heute und natürlich auch für die Zukunft. Worum soll es denn sonst gehen? Herr Gabriel, da Sie Ihre Rede gleich im Anschluss halten, möchte ich Sie ganz ernsthaft bitten - das ist keine Polemik -, deutlich zu machen, was ganz konkret noch fehlt ({10}) und welche Erkenntnisse, über die wir heute noch nicht verfügen, wir vielleicht daraus werden ziehen können. Ich bin gespannt. Manche Vorhaben, die Ihr Vorgänger, Herr Trittin, in Angriff genommen hat, sind noch nicht abgearbeitet. Der AK-End-Bericht zum Beispiel ist unter Herrn Trittin und auch unter der jetzigen Regierung noch nicht abschließend bewertet worden. Das muss nachgeholt werden, um eine umfassende Bewertung vornehmen zu können. Herr Trittin konnte sich im Hinblick auf ein Endlagersuchgesetz in der rot-grünen Koalition nicht durchsetzen. Sie, Herr Gabriel, haben nun ein Standortsuchgesetz in die Diskussion eingebracht. Damals ist das Endlagersuchgesetz auch am Widerstand aus den Reihen der SPD gescheitert. ({11}) Ich denke, dass uns diese Diskussion im Moment überhaupt nicht weiterbringt und sie eine reine Verzögerungstaktik ist. Den Gegenwind aus dem Koalitionsausschuss haben Sie bereits verspürt. Wir meinen, dass die Erkundung weiterer Standorte erst dann notwendig und sinnvoll ist, wenn sich nach der Beendigung der Erkundungsarbeiten in Gorleben auch nur der geringste Zweifel an der Eignung dieses Standorts ergibt. In diesem Fall - hier kann ich meiner Vorrednerin nur zustimmen - werden wir mit der Suche nach einem neuen Standort beginnen müssen. Herr Gabriel, diese politisch hoch brisante Diskussion werden wir führen müssen. Die Bürger jeder potenziellen Suchortgemeinde werden natürlich mit Recht fordern: Macht erst einmal das zu Ende, was noch offen ist. Sie werden fragen: Warum fangt ihr an anderen Standorten an, obwohl ihr den einen noch nicht einmal abschließend bewertet habt? Schauen wir uns die geologische Landkarte von Deutschland an: 80 Prozent der potenziellen Wirtsgesteinformationen liegen in Niedersachsen. Einige wenige liegen in Nordrhein-Westfalen, einige wenige in Baden-Württemberg und wenige in Bayern. Die Odyssee bei der Suche nach einem alternativen Standort ist also nicht zu rechtfertigen, solange die Untersuchung von Gorleben nicht abgeschlossen ist. ({12}) Ich wünsche mir für die Zukunft - ich denke, da bin ich nicht alleine -, dass wir mehr wissenschaftlichen Nachwuchs für den kerntechnischen und sicherheitstechnischen Bereich ausbilden und ihm auch die Chance geben, sein Wissen anzuwenden. Das wird sicherlich zu mehr Sicherheit führen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Die Entsorgungsfrage wurde in den letzten Jahren verschleppt, zulasten nachfolgender Generationen. Herr Minister Gabriel, ich appelliere an Sie - wir werden das ständig wiederholen, das verspreche ich Ihnen -: Beenden Sie das und zeigen Sie den Mut, konkrete Schritte einzuleiten! ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor ich nun das Wort dem nächsten Redner erteile, will ich darauf hinweisen, dass, wie ich gerade sehe, zwei Kollegen aus der Fraktion Die Linke Embleme Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt tragen, die diesem Saal, dieser Diskussion und diesem Haus nicht angemessen sind. ({0}) Ich bitte Sie, Ihre Zeichnungen mit dem durchgestrichenen Hakenkreuz abzunehmen. Nun erteile ich für die Bundesregierung das Wort dem Bundesminister Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema, das uns heute beschäftigt, ist in der Tat ebenso schwierig zu lösen, wie es umstritten ist. Um bei Frau Brunkhorst anzufangen: Wissen Sie, es kommt immer darauf an, wie man fragt. Wenn man jemanden fragt: „Bist du einverstanden damit, dass man bei dir zu Hause nach einem Endlagerstandort sucht?“, sagen in der Regel hundert Prozent der Betroffenen: Nein. ({0}) Wenn man dagegen fragt: „Bist du der Auffassung, dass man den geeignetsten Standort für ein Endlager suchen muss?“, sagen der letzten Umfrage zufolge mehr als zwei Drittel der Befragten: Ja, natürlich müsst ihr Alternativen vergleichen. Eigentlich sagt einem der gesunde Menschenverstand, dass man sich nicht auf einen Standort verlassen kann. ({1}) Ich sage gleich etwas dazu, was die internationale Gemeinschaft in dieser Frage denkt. Überlegen Sie einmal: Da wird in den 70er-Jahren angefangen, einen Standort auf Eignung zu prüfen - mit Wissenschaft und Technik auf dem Stand der 70er-Jahre -, einen Standort, an dem hoch gefährliche Stoffe für 500 000 bis 1 Million Jahre, jedenfalls für einen unvorstellbar langen Zeitraum, sicher abgeschlossen werden sollen. Gerade haben Sie gesagt: Es gibt kein Wirtsgestein, das besonders gut geeignet ist. Dann ist es doch nur logisch, verschiedene Wirtsgesteine zu prüfen, um sagen zu können, welches nach menschlichem Ermessen der sicherste Ort ist, um radioaktive Abfälle einzulagern. Das ist eine Frage der Logik, mehr nicht. ({2}) Wissen Sie, wer das auch logisch findet? Die Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien aus BadenWürttemberg - auch der FDP -, die uns, die Bundesregierung, auffordern, sich dafür einzusetzen, dass die Schweiz, die ein Endlager an der Grenze zu BadenWürttemberg plant, sich ja nicht auf den ins Auge gefassten Standort festlegt, bevor sie alternative Standorte daraufhin geprüft hat, ob sie nicht besser geeignet sind. ({3}) Ich glaube, dass die Recht haben. Ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg einen Anspruch darauf haben, dass wir uns dafür einsetzen. Ich habe gehört, die Schweizer wollen das auch so machen. Doch warum soll das nur für die Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger gelten? Das muss doch für alle Deutschen gelten. Man muss einen Standort nach bestem Wissen und Gewissen wählen, es sei denn, man hat einen Geheimplan, Frau Brunkhorst, der lautet: Ich will nicht mit diesem Problem belastet werden. Denn natürlich ist es ganz schwierig, jemandem zu erklären, dass bei ihm vor der Tür nach einem geeigneten Standort gesucht wird. Das ist für jeden, der in der Politik ist, für jeden Kommunalpolitiker ganz schwierig, und zwar überall. Wenn man dem entgehen und das Problem sozusagen loswerden will, dann kann man nach dem so genannten Sankt-Florians-Prinzip handeln: Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ andere an. Wenn das ausgerechnet diejenigen tun, die sich für den Ausbau der Kernenergie einsetzen, dann wird es schwierig. Ich glaube, deswegen müssen wir uns etwas redlicher mit der Frage auseinander setzen. Frau Kollegin Künast, bei aller inhaltlichen Sympathie für das, was Rot-Grün dort diskutiert hat: Ich fand es ein bisschen mutig, als Sie vorhin gesagt haben, dass wir immer noch kein Endlagerkonzept vorgelegt haben. 1998 haben Sie dem AK End einen Auftrag erteilt. 2002 wurde Ihnen der Bericht übergeben. Auch nach drei weiteren Jahren haben Sie sich noch nicht in der Lage gesehen, ein solches vorzulegen. Ich mache Ihnen das übrigens nicht zum Vorwurf. In Ihrer Rede sagten Sie vorhin, dass das an der Koalition lag, weil es mit den Sozialdemokraten so schwierig gewesen sei. ({4}) - Das darf man sagen. Wenn es aber in Ihrer Koalition drei Jahre lang schwierig war, dann darf es in der Koalition von SPD und CDU/CSU mindestens elf Monate lang schwierig sein. Ich finde, Sie müssen die Elle bei allen gleich anlegen. ({5}) Sie wissen, dass das ein schwieriges Thema ist. Wir versuchen, das so schnell wie möglich inhaltlich zu klären. Um nur einmal etwas zur Zeitdauer zu sagen: Ich hoffe, dass alle wissen, dass wir vor 2030 auch wegen der notwendigen Abklingphase von Brennelementen selbst dann nicht zur Einlagerung von hoch radioaktiven Stoffen kommen könnten, wenn wir vorher ein Endlager hätten. Frau Kollegin Flachsbarth, an Ihrer Argumentation ist eine Sache nicht ganz logisch. Darüber müssten Sie noch einmal diskutieren. Sie sagen, dass Sie Gorleben zu Ende erkunden und dann zehn Jahre lang eine Langzeituntersuchung durchführen wollen. Wenn Sie dann feststellen, dass Gorleben nicht geeignet ist, wollen Sie damit beginnen, einen alternativen Standort zu suchen. Hierdurch ist eines sichergestellt: Bis 2030 schaffen Sie das mit Ihrem Konzept niemals. Wir sind da auf der sichereren Seite. Hier ist ein Bruch in der Logik. ({6}) Wie weit sind wir? Erstens, insbesondere an die Kollegin Künast gerichtet: Wie von mir angekündigt, hat das Bundesumweltministerium den Spitzen der Koalition in diesem Sommer - jedenfalls dann, wenn man den September noch zum Sommer zählt - ein Konzept zur Umsetzung eines Endlagers in Deutschland zugeleitet. Die Tatsache, dass Sie das noch nicht haben, spricht für die Qualität der vertrauensvollen Zusammenarbeit in der großen Koalition und nicht gegen sie. Das wollte ich vorsichtshalber nur einmal anmerken. Zweitens. Dieses Konzept wird jetzt durch die Koalitionsspitzen beraten. Drittens. Das Konzept wurde übrigens unabhängig von der aktuellen Laufzeitdebatte geschrieben, formuliert und diskutiert. Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich darauf Wert lege. Eine Randbemerkung zu Schacht Konrad, bevor ich noch etwas zur Kontroverse um Gorleben sage. Sie wissen, dass ich auch aufgrund meiner Biografie nicht gerade der Vorsitzende des Fanclubs von Schacht Konrad bin. Ich finde es allerdings ein bisschen problematisch, wenn sich ein Mitglied der früheren Regierung, der Regierung, die Schacht Konrad nach bestem Wissen und Gewissen über die zuständige Behörde vorangetrieben und uns mit Weisungen dazu gebracht hat, dass wir den Planfeststellungsbeschluss am Ende gefasst haben, jetzt hier hinstellt und sagt, der Beschluss hinsichtlich Schacht Konrad sei auf problematische Weise zustande gekommen. Das würde ich nicht tun. ({7}) Ich muss Schacht Konrad weniger verteidigen als Sie. Jetzt gilt aber eines - darauf hat Frau Dr. Flachsbarth hingewiesen -: Es gibt einen Gerichtsbeschluss und eine Nichtzulassungsbeschwerde dagegen. ({8}) Wenn darüber entschieden ist, dann wird sich die Bundesregierung ohne weitere Verzögerung exakt so verhalten, wie uns das dann durch den Gerichtsbeschluss vorgeschrieben wird. Das könnten Sie auch nicht anders tun. ({9}) Zu Gorleben. Im Jahre 1974 wurde von der Bundesregierung das Konzept eines nuklearen Entsorgungszentrums vorgestellt. An einem Ort sollten Wiederaufbereitung, Brennelementefabrik, Konditionierungsanlagen und Endlager konzentriert werden. In mehreren Auswahlverfahren wurden unter Zugrundelegung nach heutigen Maßstäben sehr einfacher Kriterien - das ist die Antwort auf Ihre Frage, Frau Brunkhorst - verschiedene Standorte geprüft. Die Standortauswahl bezog sich dabei eben nicht auf ein Endlager, sondern auf ein Gelände für das geplante nationale Entsorgungszentrum in der Größe von circa 12 Quadratkilometern. Im Jahre 1976 wurde vorgeschlagen, die Standorte Weesen-Lutterloh, Lichtenhorst und Wahn im Auftrag des Bundes gleichzeitig und gleichrangig zu untersuchen. Damals war man der Meinung, man müsse Standorte gleichzeitig gegeneinander abgleichen. ({10}) Das war die Position der Bundesregierung. Gorleben war damals nicht dabei. Nachdem es an allen drei Standorten zu Protesten gegen die Erkundung kam, wurden noch 1976 die Arbeiten aufgrund von Bedenken der niedersächsischen Landesregierung eingestellt. Niedersachsen benannte dann später Gorleben als Standort. Schon damals war Gorleben nicht erste Wahl. Der Entscheidung für Gorleben liefen Entscheidungen mit Standortalternativen voraus, die nicht transparent waren und sich nur, Frau Brunkhorst, auf ganz wenige sicherheitsbezogene Kriterien stützten und nicht aufgrund von vorher systematisch festgelegten Auswahlund Sicherheitskriterien erfolgten. Bei der Auswahl Gorlebens kommt hinzu, dass nicht allein ein Standort für ein Endlager gesucht wurde, sondern die Suche ging, wie gesagt, weit darüber hinaus. Ich sage Ihnen: Mit den damals angelegten Kriterien für die Auswahl von Gorleben wäre heute das Prozessrisiko enorm hoch, wenn wir versuchen würden, Gorleben auf Teufel komm raus durchzusetzen. ({11}) Wer 2030 ein Endlager haben will, der muss bereit sein, die Konsequenzen zu ziehen und - jetzt kommt es - internationale Standards für die Auswahl eines Endlagerstandorts zugrunde zu legen. Das ist mein Vorschlag.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit zwar schon knapp überschritten. Gestatten Sie gleichwohl eine Zwischenfrage der Kollegin Brunkhorst?

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Gerne.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, es geht mir wirklich darum, diese Dinge zu verstehen. Deswegen möchte ich Sie einfach bitten - das habe ich auch vorhin klar gemacht -: Sagen Sie mir doch einmal, welch tiefer gehendes Kriterium, das Sie auf Anhieb benennen können, fehlt. Ich möchte das gerne nachvollziehen. Auch ich diskutiere mit Experten. Diese sagen mir, sie könnten nicht erkennen, ob wir heute bei einer Suche auf der Grundlage von bestimmten Kriterien zu anderen Ergebnissen kämen. Ich möchte Sie auch etwas zur Standortsuche fragen, die damals im Vorlauf zu Gorleben stattgefunden hat. Damals sind 140 Standorte untersucht worden. Zudem erfolgte die Suche bundesweit und nicht nur in Niedersachsen. Ich bitte Sie, das zu berücksichtigen. Der Bericht des Bundesamtes für Strahlenschutz ist wirklich hochinteressant. All das, was ich gerade genannt habe, steht dort. ({0})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Brunkhorst, es geht darum, dass vor der Auswahl des Standortes die Auswahl- und Sicherheitskriterien sowie das Verfahren, nach dem geprüft wird, festgelegt werden müssen. Auch die internationalen Standards, die heute gelten, müssen berücksichtigt werden. All das ist damals nicht passiert. Als Antwort auf Ihre Frage möchte ich auf die Aufforderung der Internationalen Atomenergiebehörde zu sprechen kommen. Deutschland hat die so genannten „Safety Requirements: Geological Disposal of Radioactive Waste“ unterschrieben. Im Mai des Jahres 2006 haben wir von der IAEO einen Bericht bekommen, in dem wir aufgefordert werden, entsprechend der Konvention, der wir beigetreten sind, in einem so genannten zweiten Überprüfungsbericht zu diesem Übereinkommen klare und transparente Kriterien für die Standortauswahl und ein Standortauswahlverfahren entsprechend der Praxis in anderen Ländern mit fortgeschrittenem Endlagerprogramm festzulegen. Dies interpretiere ich so: Die IAEO ist der Auffassung, dass wir den internationalen Kriterien mit dem, was wir 1976 für Gorleben getan und bis dahin entwickelt haben, nicht gerecht geworden sind. Wir haben aber dazu einen Vertrag unterschrieben. In dieser Situation befinden wir uns und das ist meine Antwort auf Ihre Frage. ({0}) Ich bin bereit, im Umweltausschuss detailliert darzulegen, was noch an Kriterien fehlt und wo wir die Schwierigkeiten sehen. Ich sage Ihnen noch etwas: Ich bin nicht dagegen, Gorleben nicht weiter zu erkunden. Allerdings muss dies unter der Voraussetzung geschehen, dass wir zeitgleich die alternative Standortsuche nach gemeinsamen und internationalen Kriterien beginnen. Ich bin dafür, dass die weitere Erkundung von internationalen Experten durchgeführt wird. Ich sage Ihnen auch, warum. In Deutschland sind meines Erachtens inzwischen viel zu viele entweder auf ein Ja oder Nein zu Gorleben festgelegt. Ich bin sogar dann bereit, Gorleben in Betrieb zu nehmen, wenn es auch nur gleich gute Endlager an anderer Stelle gibt, weil in Gorleben das meiste Geld investiert worden ist. Aber ich finde es fahrlässig, sich in einer Frage, bei der es um 1 Million Jahre geht, auf einen 1977 ausgewählten Standort zu beschränken. Das halte ich - das sage ich offen und von Herzen; es ist kein politischer Trick - für unverantwortlich. Sie werden keinen niedersächsischen Sozialdemokraten finden, der sich in der Vergangenheit bereit erklärt hätte, Gorleben selbst dann, wenn andere Standorte nur gleich gut geeignet sind, in Betrieb zu nehmen. Bisher sind wir immer vom Burden-Sharing ausgegangen oder wie der Bauer sagt: Der Mist gehört auf den Bauernhof, auf dem die Kühe stehen. Deswegen waren wir in der Vergangenheit dafür, dass auch andernorts ein Endlagerprojekt betrieben wird. Wenn wir gleich geartete Standorte finden, wird Gorleben ausgewählt. Aber wir müssen die Standorte untersuchen. Die Frage ist in der Koalition strittig. Frau Professor Dr. Flachsbarth hat die Lage völlig richtig geschildert. ({1}) - Habe ich sie gerade habilitiert? ({2}) - Ich finde, Sie haben es verdient. ({3}) Ich habe aber leider nicht die Möglichkeit dazu. Ich weiß, dass die Frage strittig ist, Frau Dr. Flachsbarth. Ich wollte versuchen zu erläutern, warum wir glauben, dass wir so vorgehen müssen. Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Kaum ein Land der Erde verzichtet bei der Suche nach einem geeigneten Endlagerstandort für radioaktive Abfälle auf ein Standortauswahlverfahren und einen Standortvergleich. Das ist internationaler Standard. Ich finde, dass sich das Land, das technologisch auf dem höchsten Stand ist und die entsprechende Verantwortung empfindet, dem internationalen Standard beugen sollte. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nachdem die beiden Kollegen aus der Fraktion Die Linke meiner vorherigen Bitte nicht gefolgt sind, will ich diese wiederholen und sie auch begründen. Liebe Kollegen, dieser Raum ist ein Ort, an dem wir uns mit Argumenten und Wortbeiträgen auseinander setzen. Es ist kein Ort der Demonstration. Ich bitte, dies auch zu berücksichtigen und zu beachten. Es ist ein Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Übereinkommen aller Mitglieder dieses Hauses. Deshalb bitte ich auch die Mitglieder der Fraktion Die Linke, sich dieser Bitte nicht zu verschließen. Ansonsten wird dies im dafür zuständigen Gremium, dem Ältestenrat, besprochen werden. ({0}) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Kurt Hill, Fraktion Die Linke. ({1})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis der Großen Anfrage der Fraktion der Grünen kann man in einem Satz zusammenfassen: In Sachen Atomendlager gibt es nichts Neues. Aber das kennen wir auch aus eigener Erfahrung mit unseren Fragen an die Regierung, die wir im Interesse der besorgten Bürgerinnen und Bürger stellen. Der beliebteste Antwortsatz lautet - Frau Künast hat ihn eben zitiert -: „Die Bundesregierung beabsichtigt, die Lösung der Endlagerung zügig und ergebnisorientiert anzugehen.“ ({0}) Wie lange sollen wir uns das noch anhören? Fangen Sie endlich an! Ich hoffe, Herr Gabriel, dass Sie es nicht auf die lange Bank schieben. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mit Ihrem Antrag arbeiten Sie zurzeit die Versäumnisse in Ihrer eigenen Regierungszeit auf. Das sei kurz zur Erinnerung gesagt; es ist schon angesprochen worden. Wesentlich schöner wäre es gewesen, wenn wir heute ein Suchkonzept für ein Endlager diskutieren könnten. Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Sie gehen ganz anders an das Thema heran. Sie machen eine Reise in die Vergangenheit und wollen den Atommüll in vorhandene Löcher kippen - mit Vorstellungen über Endlager, die 30 Jahre alt sind. Das hat der Minister eben noch einmal sehr deutlich gemacht. Eine Vorfestlegung auf Gorleben und Schacht Konrad ist nicht nur unsachlich, sondern meiner Meinung nach in der Form auch völlig unverantwortlich. ({2}) Mit einem schlüssigen Endlagerkonzept wäre uns womöglich Schacht Konrad erspart geblieben. Ich bin froh, dass eben vollständig zitiert wurde, was das Bundesamt für Strahlenschutz wirklich gesagt hat: Man weiß nicht, ob Gorleben geeignet oder nicht geeignet ist. Was Schacht Konrad betrifft, müssen die Anwohner zurzeit alleine für ihr Recht kämpfen. Ich will aber nicht, dass bei Gorleben das Gleiche passiert, weil keine Alternativen vorgelegt werden. ({3}) Statt Antworten zu bekommen, beobachten wir seit Monaten ein eigenartiges Spiel. Zuerst erfolgt der Aufschlag von Minister Gabriel: Atomausstieg. Dann kommt die Rückhand von Minister Glos: Ausstieg vom Ausstieg. Zudem haben wir zahlreiche Zaungäste - zumeist aus Hessen und Bayern -, die weitere Bälle aufs Spielfeld werfen. RWE und Co. wollen derweil neue Spielregeln. Aber eines übersehen Sie bei diesem Zirkus, meine Damen und Herren von der großen Koalition: Die Menschen in Deutschland haben Anspruch auf eine Antwort auf die Frage, wie es denn nun mit dem Atomausstieg weitergehen soll. ({4}) Zur Erinnerung: Die überwältigende Mehrheit in Deutschland lehnt die unbeherrschbare Atomenergie ab. ({5}) - Wieso hat das nichts mit der Endlagerfrage zu tun? Sie werden gleich verstehen, was es damit auf sich hat. Wie gesagt, die überwältigende Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland lehnt die unbeherrschbare Atomenergie ab. Daran ändert auch der Populismus der Atomstromlobby in diesem Hause und außerhalb nichts. Die Menschen sind ja nicht dumm. Ein Blick auf die Stromrechnung zeigt ihnen: Trotz abgeschriebener Kraftwerke ist Energie so teuer wie nie zuvor. Die Konzerne hingegen machen mit jedem Atommeiler pro Jahr 300 Millionen Euro Gewinn. Mit den Atomkraftwerken sichern RWE, Vattenfall und Co. ihre kartellartige Stellung ab. Tatsache ist: Atommeiler können nur in monopolartigen Strukturen und mit Subventionen betrieben werden. Unter diesen Bedingungen ist Atomstrom aber teuer, wie jeder Stromkunde sieht. Echter Wettbewerb ist Gift für die Atomlobby. Wer sich bei der Nutzung der Atomenergie auf den Klimaschutz beruft, der hat in der Tat fachliche Probleme mit diesem Thema. Im Emissionshandel gibt es festgelegte Obergrenzen für den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen. Laufzeitverlängerungen bringen also im Hinblick auf den Klimaschutz gar nichts, weil die Energieversorger eine festgelegte Menge CO2 ausstoßen dürfen. Das werden sie - nebenbei gesagt - auch tun. Der Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie ist der einzig gangbare Weg und grundlegende Voraussetzung, um das Endlagerproblem anzugehen. Wenn ich zu Hause meine Badewanne voll laufen lasse, drehe ich den Wasserhahn zu, bevor die Wanne überläuft. ({6}) - Dann drehe ich den Wasserhahn ebenfalls zu. Aber das verstehen Sie leider nicht. Wir können nicht weiter giftigen Strahlenmüll erzeugen, obwohl uns klar ist, dass es über Jahrtausende keine Sicherheitsgarantien für hoch radioaktiven Strahlenmüll gibt. ({7}) Kein Mensch weiß, wie sich die Bedingungen in einem Endlager über so lange Zeiträume verändern. Die Festlegung einer solchen Lagerstätte ist eine gewaltige gesellschaftliche Aufgabe. Die Zeit bis 2030 wird bei der Umsetzung schneller vergehen, als uns lieb ist. Deshalb erfüllt es uns mit großer Sorge, dass sich die Bundesregierung noch immer nicht in der Lage sieht, grundsätzliche Fragen das Endlager betreffend zu beantworten. Wir sollten uns ernsthaft fragen, warum sich die Regierung vor der Beantwortung der Fragen nach Transparenz, Ergebnisoffenheit und Öffentlichkeitsbeteiligung drückt. Ich sage Ihnen: Es geht hier nicht um einen Geräteschuppen, sondern um ein Endlager für hoch radioaktiven, giftigen und gefährlichen Atommüll. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Um der Debatte mehr Ernsthaftigkeit zu verleihen: Herr Kollege Hill, Sie sollten mit Ihren Vergleichen vorsichtiger sein. ({0}) - Herr Trittin, zu Ihnen komme ich gleich noch. Ihre Zwischenrufe habe ich schon eingeplant. ({1}) Ich freue mich, dass Sie die heutige Debatte mit Ihrer Anwesenheit bereichern. Herr Hill, Sie haben den Vergleich mit der Badewanne gewählt. Aber Sie müssen sich schon ernsthaft mit den Fragen beschäftigen. Unabhängig davon, ob Sie die Kernenergie fortführen wollen oder nicht, müssen Sie die Entscheidung über die Endlagerung treffen. Dazu haben Sie kein schlüssiges Konzept angeboten. Sie haben die Grünen mit genau diesem Vorwurf kritisiert. Ich glaube, dass Sie in Ihrer eigenen Partei überlegen müssen, was Sie eigentlich dazu beitragen wollen, um dieser Problematik gerecht zu werden. ({2}) Die Bundesregierung muss schließlich diese Fragen, die zu Recht gestellt werden, beantworten. Der Bundesminister der großen Koalition hat viel von Logik und fast in philosophischer Manier von logischen Schlüssen gesprochen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zwingend logisch, dass das Moratorium in Gorleben aufgehoben wird. ({3}) Wir werden sonst keine ernsthafte und adäquate Antwort auf die Frage des Endlagers finden. Herr Trittin, ich habe Sie auf Ihren Zwischenruf hin angesprochen. Das Einendlagerkonzept, das die Vorgängerregierung vertreten hat und manche immer noch vertreten, halte ich für einen ganz großen Irrtum. Ich möchte Ihnen auch sagen, warum: Der Bundesrechnungshof hat am 27. November 2003 in einem Prüfbericht die finanziellen Risiken des Einendlagerkonzepts beanstandet. Spätestens da hätte die Vorgängerregierung umdenken und zur Sachdebatte zurückkehren müssen. Das Vorgehen Ihres Umweltministeriums sei - ich zitiere - „nicht zielgerichtet, unwirtschaftlich und wenig transparent“, schrieben die Prüfer damals. Recht haben sie damit. Zudem berge es finanzielle Risiken von mehreren Milliarden Euro für den Bundeshaushalt. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie verschwenderisch mit Steuermitteln dort umgegangen worden ist, wie gravierend die finanziellen Folgen dieser Einendlagerstrategie für den Bundeshaushalt sind und dass dieses Konzept nicht trägt. Das Geld könnte weitaus besser in die Forschung investiert werden. Dann würde man einen wirklichen Beitrag zur Sicherheit der Kernenergie insgesamt - auch weltweit - leisten. ({4}) Warum die Einendlagerstrategie falsch ist, lieferten die Rechnungsprüfer in ihrer Begründung gleich mit. In den geprüften Unterlagen fanden sie keinen einzigen Hinweis auf eventuelle wissenschaftlich-technische Vorzüge der Einendlagerkonzeption. Vielmehr sei Deutschland das einzige Land, das dieses Konzept überhaupt verfolge. Eindeutiger kann man es gar nicht sagen. Weil dem Bundesumweltminister damals die Argumente ausgingen - ich muss mich mit den Grünen beschäftigen; denn wir behandeln auch ihren Antrag -, haben Sie in Ihrer unnachahmlich polemischen Art dem Rechnungshof unterstellt, er wolle sich in politische Entscheidungen einmischen. Manchmal ist es besser, wenn man auf unabhängige Gutachter hört oder sie zumindest zur Kenntnis nimmt und sie nicht gleich polemisch abwertet. ({5}) Diese Einmischung haben Sie zurückgewiesen. Das Problem ist aber immer noch auf der Tagesordnung der großen Koalition. Sie tragen mit Ihrem Antrag und dem, was bisher von den Grünen hier vorgetragen worden ist, nicht dazu bei, dass wir tatsächlich einer Lösung näher kommen. Man kann sich über die Konzeption der Zukunft streiten, aber ich glaube, es ist seit 1998 erneut sehr viel Zeit verloren gegangen. Ein Beitrag der großen Koalition kann sein, dass wir diesen Zeitverlust zumindest begrenzen und uns um eine ernsthafte Lösung bemühen. Deshalb erneuere ich meine Forderung, das Moratorium für Gorleben aufzuheben und sich glaubwürdig um einen Standort für ein Endlager zu bemühen. Ich glaube, dass dies überfällig ist, unabhängig davon, wie sich die Zeitfenster der Zukunft entwickeln werden. Wir werden bei der neuen Prüfung von Standorten den Zeitrahmen von 2030 nicht einhalten, Höchstwahrscheinlich wird es dann 2050 sein. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben nach 35 Jahren Endlagersuche endlich eine Antwort auf die Frage verdient, wie es in Deutschland mit den radioaktiven Abfällen weitergehen soll. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries, SPD-Fraktion.

Christoph Pries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003874, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel! Seit nunmehr 30 Jahren diskutieren wir die Frage der Endlagerung radioaktiver Abfälle in Deutschland. Seither hat der Bundestag zahllose Debatten zum Thema Endlager erlebt. Dies waren immer besonders emotionale und kontroverse Debatten. Es stellt sich die Frage: Wo stehen wir heute? Eine Lösung der Endlagerfrage, die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird, haben wir bisher nicht erreicht. Mit diesem mageren Ergebnis befinden wir uns in guter Gesellschaft; denn weltweit existiert bis heute kein einziges Endlager für abgebrannte Brennelemente. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten denke ich, dass wir bereits in zwei Punkten Einigkeit erzielt haben: Erstens. Wir alle bekennen uns zur nationalen Verantwortung für die sichere Endlagerung unserer radioaktiven Abfälle. Zweitens. Es besteht Einigkeit über die nicht rückholbare Endlagerung in tiefen geologischen Formationen. Das ist eine Basis, auf der wir in den kommenden Monaten aufbauen können und müssen. Uns liegen heute zwei Anträge der Opposition vor, auf die ich im Folgenden eingehen möchte. Zuerst zum Antrag der FDP. Was Sie von der FDP tun, finde ich nicht ganz korrekt; denn Ihr Antrag, Frau Brunkhorst, ist nicht wirklich neu: Ihre Forderungen stammen nicht von Ihnen; sie sind einem Antrag der Union aus der letzten Legislaturperiode nahezu wortwörtlich entnommen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, für eine Partei mit einer Mitgliederkampagne unter dem Motto „Selbstdenker gesucht“ ist das schon ein bisschen bedenklich. ({1}) Sie offenbaren damit wieder einmal, dass Sie in zentralen Zukunftsfragen dieses Landes nichts Eigenständiges zu bieten haben. Selbst Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass es inzwischen eine Bundestagswahl gegeben hat. Selbst Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass Union und SPD sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt haben. Es handelt sich um einen Koalitionsvertrag, in dem wir uns verpflichtet haben, zügig und ergebnisorientiert zu einer Lösung der Endlagerfrage zu kommen. Daran arbeiten wir. Dabei gilt für die SPD-Bundestagsfraktion: Erstens. Sicherheit hat oberste Priorität. Denn bei der Frage der Endlagerung treffen wir Entscheidungen nicht für menschliche, sondern für geologische Zeiträume. Wir suchen deshalb nicht ein geeignetes, sondern das geeignetste Endlager. ({2}) Zweitens. Es muss eine ergebnisoffene, qualitativ hochwertige Endlagersuche geben. Drittens. Die Endlagersuche muss transparent sein. Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist für uns ein wesentliches Element - ein Element, das bei der bisherigen Standortauswahl völlig vernachlässigt wurde. Viertens. Die Endlagersuche muss ergebnisorientiert sein. Sie muss für Bürger, Politik und Energiewirtschaft Planungs- und Rechtssicherheit schaffen. Das bedeutet: Transparenz und Bürgerbeteiligung dürfen die Ergebnisorientierung nicht ad absurdum führen. Nun zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Auch auf Ihren Antrag möchte ich noch eingehen. Sie fordern die Bundesregierung auf, umgehend ein Konzept für eine ergebnisoffene Standortauswahl vorzulegen. „Umgehend“, Frau Künast: Man reibt sich verwundert die Augen; schließlich waren die Grünen doch sieben Jahre lang für das Umweltministerium zuständig. In sieben Jahren, Frau Künast, haben die Grünen es nicht weitergebracht als zu einem nicht abgestimmten Gesetzentwurf. Das hat der damalige Umweltminister Jürgen Trittin in einem Namensartikel in der „Netzeitung“ vom 11. Mai 2006 selbst noch einmal hervorgehoben - ich zitiere -: Irrig ist auch die Auffassung, es handele sich bei dem Gesetzentwurf um einen antizipierten Kompromiss mit dem damaligen Koalitionspartner. Es handelt sich um den vom Bundesumweltministerium unter meiner Leitung im Dezember 2004 fertig gestellten Entwurf. Es handelt sich um einen grünen Entwurf. Den nicht abgestimmten Gesetzentwurf haben Sie dann kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl noch veröffentlicht, um nicht ganz mit leeren Händen dazustehen. ({3}) Ich weiß, dass Sie seither immer wieder in der Öffentlichkeit verbreiten - auch heute wieder -, die SPD sei schuld an den Verzögerungen gewesen. Das ist in meinen Augen, Frau Künast, unredlich. ({4}) Um in einer Koalition über einen Gesetzentwurf zu beraten, muss zunächst einmal ein Gesetzentwurf vorliegen. Das ist die Aufgabe des federführenden Ministeriums. In diesem Fall war das Ihr Ministerium. Ich denke, es wäre fair, wenn Sie der neuen Bundesregierung zumindest einen Bruchteil der Zeit einräumten, die Sie sich selbst genehmigt haben. ({5}) Keine Sorge: Sieben Jahre werden wir dafür nicht benötigen. ({6}) Ich habe volles Vertrauen in den Bundesumweltminister, dass er schon bald ein Endlagerkonzept vorlegen wird. Wir haben gerade gehört, dass er den Spitzen der Regierungskoalition bereits ein Konzept hat zukommen lassen. Ich bin also zuversichtlich, dass wir sehr, sehr schnell zu einer entsprechenden Aussage kommen werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Vielleicht wundert es Sie, wenn ich einleitend sage, dass der Antrag der Fraktion der Grünen durchaus konsensfähige Teile enthält. Unabhängig davon, wie man zum Ausstieg aus der Kernenergie steht, muss man festhalten: Wir brauchen ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle und abgebrannte Brennelemente. Wir brauchen eine nationale Endlagerung, wir brauchen das Endlager bis zum Jahre 2030. Die Verantwortung dafür trägt die jetzt handelnde Generation. Diese Beschreibung der Ausgangslage ist eigentlich eine Grundlage für schlüssiges Handeln. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie sprechen von Verantwortung, meinen aber Verhindern, Verzögern, Verunsichern und Verängstigen. ({0}) Das ist eine altbekannte Strategie der Grünen vom Waldsterben bis zur Kernenergie: Sie schüren Ängste, um sich ihren eigenen politischen Markt zu schaffen. ({1}) Offenkundig geht es Ihnen darum, den Ausstieg aus der Kernenergie unumkehrbar zu machen. ({2}) Deshalb wollen Sie die Endlagerdiskussion möglichst breit, offen und langwierig führen. ({3}) Anderenfalls zöge der Vergleich nicht mehr, die Kernenergie sei wie ein Flugzeug ohne Landebahn. Sonst müsste man Farbe bekennen und über die Probleme reden, die uns der Ausstieg aus der Kernenergie wirklich bringt, nämlich über die Frage, wie wir unseren Strombedarf decken und die dafür notwendigen Kapazitäten schaffen sollen. Dann müsste man solche Kapazitäten tatsächlich aufbauen. ({4}) Frau Künast, wenn Sie so heftig bestreiten, dass es Ihnen um Verzögern geht, dann schauen Sie sich doch einmal an, was Sie in den sieben Jahren Ihrer Regierungsverantwortung getan haben. ({5}) Erreicht haben Sie das Moratorium für Gorleben 2000. Wer aber eine zügige Klärung dieser Fragen will, darf natürlich kein Moratorium erlassen, sondern muss schauen, dass die Eignung Gorlebens geprüft wird. Parallel kann dann diskutiert werden, was man darüber hinaus noch tun will, um Vergleichsmöglichkeiten zu haben. ({6}) Auch bei der Verstopfungsstrategie, die Sie mit dem Vorschlag betrieben haben, Zwischenlager an den Kernkraftwerksstandorten zu errichten, geht es doch nur um Verzögern, Verärgern und Verunsichern. Das, was Sie zuvor als Blechhütten abqualifiziert hatten, haben Sie plötzlich zwölffach kopiert. Als ruchbar wurde, dass Schacht Konrad juristisch nicht zu verhindern ist, haben Sie plötzlich von der Einendlagerstrategie gesprochen, um auch hier zu Verzögerungen zu kommen. Aber es wird noch kurioser. Sie sagen, man müsse die Verfahren aus den 70er-Jahren anzweifeln, als müsste man Rechtsstaatlichkeit ausgerechnet von den Steinewerfern der Vergangenheit lernen. ({7}) - Dass Herr Trittin an dieser Stelle am heftigsten lacht, ist aus meiner Sicht spannend.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Künast?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben darüber gesprochen, ob Sie Rechtsstaatlichkeit von Steinewerfern lernen sollten. Da wir beide uns im Dialog befinden, möchte ich von Ihnen gern wissen, wo ich jemals einen Stein geworfen hätte. ({0}) - Das hat er behauptet. Sie halten hier einen putzigen Beitrag. Ich hoffe, dass Sie im Rahmen Ihrer fünfminütigen Redezeit, die ich Ihnen mit meiner Frage gern um eine Minute verlängere, endlich zur Kernfrage kommen. Unabhängig davon, ob man den Ausstieg aus der Kernenergie will oder nicht - Sie wollen ihn nicht -, fällt Atommüll an. Mich interessiert brennend, ob Sie die erstbeste Möglichkeit für die Endlagerung nutzen wollen oder ob Sie nicht vielmehr auch der Idee anhängen, dass Sicherheit immer Vorrang hat und es deshalb darum gehen muss, die beste Lagermöglichkeit in Deutschland zu finden. Sind Sie in der CDU/CSU bereit, sich auf diesen Weg zu machen und nach der besten Endlagermöglichkeit zu suchen, oder wollen Sie einfach das jetzt Getestete nehmen, um Geld zu sparen?

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Künast, zunächst einmal habe ich Sie nicht direkt als Steinewerfer angesprochen. Ich bin überrascht, dass Sie sich an dieser Stelle so betroffen fühlen. ({0}) Im Übrigen: Das Thema Sicherheit liegt uns natürlich am Herzen. Wir wundern uns nur darüber, dass manche jetzt plötzlich die Kriterien ändern und nicht einen geeigneten, sondern den bestgeeigneten Standort wollen. Wir wundern uns über Leute, die sagen, dass bis zum Jahr 2030 alles soweit sein müsse, die aber das Moratorium nicht aufheben wollen und sich nicht länger mit dem Thema Gorleben beschäftigen wollen, sondern erst einmal - in der Hoffnung, dass es so etwas schneller geht - andere mögliche Standorte prüfen wollen. Das erinnert mich ein wenig an das Motto: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht was Bessres findet. In Ihren Reihen gibt es ja den einen oder anderen, der weiß, dass man auf diese Weise nicht einmal den richtigen Lebenspartner findet, geschweige denn ein Endlager. ({1}) Uns geht es darum, dass wir nicht alle 20 Jahre neue Kriterien einführen und auf einer neuen Bewertungsbasis über eine Frage reden, mit der wir uns schon 20 Jahre beschäftigt haben. Viele Bürgerinnen und Bürger fragen sich, ob das denn immer so weitergehen soll. Im Koalitionsvertrag gibt es dazu ganz klare Regelungen. Wir wollen keine ergebnisoffene, sondern eine ergebnisorientierte Suche. Wir wollen eine Lösung noch im Laufe dieser Legislaturperiode. Das ist ein zentrales Anliegen der Union. Mit uns wird es jedenfalls kein Standortsuchgesetz nach den Vorstellungen der Grünen zur Verunsicherung der Menschen geben. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Marco Bülow, SPD-Fraktion. ({0})

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass wir versuchen müssen, eine Balance zu finden: Auf der einen Seite dürfen wir nichts verzögern, sondern müssen dieses Endlager auf einem schnellen Wege finden. ({0}) Auf der anderen Seite dürfen wir aber nicht dem Prinzip „Aus den Augen, aus dem Sinn“ folgen. Darum geht es bei der Debatte und darum haben sich die Wortmeldungen gerankt. Eigentlich wollte ich es nicht, aber nun muss ich doch auf einige Vorredner eingehen. Herr Nüßlein, der Atomausstieg ist unumkehrbar. ({1}) Wir haben einen Vertrag geschlossen und wollen ihn auch einlösen. Herr Mißfelder, bei vielen Punkten sind wir uns einig, aber wir sollten vielleicht noch einmal darüber reden, dass Gorleben als Einendlager konzipiert worden ist. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen - ob wir das wollen oder nicht. Das aber nur als kurze Berichtigung. Frau Brunkhorst, Sie haben zum Schluss darüber gesprochen, dass wir es den zukünftigen Generationen schulden, ein Endlager zu finden. Das ist richtig; genau deswegen suchen wir ja nach dem bestmöglichen Standort. Aber wie kann man es als Generationenfrage bezeichnen, wenn es darum geht, in einigen Jahren - oder vielleicht auch in einigen Jahrzehnten - den bestmöglichen Standort zu finden, um mit einem Material umzugehen, das wahrscheinlich 1 Million Jahre oder noch viel länger strahlt? Man muss sich schon alle Mühe geben, den bestmöglichen Standort zu finden, und muss die Zeitspannen einmal im Verhältnis sehen. Da sollte man nicht von Generationen reden. ({2}) Das ist auch die Diskussion, die wir führen sollten. Wir sollten uns bewusst werden, über was wir hier reden. Es sind 24 000 Kubikmeter hoch belastendes Material. Das ist ungefähr - wir haben das einmal ausgerechnet - das Fassungsvermögen dieses Plenarsaalgebäudes. Davon ist schon 1 Kubikzentimeter ausreichend, um große Flächen oder zum Beispiel große Mengen von Wasser zu verseuchen. Darüber reden wir. Eine andere Umrechnung. Im Ruhrgebiet spricht man gern in der Fußballersprache. Man müsste 3,5 Fußballfelder einen Meter hoch mit Wasser füllen, wenn man es denn könnte. Bei dem schwach bis mittelstark radioaktiven Material wären das entsprechend 40 Fußballfelder. Das ist eine ganze Masse. Diese Größenordnung gilt aber nur, wenn wir aussteigen. Wir haben gerade vom Sankt-Florians-Prinzip gesprochen. Nur wenn wir aussteigen, macht es Sinn, über diese Menge zu sprechen. Wenn wir nicht aussteigen, erhöht sich die Menge. Egal ob wir dann noch über andere Risiken sprechen; diese Menge erhöht sich. Dessen, denke ich, müsste man sich immer bewusst sein, wenn man über ein Endlager spricht. Ich will noch einmal auf die 1 Million Jahre eingehen. Das ist auch nur eine Zahl, die vorgegeben ist. Die meisten Experten sagen, es müsste eigentlich 10 Millionen Jahre sicher gelagert werden. Uran-238, auch in den Brennelementen vorkommend, hat eine Halbwertszeit von 4,4 Milliarden Jahren. Frau Künast hat einen Vergleich mit den Pyramiden bemüht. Seit 8 000 Jahren gibt es menschliche Zivilisation. Ich weiß nicht, vor wie viel Millionen Jahren sich die Alpen hochgefaltet haben. Wer kann eine Garantie über Millionen von Jahren abgeben? Wer kann das wirklich? Nach menschlichem Ermessen können wir das nicht. Deswegen können wir kein sicheres Endlager, sondern nur das am besten geeignete finden. Aber zumindest genau dies sind wir den Menschen und den Generationen, die da kommen, schuldig. Die SPD bekennt sich zu dieser Verantwortung. Wir müssen das im Dialog lösen - anders haben wir keine Chance -, weil das Thema viel zu wichtig ist, als dass man nur Streit darüber führen kann. Wir müssen zu Lösungen kommen, die die Mehrheit der Menschen akzeptiert und die die Mehrheit dieses Bundestages vorgeben muss. ({3}) Das sollten wir alle nicht vergessen - bei allen Streitereien, die wir über Atomenergie und über Endlager haben. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Menschen. In der Debatte heute habe ich zumindest bei vielen herausgehört, dass wir uns dieser Verantwortung stellen wollen. In diesem Sinne: Alles Gute, bis dann! ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2790 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/1462 zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Offene Fragen zur Entsorgung radio- aktiver Abfälle klären - Verantwortung für nachfolgende Generationen übernehmen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/267 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstim- men der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie Zusatzpunkt 6 auf: 6 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union - Drucksache 16/2293 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss gemäߧ 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union - Drucksache 16/2954 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen - Drucksache 16/2997 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Petitionsausschuss Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort hat der Bundesaußenminister, Dr. FrankWalter Steinmeier.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Stunden wie diesen erinnert man sich an die Vorbereitungen der letzten großen Erweiterungsrunde 2004 - im Kern eine Osterweiterung der Europäischen Union und, wenn man so will, endlich eine sichtbare Dividende aus der Liquidationsmasse des Kalten Krieges. Die baltischen Staaten, Polen, Slowakei, Tschechien, Slowenien und Ungarn waren Dokument der wieder gefundenen Einheit Europas. Feuerwerke und Festveranstaltungen waren schon während der Ratifikationsphase in Vorbereitung; wachsende Euphorie war mit Näherrücken des Beitrittsdatums 1. Mai 2004 nicht nur in den Beitrittsstaaten - ich erinnere mich gut -, sondern durchaus auch in der alten Europäischen Union spürbar. Wenig davon ist heute spürbar, wenn wir über den bevorstehenden Beitritt Bulgariens und Rumäniens reden. Selbst die EU-Außenminister haben vergangenen Dienstag, am 17. Oktober, in, wie ich finde, ungewohnt trockener Sprache beschlossen: Der Rat nimmt zur Kenntnis, dass der laufende Prozess der Ratifizierung des Beitrittsvertrages weit gediehen ist ... Nun habe ich - meine Damen und Herren, Sie wissen das - nichts gegen Nüchternheit. Aber diese Sprache bettet sich ein in eine öffentliche Stimmung, die, wie ich finde, weder den historischen Ausgangspunkt der Beitritte Bulgariens und Rumäniens in Erinnerung noch die Chancen einer solchen Erweiterung und erst recht nicht die Nachteile des anderen Wegs, des Wegs der Zurückweisung, für Europa im Blick hat. ({0}) Deshalb lassen Sie mich noch einmal ganz kurz in Erinnerung rufen: Bei dem großen Projekt der Wiederherstellung der europäischen Einheit waren Bulgarien und Rumänien nie außerhalb unseres europäischen Bemühens. Von Anfang an gehörten sie zu jenen zentral- und osteuropäischen Ländern, die nicht nur - wie die anderen - durch den Eisernen Vorhang vom Rest Europas getrennt waren, nein, deren Orientierung wirtschaftlich und kulturell auf Europa, auf die Europäische Union fest ausgerichtet war. Wir alle - auch daran erinnere ich mich haben sie nicht erst seit Eröffnung der Beitrittsverhandlungen eingeladen, sich auf diesen Weg nach Europa zu begeben, wohl wissend, dass dieser Weg für Bulgarien und Rumänien wesentlich weiter sein würde als etwa für Polen, Tschechien und andere. Die historisch zu nennende Wiederherstellung der Einheit Europas als großes, friedenssicherndes Projekt, aber auch die Wiederherstellung der kulturellen Verbindungen und die Schaffung des größten einheitlichen Wirtschaftsraums der Welt hieß das große Ziel, das der Fall der Mauer in Berlin und alle daraus resultierenden Folgeereignisse erst möglich gemacht haben. ({1}) Diesen Prozess, meine Damen und Herren, haben alle deutschen Bundesregierungen seit 1990 von Anfang an aktiv unterstützt, natürlich auch, weil wir als Deutsche aus eigener Erfahrung wussten, was Teilung bedeutet. Alle Regierungen haben deshalb zu ihrer Verantwortung gestanden, zur Überwindung der Teilung auch in Europa beizutragen. Wenn wir über Bulgarien und Rumänien reden, dann erinnern wir uns doch bitte daran: Skepsis war auch in der Erweiterungsrunde 2004 weit verbreitet. Aber heute können wir sagen: Nicht nur die Erweiterungsländer haben und hatten Vorteile von diesem Beitritt. Bei allen gewachsenen Schwierigkeiten, die ich im letzten Jahr wirklich kennen gelernt habe, in den internen Abstimmungsprozessen der Europäischen Union - gerade deshalb brauchen wir die Verfassung - haben auch die alten Mitgliedsländer, auch Deutschland, von dieser Erweiterung profitiert. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn ich das sage, meine ich das nicht nur außenpolitisch. Deutschland ist zwar jetzt in der historisch einmaligen Situation, nur von Staaten umgeben zu sein, mit denen wir freundschaftlich verbunden sind; aber auch handfeste politische und wirtschaftspolitische Vorteile sind sichtbar geworden. Wenn wir uns am Jahresende hoffentlich wieder darüber freuen dürfen, dass Deutschland Exportweltmeister ist, dann erinnern wir uns bitte auch daran, dass zwei Drittel der deutschen Exporte nicht nach Indien, China und in die USA gehen, sondern in die Europäische Union und zunehmend auch in die neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union. Schauen Sie sich die großen LKW-Schlangen in Richtung Polen und Tschechien an; da finden Sie einen täglichen Beleg für diese Entwicklung. Wenn Bulgarien und Rumänien beitreten, so ist das nicht nur ein weiterer Schritt zu mehr Sicherheit in der Region des östlichen Balkans und am Schwarzen Meer. Auch hier sind deutsche Unternehmen seit längerem dabei, sich diese neuen Märkte zu erschließen. Nur durch den Beitritt kann der rechtliche Rahmen geschaffen werden, der für die Entfaltung von wirtschaftlichen Aktivitäten notwendig ist. Bulgarien und Rumänien haben seit 1989/1990 große Anstrengungen unternommen, um ihr politisches System, ihre Wirtschaft und ihr Rechtssystem an die Standards der Europäischen Union anzupassen. ({3}) Seit sie 1995 ihre Anträge auf Beitritt gestellt haben, haben beide Länder einen weiten Weg zurückgelegt, der auch mit Entbehrungen für die Bevölkerung und manchmal mit Rückschlägen verbunden war. Ich habe genauso wie Sie mit Spannung den letzten Monitoringbericht der Europäischen Kommission und ihre Einschätzung erwartet, ob der Beitrittstermin zum 1. Januar 2007 aus Sicht der Kommission gehalten werden kann. Aus meiner Sicht - ich habe es in diesem Hause schon einmal gesagt - hat die Kommission eine objektive und ehrliche Bestandsaufnahme vorgelegt. Ich teile die Einschätzung, dass es die Fortschritte, die beide Länder bei ihren innerstaatlichen Reformen während der letzten 15 Jahre erreicht haben, rechtfertigen, ihnen sowohl die Rechte als auch die Pflichten eines Mitglieds der Europäischen Union zu übertragen. Weil ich die Vorbehalte der Europäischen Kommission, die in dem letzten Monitoringbericht zum Ausdruck gekommen sind, und die öffentliche Diskussion kenne, sage ich, dass wir kein Geheimnis daraus machen dürfen, dass es in beiden Ländern Defizite gibt, über die man reden muss. In beiden Ländern ist der Aufbau einer unabhängigen, effizienten und transparenten Justiz noch nicht so gelungen, wie sich die Kommission und wir uns das vorstellen. Richtig ist auch, dass die Bekämpfung der Korruption in beiden Ländern weitergeführt werden muss. Es ist ebenfalls richtig, dass die Kommission mit Blick auf Bulgarien der Meinung ist, dass die Verfolgung und Ahndung von Geldwäsche und von organisierter Kriminalität noch zu wenig vorzeigbare Ergebnisse gebracht haben. Ich sage deshalb ausdrücklich: Wir müssen darüber reden - es hat keinen Sinn, die Defizite schönzureden -, worauf wir uns einlassen, und wir müssen die entsprechenden Vorkehrungen treffen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die von der Kommission angekündigten Maßnahmen, mit denen sichergestellt werden soll, dass der Reformprozess auch nach dem Beitritt am 1. Januar 2007 weitergeht. ({4}) Das ist, wie Sie wissen, vor allen Dingen in den besonders sensiblen Bereichen Justiz und Inneres von großer Bedeutung. Dort ist ein „Kooperations- und Überprüfungsmechanismus“ vereinbart worden, der Bulgarien und Rumänien auch nach dem 1. Januar 2007 konkrete Reformziele setzt. Damit sind Verfassungsund Gesetzesänderungen und vor allen Dingen konkrete Schritte bei der Verfolgung von Korruption und insbesondere Geldwäsche erfasst. Die Fortschritte beider Länder werden weiterhin überwacht. Es war für die Kommission nicht einfach, das durchzubringen. Sie wird den Mitgliedstaaten darüber regelmäßig berichten. Das ist aber nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass wir festgehalten haben: Sollten trotz der Überwachungsmaßnahmen die vorgegebenen Fortschritte nicht erreicht werden, dann wird die Kommission entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen. So kann die EU-weite Anerkennung von Haftbefehlen und Strafurteilen ausgesetzt werden. Die Auszahlung von Geldern aus den Agrar- und Strukturfonds kann dann gesperrt werden, wenn eine ordnungsgemäße Verwendung nicht nachgewiesen werden kann. In anderen Bereichen können Ausfuhrverbote und Beschränkungen auf Grundlage der Binnenmarktregelungen getroffen werden. Ich halte diesen Weg, den die Europäische Kommission aufgezeigt hat, für richtig. Deshalb möchte ich gern empfehlen und gleichzeitig darum bitten, dass der Antrag im Ratifizierungsverfahren hier im Deutschen Bundestag eine breite Mehrheit erhält. Sie wissen, dass von den 25 Mitgliedstaaten bereits 23 ratifiziert haben. Neben uns befindet sich noch Dänemark im Ratifizierungsverfahren. Dort hat die erste Lesung am 10. Oktober 2006 stattgefunden und ich hoffe, dass wir bald ebenso weit sind. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Markus Löning von der FDP-Fraktion.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist richtig und wichtig, dass wir uns daran erinnern, wie Europa vor gut 15 Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgesehen hat. Die Bilder von damals, die sich mir besonders ins Gehirn gebrannt haben, sind Bilder aus Rumänien, aus Kinderheimen, von der Ceausescu-Exekution und andere. Das ist lange, lange vorbei. Wenn man jetzt in diese Länder reist, sieht man, was für ein enormer Fortschritt - trotz allem, was man im Einzelnen noch sagen kann - von den Demokraten in diesen Ländern erreicht worden ist. ({0}) Ich glaube, wir als Deutsche sollten uns besonders klar machen - weil wir als Deutsche Debatten hatten und nach wie vor darüber haben -, wie schwierig es ist, die neuen Länder zu integrieren. Die DDR war das erste Land aus dem ehemaligen Ostblock, das der EU beigetreten ist. Wir wissen, wie schwer es für uns ist, die DDR zu integrieren, die neuen Länder zu integrieren. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir an diesem Tag auch anerkennen, um wie viel unendlich schwerer es die neuen Länder in Osteuropa auf ihrem Weg zur Marktwirtschaft, zur Demokratie und hin zu unseren europäischen Werten gehabt haben. ({1}) Insbesondere Bulgarien und Rumänien haben sich sehr schwer getan. Aber sie haben aufgeholt. Ich muss mit einem gewissen Stolz sagen, dass sie in den letzten Jahren auch unter starker Beteiligung Liberaler in den Regierungen sehr stark aufgeholt haben, unter anderem beim Wirtschaftswachstum. Es gibt ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum, insbesondere in Rumänien, aber auch in Bulgarien. Das zeigt, dass in Zukunft - nicht in naher Zukunft, aber in absehbarer Zukunft die Einkommenslücke geschlossen werden kann. Wir haben inzwischen mit beiden Ländern einen enormen Handelsaustausch. Ich möchte das Beispiel Indien noch einmal aufgreifen, weil der Außenminister darauf Bezug genommen hat. Wir haben mit Bulgarien und Rumänien gemeinsam soviel Handel wie mit Indien. Wir haben mit beiden Ländern einen deutlichen Handelsüberschuss. Meine Damen und Herren, das zeigt die Wichtigkeit dieser Länder für uns. Wir hatten neulich ein Gespräch mit dem Präsidium des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und haben gefragt: Was denkt ihr darüber? Sie sagten: Jawohl, das müssen wir machen; die beiden Länder müssen Mitglieder werden. Das ist ein großer Vorteil für deutsche Firmen und für Arbeitsplätze in Deutschland, die durch den Handel und die wechselseitigen Investitionen in diesen Ländern erhalten, gesichert und auch geschaffen werden. Dennoch gibt es Bereiche, die noch nicht so weit sind, wie wir sie uns wünschen. Es sind in allen Bereichen große Anstrengungen unternommen worden, es sind vor allem große Anstrengungen in den Bereichen Justiz und Inneres unternommen worden. Aber ich glaube, an dieser Stelle sollte man auch nicht verschweigen, dass es durchaus unterschiedlich ist, was erreicht worden ist. Das möchte ich hier auch ansprechen. Insbesondere in Bulgarien müssen wir im Bereich der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, der Bekämpfung der Geldwäsche, heftigst weitere Fortschritte einfordern. Es kann nicht sein, dass die Standards hier nicht erreicht werden. Wir brauchen das Erreichen der Standards gerade auch in diesen Bereichen. Bulgarien zeigt in anderen Bereichen und Ministerien, dass es dazu in der Lage ist, die europäischen Standards zu erreichen. Ich wünsche mir insbesondere für den Bereich Inneres und Justiz, dass hier bald deutliche Fortschritte gemacht werden. ({2}) Deutschland lebt seit der Wiedervereinigung Europas in einer Zone von Frieden und Wohlstand. Das mag abgedroschen klingen, weil Europapolitiker das immer und immer wieder sagen. Ich bestehe darauf, dass wir das immer wieder wiederholen: Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir auf einem Kontinent leben, auf dem die Völker zivilisiert miteinander umgehen. Wir haben eine Struktur geschaffen, die den Frieden auf diesem Kontinent erhält. Deswegen wünsche ich mir, dass wir die Wiedervereinigung Europas mit der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien in diesem Haus auf breiter Basis begrüßen. Ich wünsche mir für die Beitritte eine breite Mehrheit in diesem Haus. Das wäre ein wichtiges Signal nach innen, aber auch an die Adresse dieser beiden Länder. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 26. September hat die Europäische Kommission ihren Fortschrittsbericht vorgelegt. Beiden Ländern wurden enorme Fortschritte attestiert. Ich denke, der 1. Januar 2007 wird für beide Länder ein historisches Datum werden. Es ist viel geleistet worden. Es ist aber auch ein historisches Datum für die Europäische Union. Schließlich findet dann die Erweiterung um zwölf Länder ihren Abschluss. Bei allen Debatten über eine Verschiebung - sie wurden oft auch in Deutschland geführt -, dürfen wir nicht vergessen, dass es bereits eine Verschiebung gab. 2004 wurde gesagt: Die beiden Länder erfüllen die Kriterien zwar noch nicht, wir können aber sicher sein, dass für beide Länder der Weg in die Europäische Union dann am 1. Januar 2007 frei sein wird. Die Ehrlichkeit gebietet es - das klang bereits an -, dass hier auch die defizitären Bereiche benannt werden, also die Bereiche, in denen weitere Fortschritte dringend notwendig sind. Die Fortschritte sind zuvorderst im Interesse der Menschen, die in diesen Ländern leben. Die Reformen sind kein Selbstzweck. Die Länder machen diese Reformen auch nicht, um der Europäischen Union oder uns zu gefallen. Die Menschen in den Ländern müssen von den Reformen profitieren. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Justiz zu nennen. Die Unabhängigkeit der Justiz ist weder in Bulgarien noch in Rumänien flächendeckend befriedigend gelöst. Wir brauchen, auch im Justizwesen, besser funktionierende Behörden. Auch auf dem Gebiet der Korruptionsbekämpfung - das klang bereits an - ist noch sehr viel zu tun. In Rumänien funktioniert sie erfreulicherweise im Bereich der so genannten High-Level-Corruption; aber noch nicht im Bereich der Alltagskorruption. Es wird wahrscheinlich noch sehr viele Jahre dauern, bis wir sagen können: Diese Probleme sind gelöst. Bei den Auszahlungsagenturen im Bereich der Landwirtschaft ist auch noch einiges zu tun, damit die Gelder, die die Europäische Union hierfür zur Verfügung stellt, sach- und zweckgerichtet verwendet werden. Dafür zu sorgen, sind wir auch den Menschen in Deutschland schuldig. Wenn wir den Rentnern hier sagen, dass Nullrunden erforderlich sind, dann muss Gewähr dafür geleistet werden, dass das Geld, das in die Hand genommen wird, seine entsprechende Verwendung findet. Auch im Bereich der organisierten Kriminalität gibt es noch viel zu tun. 150 unaufgeklärte Auftragsmorde in Bulgarien - das muss so ehrlich gesagt werden - sind genauso wenig akzeptabel wie das Vorhandensein der Geldwäsche im Bereich der organisierten Kriminalität. All diese Hausaufgaben sind noch zu machen. Es wären aber keine Hausaufgaben, wenn sie von den Ländern nicht zu Hause erledigt werden müssten. Beide Länder können sich hierbei unserer Unterstützung sicher sein. Es ist an der Zeit, den Regierungsberatern, die seitens der Bundesrepublik vor Ort tätig sind, zu danken. Sie machen einen exzellenten Job. Insbesondere den Kommissionsmitarbeitern, die jeden Tag in den Ländern vertreten sind, danke ich. Auch die Stiftungen leisten eine sehr wertvolle Arbeit. Parteiübergreifend leisten die Parlamentariergruppen, die Deutsch-Rumänische Parlamentariergruppe unter dem Vorsitz von Frau Dr. Kastner und die Deutsch-Bulgarische Parlamentariergruppe unter dem Vorsitz von Michael Stübgen, hervorragende Arbeit. Hier werden wertvolle Kontakte geknüpft und intensiviert. ({0}) Die Länder können sich unserer Unterstützung sicher sein. Es wurde vielfach gefragt, warum wir den Beitritt nicht auf 2008 verschieben. Diese Option hat sich nie ernstlich gestellt. Denn es war von vornherein klar, dass viele Länder eine Verschiebung gerade im Hinblick auf Bulgarien nicht mitmachen würden. Wenn Länder wie Polen, Großbritannien, aber auch Österreich sagen, sie würden eine Verschiebung nicht mitmachen, dann ist sie im Falle von Bulgarien von vornherein gestorben und auch im Falle von Rumänien nicht realistisch. Denn Rumänien hat durch engagierte Reformschritte Bulgarien in den Reformanstrengungen überholt. Aber das macht auch nichts. Wir haben in den Verträgen alle Flexibilität. Wir haben Sicherungsklauseln, mit denen wir reagieren können. Herr Außenminister Steinmeier, es besteht, so denke ich, unter den Kollegen die Erwartung, dass die Sicherungsklauseln angewandt werden, und zwar mit Beginn am 1. Januar 2007, wenn die Defizite noch vorhanden sind. Das ist ein wichtiger Punkt, und zwar vor allem deswegen, weil wir Standards haben. Wir würden ein Erklärungsproblem gegenüber diesen beiden Ländern bekommen, wenn wir sie nicht jetzt anwenden würden, sondern erst später. Sie würden uns dann zu Recht sagen: Moment einmal, das habt ihr doch schon vor einigen Monaten gewusst. Deswegen ist es wichtig, dass die Standards gewahrt bleiben und wir, wo eben möglich - ich nenne den Justizbereich und die Anerkennung von Strafurteilen -, die entsprechenden Reaktionen bekommen. Es ist aber kein Beitritt zweiter Klasse. Auch das sei in Richtung dieser Länder klar hervorgehoben. Beide Länder werden vollwertige Mitglieder der Europäischen Union mit allen Rechten und Pflichten. Denn zum Beispiel auch wir in Deutschland - siehe das Maastrichtverfahren - sind bestimmten Reglements ausgesetzt. Mir ist die Stimmung in den Fraktionen und auch in der Bevölkerung hinsichtlich erneuter Erweiterungsschritte sehr wohl bekannt. Aber ich mahne vor allem uns dazu an, diese Diskussion nicht fatalistisch zu führen. Die Europäische Union ist ein Erfolgsmodell. Das wurde von Ihnen, Herr Minister, aber auch vom Kollegen Löning zu Recht hervorgehoben. Friede, Freiheit und die Wahrung der Demokratie - dies mussten diese Länder in ihrer Geschichte entbehren - sind keine Selbstverständlichkeit und moderner denn je. Hier müssen wir, die politisch Verantwortlichen, vorangehen. ({1}) Herr Außenminister Steinmeier, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass sich uns enorme Chancen eröffnen, zum Beispiel Absatzmärkte für unsere Wirtschaft, auch für die mittelständische Wirtschaft. In diesem Bereich geht Österreich sehr viel pragmatischer voran. Das nur einmal nebenbei gesagt. Auch für die mittelständische Wirtschaft im Maschinenbau eröffnen sich Chancen. Alle reden von China und von Indien. Doch hier geht es um Absatzmärkte, die direkt vor unserer Haustür liegen. Immerhin gab es in den letzten fünf Jahren allein in Rumänien ein kumuliertes Wirtschaftswachstum von über 40 Prozent. Das sollte an dieser Stelle einmal erwähnt werden. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die Stabilität, die wir hinzugewinnen, insbesondere im Bereich des Schwarzen Meeres. Die Schwarzmeerpolitik gehört bei uns in Deutschland ganz oben auf die politische Agenda. Die Republik Moldau führt in unserer Diskussion bislang fast ein Schattendasein, rückt aber durch den Erweiterungsschritt glücklicherweise näher an uns heran. Da tun sich Probleme auf, über die wir an anderer Stelle dringend reden sollten. Letztlich ist es so - damit möchte ich schließen -, dass wir seitens der Politik immer nur die Rahmenbedingungen setzen können. Das Bild, das in diesen Rahmen hineingesetzt wird, obliegt den Menschen. Ein Europa von unten aufzubauen, ist deswegen dringender denn je erforderlich. Ein steigender Tourismus, Städtepartnerschaften und Schüleraustausch - all das gehört dazu. Ich denke, dann werden wir Europa sehr erfolgreich in die Zukunft führen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Hakki Keskin, Fraktion Die Linke. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner ({0})

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir gemeinsam, also interfraktionell, mit Bulgarien und Rumänien zwei neue Mitglieder im Kreis der Europäischen Union begrüßen. Die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft hat beide Länder zu enormen Reformleistungen beflügelt; das ist unbestreitbar. Die Menschen in Rumänien und Bulgarien profitieren schon heute von wirtschaftlichem Aufschwung, sozialen Errungenschaften und Verwaltungsreformen. Ebenso begrüße ich die Reformbemühungen im Bereich der Justiz, bei der Korruptionsbekämpfung und beim Vorgehen gegen Kriminalität, die in beiden Ländern unternommen wurden. Allerdings darf die Umsetzung dieser Reformen mit dem EU-Beitritt keinesfalls erlahmen; vielmehr muss sie energisch fortgeführt werden. Bei allen Meinungsverschiedenheiten, die es zwischen den Fraktionen dieses Hauses gibt, können wir festhalten: In den EU-Mitgliedstaaten herrscht seit Jahrzehnten Frieden. Ich hoffe, dass unsere Kinder den Krieg nie am eigenen Leibe erfahren müssen. ({0}) Diesen großen historischen Gewinn haben wir der europäischen Idee zu verdanken. Dennoch dürfen wir über die aktuelle Krise der Europäischen Union nicht hinwegsehen. Der vorgelegte Verfassungsvertrag ist, wenn auch noch nicht endgültig gescheitert, so doch auf absehbare Zeit von einer Umsetzung weit entfernt. Dies ist weder ein Vermittlungsproblem noch ein politisch-administratives Problem. Es ist so, dass die Menschen in Frankreich und in den Niederlanden gegen diesen Entwurf eines Verfassungsvertrags votiert haben. Diese Signale müssen ernst genommen werden. Daher ist es dringend geboten, als essenziellen Bestandteil des Verfassungsentwurfs eine Sozialcharta zu verankern. ({1}) Die Fraktion Die Linke hat zu Recht stets ein soziales und demokratisches Europa eingefordert. Europa darf nicht als ein grenzenloser Wirtschaftsraum verstanden werden, in dem Großkonzerne ihre Profitinteressen zulasten großer Teile der Bevölkerung durchsetzen können. ({2}) Die Bürger wollen ein soziales Europa. Dies ist eine große zivilisatorische Errungenschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen. Die Menschen erleben und beobachten mit großer Beunruhigung, wie ohnmächtig die Politik ist und dass sie sogar einseitig zugunsten der Wohlhabenden agiert. ({3}) Sie nehmen mit großer Sorge zur Kenntnis, dass die Umverteilung von unten nach oben zur angeblich unvermeidlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik wird. Darüber haben wir heute bereits diskutiert. Ein aktuelles Beispiel: Nachdem die Stromnetze liberalisiert wurden, benutzen nun vier Konzerne ihre Oligopolstellung auf dem Energiesektor, um willkürlich die Preise hochzutreiben. Unter den in Deutschland in astronomische Höhen gestiegenen Preisen für Strom und Gas leiden vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende und kinderreiche Familien. ({4}) Wie wehrt sich die Bundesregierung hiergegen? Was tut die EU? Bislang wenig oder nichts. Die Bürger erwarten von ihren Regierungen, dass diese den Sozialstaat und die sozialen Rechte zum unverzichtbaren Bestandteil erheben und soziale Gerechtigkeit als Kompass und Tugend Europas verstehen. Auch was den EU-Beitritt von Bulgarien und Rumänien angeht, haben, wie wir alle wissen, viele Menschen Ängste und Sorgen. Sie fürchten Lohndumping und zunehmenden Lohndruck. Das sind berechtigte Ängste der Arbeitnehmer und der Arbeitslosen, die wir ebenfalls ernst nehmen müssen. ({5}) Die EU wäre durchaus in der Lage, durch gesetzliche Rahmenbedingungen Lohndumping und Lohndruck entgegenzuwirken. Deshalb brauchen wir einheitliche Standards in den EU-Ländern. Um es deutlicher zu sagen: Die Mobilität der Arbeitnehmer darf nicht zur Senkung der Löhne in den alten EU-Ländern führen. ({6}) Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Europa, in dem die sozialen Interessen der Menschen vor dem Interesse der Großkonzerne daran, ungehemmt Gewinn zu machen, geschützt werden. ({7}) Die politische und wirtschaftliche Integration Europas muss eingebettet werden in eine Strategie der sozialen Sicherung auf hohem Niveau. So steht für uns, Die Linke, der Mensch im Mittelpunkt und nicht das Kapital. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele von uns haben sicherlich noch die Bilder im Gedächtnis von damals, als das Ceausescu-Regime in Rumänien zusammengebrochen ist, eine fürchterliche Diktatur, die die Menschen im wahrsten Sinne bis aufs Blut ausgepresst hat und ein Land über viele Hungerwinter an den Rand seiner Existenz gebracht hat. Wenn man sich diese kaum mehr als 15 Jahre zurückliegenden Bilder in dieser Stunde noch einmal vergegenwärtigt, dann erkennt man, was diese beiden Länder, insbesondere Rumänien, geleistet haben. 15 Jahre später steht so ein Land an der Schwelle zu einem Beitritt zur Europäischen Union. Hieran sieht man, wie die Kraft der Idee der europäischen Integration, das Ziel, ein Teil dieses Europas zu werden, Menschen befähigen kann, ihre Lebenssituation zu verbessern. Ich glaube, wir müssen uns in einer Stunde wie heute dieser historischen Dimension bewusst werden, um die Leistung dieser Länder würdigen zu können. ({0}) Zu Recht sind Bedenken geäußert worden, dass beide Länder den Acquis communautaire so, wie wir ihn uns vorstellen, noch nicht vollständig erfüllen. Das ist richtig und das muss man auch deutlich sagen. Denn zu einer Europäischen Union, wie ich sie mir wünsche, gehören auch Ehrlichkeit und Offenheit zwischen den Partnerinnen und Partnern; gar keine Frage. Aber wir stehen in dieser Stunde, in der wir über die Ratifizierung entscheiden, immer auch vor der Frage nach den Alternativen. Der Außenminister hat zu Recht auf sie hingewiesen. Wir wollen solidarisch mit diesen Ländern in Europa zusammenleben. Wir wissen, dass ein Zurückweisen die innenpolitische Situation in diesen Ländern katastrophal verändern würde. Daran können wir kein Interesse haben, als Deutsche nicht und als Europäer auch nicht. Dies würde die ökonomische Situation destabilisieren und die Standards, die wir mit Europa verbinden, eher verschlechtern als verbessern. Deshalb ist der Ratifizierungsprozess, mit dem wir heute, wie ich hoffe, gemeinsam beginnen werden, alternativlos. Wir verzichten dabei aber nicht auf Konsequenzen. Ich glaube, das ist gerade in einer Situation wichtig, in der viel über die Handlungsfähigkeit Europas gesprochen wird. Sie wird Europa nämlich häufig abgesprochen. Man muss sich einmal anschauen, was wir aus den Problemen bei den Erweiterungsverfahren gelernt haben. Wir haben bezüglich Bulgarien und Rumänien tatsächlich einen Schutzmechanismus entwickelt, der, wie ich glaube, greifen wird. Aus meiner Sicht verdient Europa das Vertrauen, dass es nicht blauäugig in Situationen hineinläuft, sondern dass es tatsächlich Schutzmechanismen entwickelt, die im Sinne des europäischen Integrationsgedankens notwendig sind und durch die den Ländern sowie den Menschen in diesen Ländern geholfen wird. Von daher glaube ich auch, dass Europa in vielen Teilen der konkreten Politik handlungsfähiger ist, als einige Leute in ihren Sonntagsreden oder noch viel häufiger an den Stammtischen daherreden. Ich glaube, wir brauchen uns nicht zu schämen. ({1}) Auf die Einzelheiten des Beitrittsprozesses will ich jetzt nicht eingehen. Die Kollegen Krichbaum, Löning und andere haben das schon detailliert getan, sodass ich das nicht wiederholen muss. Wir wissen um die Probleme und wir haben das im Ausschuss auch mit dem Kommissar Olli Rehn sehr intensiv besprochen. Eines sollten wir aber nicht vergessen - ich finde, das zeichnet die Debatte aus -: Die europäische Erweiterung erfolgte nie ohne Probleme. Insbesondere in den Nachbarländern - beispielsweise in Frankreich, als es um Spanien und Portugal ging - hat es immer große Probleme im Hinblick auf die Akzeptanz der Bevölkerung gegeben. Wir wissen: Die Geschichte hat jedes Mal gezeigt, dass die Integration ein Erfolgsprojekt war, dass all die Befürchtungen, die vorher verständlicherweise geäußert wurden, in der Wirklichkeit nicht eingetreten sind und dass Europa mit diesen Problemen immer gut fertig geworden ist. ({2}) Das sollte uns Mut machen und das sollten wir auch offensiv nach außen vertreten. Dieses Europa ist ein Hoffnungsträger in der Welt. Es ist überhaupt nicht angesagt, dass wir kleinmütig unter dem Teppich durchmarschieren, wenn wir über Europa reden. Als Politiker in Europa können wir auf diese Integrationsleistung stolz sein. Deshalb sage ich auch sehr deutlich: Die Erweiterungsdebatte ist für uns Bündnisgrüne mit diesen Beitritten nicht zu Ende. Es gibt viele europäische Länder, die diese Erweiterungsperspektive brauchen, weil sie sich selbst nur in diesem erweiterten Europa politisch und ökonomisch entwickeln können. Das gilt ganz besonders für den Balkan, das gilt aber auch für den Südosten Europas. Über die Mechanismen, wie wir die Beitritte in Zukunft gestalten, müssen wir sicherlich noch reden. In einer Situation, in der der Beitritt die einzige Chance für die entsprechenden Länder ist, Integration zu erreichen, wäre es das Falscheste, was wir tun könnten, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. ({3}) Gerade den Ländern auf dem Balkan und in Südosteuropa müssen wir sagen: Es gelten die Kopenhagener Kriterien und auch die Kooperationskriterien, die in Kopenhagen nicht entsprechend definiert worden sind. Mitglied einer Europäischen Union kann nur das Land werden, das aus tiefster Überzeugung bereit ist, mit all seinen Nachbarn in Frieden zu kooperieren. Europa ist nicht das ökonomische Erfolgsprojekt oder das Sozialmodell für einige Leute, um sozusagen auch noch ein bisschen von dem Kuchen abzubekommen. Europa ist vor allem ein Friedensprojekt. ({4}) Deshalb geht es für den Balkan und für andere Staaten genau darum. Europa ist ein Friedensprojekt und jeder, der willkommen sein will - das wollen all diese Länder -, muss begreifen, dass er mit seinen Nachbarn friedlich kooperieren muss. Ansonsten wird Europa in diesem Bereich nicht die Zukunft haben, die wir uns wünschen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPDFraktion. ({0})

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Botschafterin aus Bulgarien! Sehr geehrter Herr Botschafter aus Rumänien! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bulgarien und Rumänien sollen am 1. Januar 2007 der Europäischen Union beitreten. Ich freue mich, dass darüber nun endlich Einigkeit herrscht. Dieses klare Ja ist überfällig. Es ist überfällig, dass wir den Weg für den Beitritt frei machen. Für meine Fraktion möchte ich betonen: Wir mussten uns dieses Ja zum Beitritt Bulgariens und Rumäniens nicht lange abringen. Das Ja kommt uns auch nicht halbherzig über die Lippen. Nein, wir begrüßen den Beitritt Bulgariens und Rumäniens nachdrücklich und uneingeschränkt. Wir freuen uns, dass beide Länder ab dem 1. Januar 2007 Mitglieder der Europäischen Union sind. ({0}) Getrübt wird diese Freude allein dadurch, dass sich die Debatte um den heute vorliegenden Antrag so lange hinausgezögert hat. Ich weiß nicht genau, ob es einige Kollegen besonders spannend machen wollten. Ich bin zwar ein Krimifan, aber in diesem Fall hätte ich gern auf die Spannung verzichtet. Es wäre mir lieber gewesen, wenn wir nicht die Letzten in der Europäischen Union gewesen wären, die mit dem Ratifikationsverfahren beginnen. Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass wir heute im Bundestag endlich das parlamentarische Verfahren zur Ratifikation beginnen, mit dem wir - wie es richtig im Titel unseres Antrags heißt - den „EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen“ wollen. Der Beitritt beider Länder wird ein großer Erfolg sein, auf den wir alle zusammen werden stolz sein können. Ich möchte hier noch einmal nachdrücklich betonen: Erweiterung steht nicht im Gegensatz zur Vertiefung. Ich sehe eine hohe Korrelation zwischen Erweiterung und Vertiefung. ({1}) Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist der notwendige Abschluss der Osterweiterung, die 2004 mit dem Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten sowie Maltas und Zyperns begonnen hat. Die Osterweiterung ist die selbstverständliche Fortführung einer Friedenspolitik. Sie war die Antwort auf die weltpolitische Situation nach dem Ende des Kalten Krieges und ein Garant dafür, dass die EU auch in Zukunft Friedensmacht sein kann. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Bulgarien und Rumänien schon in den letzten Jahren eine wichtige Funktion bei der Stabilisierung der gesamten Region hatten. Beide Länder haben seit Ende des Kalten Krieges nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch Erhebliches geleistet. Sie haben eine enorme Transformationsleistung vollbracht. Sie haben den Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft vollzogen. Dabei wurden das politische System, das Rechtssystem und die Gesellschaft einem grundlegenden Wandel unterzogen. Ich glaube, einige von uns, die in ihrem Leben noch nie von einer solchen tief greifenden Umwälzung betroffen waren, können nicht ansatzweise nachvollziehen, was die Transformation für ein Land, aber auch ganz persönlich für jeden seiner Bürger bedeutet. Bei aller Unterstützung durch die EU: Die Leistungen haben die Menschen in Bulgarien und Rumänien erbracht. Ich möchte als Beispiel Bulgarien anführen. Kleine und mittelständische Unternehmen mussten Kredite aufnehmen, um ihre Betriebe umzustrukturieren und an die hohen EU-Standards anzupassen. Das war sehr schwierig, weil zur gleichen Zeit Banken zusammengebrochen waren. Das Gesundheitswesen und der Agrarsektor mussten total umstrukturiert werden. Der Agrarsektor musste sich nun nach den hohen hygienischen Anforderungen der EU richten. Auch dies bedurfte einer enormen Anstrengung und finanzieller Opfer. Die Schwächsten der Gesellschaft haben am meisten gelitten. Rentner mussten mit 60 Euro im Monat wirtschaften. Erst in den letzten zwei Jahren, in denen die Wirtschaft in Bulgarien boomte, wurden die Renten um 5 bis 8 Prozent angehoben. Auch im Bereich der Demokratie sind beachtliche Fortschritte erzielt worden. Der Minderheitenschutz wurde ausgebaut. Heute hat Bulgarien ein gut funktionierendes multiethnisches System. In Bulgarien sagt man: Demokratie ist kein Lift, sondern eine steile Treppe, die man hochgehen muss. Alle Bürger Bulgariens haben gespürt, was es heißt, diese Treppe hochgehen zu müssen. Diese Transformationsleistungen würdigen wir heute mit unserem Antrag. Für uns ist es heute eine Debatte im Plenum; für Bulgarien und Rumänien ist es ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem historischen Datum. Wir freuen uns, dass die Kommission Bulgarien und Rumänien in ihrem letzten Fortschrittsbericht die Beitrittsreife bescheinigt hat, auch wenn in einigen Bereichen noch Mängel bestehen. Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich um eine Mitgliedschaft mit gleichen Rechten und Pflichten handelt. Ich finde es deshalb richtig, dass wir in dem gemeinsamen Antrag festgehalten haben, dass die Fortschritte Bulgariens und Rumäniens im Heranführungsprozess auch das Ergebnis der Perspektive einer gleichberechtigten Teilhabe an den Rechten und Pflichten eines Mitglieds der Europäischen Union sind. „Gleichberechtigt“ ist das Schlüsselwort, obwohl es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Es ist auch eine Selbstverständlichkeit, dass der Beitritt nach den zwischen Bulgarien und Rumänien auf der einen Seite und der Europäischen Union auf der anderen Seite vereinbarten Spielregeln erfolgen wird. Diese Spielregeln besagen, dass der Beitritt Bulgariens und Rumäniens erfolgt, wenn beide Länder ausreichende Fortschritte in der Angleichung ihres politischen und rechtlichen Systems gemacht haben. Erweiterungskommissar Olli Rehn hat uns gestern im Europaausschuss noch einmal bestätigt, dass die Fortschritte Bulgariens und Rumäniens für den Beitritt ausreichen. Aber auch die bestehenden Mängel werden von der Kommission nicht verschwiegen, sondern klar benannt. Über diese Mängel können und wollen wir nicht hinwegsehen. Wir fordern Bulgarien und Rumänien auf, in ihren Bemühungen nicht nachzulassen und die bestehenden Probleme bis zum Ende dieses Jahres zu beheben. Auch das haben wir vereinbart. Aber was passiert nach dem 1. Januar 2007? Am heftigsten wird derzeit über die Schutzklauseln diskutiert. Dabei ist mir allerdings nicht klar, worüber wir streiten. Für den Fall, dass die Mängel im Justizsystem und in der Landwirtschaft auch nach dem Beitritt fortbestehen sollten, können die vereinbarten Übergangsmaßnahmen und Schutzklauseln in Kraft treten. Ich betone: Die Schutzklauseln können in Kraft treten, sie müssen es aber nicht. Ob die Schutzklauseln auf Antrag der Kommission oder eines Mitgliedstaates in Kraft gesetzt werden, wird in einem zweistufigen Verfahren entschieden. Bulgarien und Rumänien müssen drei Monate nach dem Beitritt - also bis Ende März 2007 - einen Bericht vorlegen, in dem sie die Fortschritte darlegen, die sie erreicht haben. Diese Fortschritte wird die Kommission überprüfen und in einem eigenen Bericht niederlegen, der im Juni 2007 erscheinen und die Entscheidungsgrundlage für die Schutzklauseln sein wird. Die Kommission hat dafür Benchmarks bzw. Richtgrößen entwickelt. Anhand dieser Richtgrößen können wir entscheiden, ob die Schutzklauseln zur Anwendung kommen oder nicht. An diesem Verfahren gibt es, glaube ich, nichts zu deuteln. Insofern reichen nicht nur die Fortschritte der beiden Länder für den Beitritt zum 1. Januar 2007, sondern auch die zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir unvoreingenommen und rational auf Bulgarien und Rumänien. Es ist nämlich auch richtig, dass die Beitrittskriterien bei beiden Ländern viel schärfer gehandhabt wurden als bei den vorangegangenen Erweiterungsrunden. Es ist nur redlich, auch das einmal anzusprechen. ({2}) Es stünde uns auch gut an, endlich die Perspektive zu wechseln. Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist keine Gefahr für die EU und schon gar nicht für die einzelnen Länder. Der Beitritt ist eine Chance für die Europäische Union als Ganzes und auch für Deutschland. Bulgarien und Rumänien bringen der EU mehr an Stabilität und Sicherheit im gesamten südeuropäischen Raum bis in den westlichen Balkan. Ich jedenfalls freue mich, dass wir Bulgarien und Rumänien zum 1. Januar 2007 als Mitglieder der Europäischen Union und damit als Partner mit gleichen Rechten und Pflichten und unter Anwendung der gemeinsam vereinbarten Spielregeln begrüßen können. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat Christian Ahrendt, FDP-Fraktion.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, die bisherige Debatte hat eines gezeigt: Keiner bestreitet die Fortschritte Rumäniens und Bulgariens. Dort ist ein enormer Reformprozess geleistet worden. Dass wir in der Lage sind, detailliert über den Reformprozess zu debattieren, haben wir der Europäischen Kommission zu verdanken. Es ist das erste Beitrittsverfahren, in dem sehr detailliert beobachtet worden ist, wie sich die Beitrittsländer entwickeln. Dieses Verfahren haben wir in erster Linie - auch in der Genauigkeit - dem EU-Kommissar Olli Rehn zu verdanken. ({0}) Bei einem solch genauen Verfahren rücken nicht nur die Erfolge in den Vordergrund. Vielmehr sieht man auch die vorhandenen Schattenbereiche; diese wurden bereits angesprochen. Ein wesentlicher Schattenbereich ist die Justiz. Hierzu habe ich eine andere Meinung als diejenige, die bislang geäußert worden ist. Wenn mit dem 1. Januar 2007 der Beitritt wirksam wird, werden die Justizakte in den Bereichen des Strafrechts und des Zivilrechts im Wege der Anerkennung für andere europäische Staaten und damit für andere Staatsangehörige automatisch Geltung beanspruchen. Wenn wir aber in den Berichten lesen müssen - das ist gerade für das Strafrecht relevant -, dass es noch keine unumkehrbare Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere der Richter gibt, dass es den Gerichtsverfahren nach wie vor an Transparenz fehlt und dass die Ausbildung der Staatsanwälte und der Richter nicht ausreicht, um ein genaues Verfahren durchzuführen, dann müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir mit der Situation umgehen. Der Beitrittsvertrag eröffnet verschiedene Möglichkeiten. Die Kommission favorisiert die Möglichkeit, nach einer weiteren Beobachtungsphase eine Entscheidung zu treffen. Ich glaube, dieser Weg ist falsch, weil er keine Rechtsfolgen zeitigt und wir in dem Zeitraum, in dem die Entscheidung vakant ist, mit Justizakten umgehen müssen. Wenn man sich den Beitrittsvertrag und insbesondere Art. 38 genau anschaut, stellt man fest, dass die Schutzklausel im Justizbereich bereits am 1. Januar 2007 greifen kann. Hierfür bedarf es lediglich der Forderung eines Landes. Es kommt also nicht auf eine Kommissions- oder eine Ratsentscheidung an. Dann würden Strafurteile und Haftbefehle nicht automatisch anerkannt. Das wäre kein Beitritt zweiter Klasse, aber wir hätten die Möglichkeit, die beigetretenen Länder aufzufordern, in den kommenden Monaten in diesem sehr wichtigen Bereich, in dem es unter anderem um unmittelbare Eingriffe in Persönlichkeitsrechte durch Strafrechtsakte geht, das zu leisten, was in den Berichten vorgeschrieben ist, beispielsweise die Strafverfahren besser zu organisieren und die rechtsstaatlichen Ansprüche zu gewährleisten. Ich glaube, an dieser Stelle wird man wesentlich strikter vorgehen müssen, als es die Kommission vorgeschlagen hat. In diesem Sinne wird die Diskussion über den Ratifizierungsprozess in den nächsten Tagen und Wochen zu führen sein. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Carl-Eduard von Bismarck, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Carl Eduard Bismarck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über ein für Europa sehr erfreuliches Ereignis. Zum 1. Januar 2007 treten Rumänien und Bulgarien der Europäischen Union bei. Dieser Erweiterungsschritt unterstreicht einmal mehr die Attraktivität der Europäischen Union als politisches Projekt. Gleichzeitig ist dieser Erweiterungsschritt mit einigen Stolpersteinen verbunden. Die Kommission hat in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht vor drei Wochen klar gemacht, dass zwar die beiden Länder bereits große politische, soziale und wirtschaftliche Reformanstrengungen unternommen haben, dass aber die Veränderungen dringend mit unverminderter Kraft fortgeführt werden müssen. Nur wenn Rumänien und Bulgarien ihren Reformkurs konsequent fortsetzen, kann sich unser Zusammenleben in der Europäischen Union erfolgreich entwickeln. Ein Beispiel: Bulgarien hat im August dieses Jahres verstärkt Maßnahmen gegen den Menschenhandel ergriffen. Von nun an verbietet ein Gesetz den Handel mit Schwangeren, deren Babys nach der Geburt verkauft werden sollen. Das zeigt, dass sich beide Länder ihren Problemen stellen und sie beherzt angehen. Dieses Beispiel deutet aber auch auf bestehende schwerwiegende Defizite hin. Wir wissen heute, dass wir gut daran getan hätten, abzuwarten, bis die Früchte der Reform geerntet worden wären. Es war sicher ein Fehler, im Beitrittsvertrag feste Termine für die europäische Mitgliedschaft zu nennen. Diesen Fehler sollte die EU künftig vermeiden. Aber trotz aller Skepsis und trotz der Befürchtung, dass die essenziell wichtigen Schutzklauseln des Beitrittsvertrages nicht rechtzeitig, nämlich erst nach dem Beitritt der beiden Länder greifen, bin ich überzeugt davon, dass wir uns hier langfristig gesehen in einer - neudeutsch ausgedrückt - Win-win-Situation befinden. Warum? Weil der Exportweltmeister Deutschland und alle anderen europäischen Staaten satte wirtschaftliche Gewinne zu erwarten haben. Schauen Sie sich den Kommissionsbericht zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der EU-Erweiterung an und Sie werden mir zustimmen. Die Europäische Union wird durch diesen wirtschaftlichen Erfolg ihre Rolle als Stabilitätsanker Europas weiter ausbauen können. Wir werden durch die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens in die Europäische Union ganz Europa und den Balkan im Speziellen stabiler, sicherer und friedlicher machen. Wie genau soll das geschehen? Der Handel zwischen Deutschland und Rumänien sowie zwischen Deutschland und Bulgarien ist im vergangenen Jahr kräftig gewachsen. Im Vergleich zum Vorjahr nahmen die deutschen Exporte nach Rumänien im ersten Halbjahr 2006 um 21 Prozent und die Importe von dort um 25 Prozent zu. Nach Bulgarien haben wir im gleichen Zeitraum 10 Prozent mehr exportiert und sage und schreibe 36 Prozent mehr importiert als im Vorjahr. Das ist eine überaus erfreuliche Entwicklung. Wir können davon ausgehen, dass sie sich mit Rumänien und Bulgarien als neuen EU-Mitgliedern unvermindert fortsetzen wird. Doch damit nicht genug; denn steigende Im- und Exporte bedeuten nicht nur Wohlstand, sondern auch Stabilität und Sicherheit. Rumänien und Bulgarien profitieren davon in erster Linie. Mittel- und langfristig wird die neu gewonnene Stabilität auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene aber auch auf die übrigen Balkanstaaten abfärben. ({0}) Auch dies ist für Europa ein Gewinn; denn ein stabiler, befriedeter Balkan ist für uns als Deutsche und Europäer von vitalem Interesse. Da, so denke ich, sind wir uns alle einig. Lassen Sie mich zum Thema Erweiterung aber noch einen anderen Punkt ansprechen. Die negativen Ergebnisse der Referenden zum Verfassungsvertrag und Bürgerumfragen sind ein klares Zeichen: Sowohl in der deutschen als auch in vielen anderen Bevölkerungen schwindet das Vertrauen in die Europäische Union und ihre Erweiterungsschritte zusehends. Die Menschen haben Angst vor einer Invasion von Billiglohnarbeitern aus den neuen Mitgliedsländern. Sie befürchten außerdem, ihre EU würde durch die mutmaßliche Grenzenlosigkeit unkontrollierbar, und sie sorgen sich um die Anerkennung regionaler Besonderheiten. Sie sehen sich durch die Erweiterung schon an der Grenze zum Nahen Osten und wollen sich damit nicht mehr identifizieren. Diese Befürchtungen und Ängste verdecken leider häufig die Erfolge der europäischen Einigung. Wir haben hier ein ernstes Kommunikationsproblem, das dringend behoben werden muss; denn mangelnde Unterstützung durch die Bevölkerung kann auch noch so sinnvollen Projekten und Unternehmungen den Garaus machen. Das wissen wir alle. Das Problem können wir nur lösen, indem wir allen EU-Bürgern klar machen, dass sie Teil einer modernen, bürgerfreundlichen Union sind, in der sie sich beruflich frei entfalten können und in der Innovationen gefördert werden. Zugleich müssen wir ihnen klar machen, dass sie in der Europäischen Union auf der sicheren Seite sind. Schließlich bekämpfen wir den internationalen Terrorismus und Kriminalität unnachgiebig. Darüber hinaus muss die Europäische Union dringend darauf achten, Kernbeschlüsse wie den Stabilitätspakt der Wirtschaftsund Währungsunion einzuhalten und den Beitrittskandidaten die strikte Erfüllung des Acquis communautaire abzuverlangen. Zu guter Letzt lassen Sie mich anmerken, dass wir dringend grundlegend und nachhaltig über die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union debattieren müssen. Wir müssen uns unserer Kapazitäten bewusst sein. In all diesen Punkten müssen wir an Klarheit gewinnen, dementsprechend handeln und dies den Bürgern deutlich vermitteln. Nur so können wir unseren Weg erfolgreich gehen und unsere Glaubwürdigkeit wahren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn, CDU/ CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union haben wir in diesem Haus bereits öfter debattiert. Gestatten Sie mir deshalb, dass ich gleich zu den kritischen Tönen komme, bevor ich versuchen werde, auch einige versöhnliche zu finden. Wir haben in unseren Debatten stets versucht, darauf hinzuwirken, dass die Situation, die jetzt eingetreten ist, möglichst vermieden wird. Ja, es gibt bemerkenswerte Fortschritte in Bulgarien und Rumänien. Das ist ausdrücklich anzuerkennen. Ja, wir wollen auch den Beitritt. Aber es bestehen in einer Reihe von Fragen schwerwiegende Defizite. Die Kommission - so verstehe ich ihre Analyse - kann beiden Ländern bis jetzt noch nicht die vollständige Beitrittsreife bescheinigen. Das ist ein Thema nicht nur für Bulgarien und Rumänien, sondern auch für uns und die Europäische Union; denn wir kommen in Erklärungsnot, wenn wir nach Ratifizierung und Anwendung des Vertrages den Beitritt zum 1. Januar 2007 verwirklichen wollen, obwohl Fragen offen bleiben. Ich plädiere deswegen nachhaltig dafür, dass wir die Defizite und die Fragen, die die Kommission selbst aufgeworfen hat, nicht ignorieren und mit einem Achselzucken abtun. Vielmehr sollten wir auf die offenen Fragen überzeugende Antworten finden. Ich meine, das schulden wir der Glaubwürdigkeit unserer Erweiterungspolitik und das erfordert auch die Situation in der Europäischen Union und ihren Bevölkerungen. Es ist ein Beitrag zur Akzeptanz der Europäischen Union und der Erweiterungspolitik, wenn wir die offenen Fragen sehr ernst nehmen. Der Kommissionsbericht nimmt eine, wie ich finde, kritische Analyse vor. Es ist zu begrüßen, dass die Defizite klar benannt werden. Ich bin nur der Meinung, dass die Kommission unzureichende Schlussfolgerungen aus ihrer eigenen Analyse zieht. Offenbar hat der Mut gefehlt, zu Konsequenzen zu greifen. Ich meine, dass es Not tut, bereits zum 1. Januar 2007, also von Beginn des Beitritts an, die in der Beitrittsakte zur Verfügung stehenden Schutzmechanismen zu aktivieren, um die offenen Fragen zu beantworten. Natürlich liegt es zunächst in der Hand Bulgariens und Rumäniens selbst, weitere Fortschritte zu erzielen. Das betrifft die Unabhängigkeit und Effizienz des Justizwesens, die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, die Lebensmittelsicherheit in den Bereichen Tierkörperbeseitigung und Schweinefieber, aber auch die Landwirtschaft, das integrierte Verwaltungsund Kontrollsystem, die Auszahlung von Direktbeihilfen. Sicher mit Differenzen zwischen Bulgarien und Rumänien; aber insgesamt sind beide aufgefordert, ihre Anstrengungen zu verstärken. Ich glaube, alles, was jetzt, bis zum 31. Dezember dieses Jahres, noch erledigt werden kann, erleichtert auch die Zustimmung der Bevölkerung zu dieser Erweiterung zu diesem Zeitpunkt. Wir, die Europäische Union und auch der Deutsche Bundestag, müssen uns an den Kriterien, die wir selbst aufgestellt haben, messen lassen. Wir müssen diese Frage gerade in dem sensiblen Bereich „Justiz und Inneres“ sehr aufmerksam diskutieren. Aus meiner Sicht ist gerade dieser Bereich, der mit Rechtssicherheit zu tun hat, ganz unabdingbar, nicht nur für die Bevölkerung in Bulgarien und Rumänien, sondern auch für alle, die nach der Erweiterung in engeren Kontakt mit diesen Ländern kommen wollen, insbesondere für Investoren, die Rechtssicherheit brauchen, wenn sie sich in diesen Ländern engagieren wollen. Die Kommission hat in ihrem Bericht angekündigt, zunächst weitere Stellungnahmen von Bulgarien und Rumänien einzuholen und dann im Juni nächsten Jahres einen weiteren Fortschrittsbericht vorzulegen. Sie schreibt in ihrem jetzigen Bericht vom 26. September, dass es dann, im Juni nächsten Jahres, erforderlich werden könnte, zu Schutzmaßnahmen zu greifen, beispielsweise die Mitgliedstaaten von der Verpflichtung zu entbinden, Urteile gegenseitig anzuerkennen. Ich meine, das ist keine schlüssige Argumentation. Denn wenn die Kommission nach eigener Auffassung im Sommer nächsten Jahres gehalten sein könnte, Schutzklauseln zu aktivieren, dann ist es doch offenkundig, dass die zugrunde liegende Problematik nicht erst dann eintreten wird, sondern bereits jetzt besteht. Deswegen ist es notwendig, dass wir Schutzmaßnahmen mit Beginn des Beitritts zum 1. Januar 2007 ergreifen. Ich glaube, allein das kann eine überzeugende Antwort auf die inkriminierten Defizite im Kommissionsbericht sein. Ich glaube, das ist auch aus deutscher Sicht ein brisantes Thema; denn es geht um die Fragestellung, wie die Bundesregierung mit eigenen Staatsangehörigen umgeht, die in Kontakt mit dem Justizwesen in Bulgarien und Rumänien kommen können. Mit dieser Frage beschäftigt sich unter anderem - ich darf darauf hinweisen auch ein Untersuchungsausschuss in diesem Hause. Ich plädiere dafür, genau hinzuschauen und die Thematik ernst zu nehmen. Das, was ich fordere, nämlich Urteile vorerst gegenseitig nicht anzuerkennen, eine Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls vorerst nicht vorzunehmen, vorsichtig zu sein beim Zugang zu den Datenbanken von Europol und Eurojust, wäre keinerlei Einschränkung gegenüber Bulgarien und Rumänien im Vergleich zum Status quo, sondern lediglich eine Aufrechterhaltung des Status quo in diesen begrenzten Bereichen für einen begrenzten Zeitraum nach dem Beitritt. Das sollten wir uns wert sein. Ich appelliere an die Bundesregierung, hierzu eine Initiative gegenüber der Europäischen Kommission zu ergreifen. Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich noch Folgendes sagen: In der Abwägung bin ich ein Befürworter des Beitritts, auch zum 1. Januar 2007, weil der Eiserne Vorhang erst dann vollständig beseitigt sein wird, wenn Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Europäischen Union sind. Es ist ein Beitrag zur Demokratisierung und zur Stabilisierung der gesamten Region in Südosteuropa, wenn Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Europäischen Union werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es gibt eine hoffnungsvolle wirtschaftliche Dynamik. Erwähnen möchte ich auch - damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin -, dass es in Bulgarien wie in Rumänien Gesellschaften gibt, die proeuropäisch eingestellt sind und die auch für unser Land einige Sympathie hegen. Das sollten wir erwidern. Uns verbinden mit Rumänien und Bulgarien enge historische und kulturelle Beziehungen. Das kann eine Basis für eine erfolgreiche Integration beider Länder in die Europäische Union sein. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2293, 16/2954 sowie 16/2997 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 16/2293 - Tagesordnungspunkt 6 a - soll zusätzlich an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisungen sind so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Siebter Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen - zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, Florian Toncar, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 7. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen - Drucksachen 15/5800, 16/1999, 16/3004 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Florian Toncar Volker Beck ({1}) ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach, Erika Steinbach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin, Christoph Strässer, Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen - Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen - Drucksache 16/3001 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte in Zentralasien stärken - Drucksache 16/2976 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe hat in seine Beschlussempfehlung auf der Drucksache 16/3004 den Antrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 16/1999 mit dem Titel „7. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen“ mit einbezogen. Über diesen Antrag soll ebenfalls abschließend beraten werden. Sind Sie damit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner einverstanden? - Ich sehe, dass dies der Fall ist. Es ist also so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer von der SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Siebte Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen, über den wir heute debattieren, ist wie bereits sein Vorgänger ein umfangreiches, hochinteressantes Kompendium geworden, ein Kompendium, das man zur Pflichtlektüre zum Beispiel im Politik- oder Gemeinschaftskundeunterricht an unseren weiterführenden Schulen machen sollte. Gerade angesichts vieler Ereignisse in unserem Lande wäre das nicht wirklich verkehrt. ({0}) Denn es ist nach wie vor erschreckend, meine Damen und Herren, wie wenig im Bewusstsein gerade junger Menschen die Idee der Grund- und Menschenrechte verankert ist, wie wenig wir uns selbst immer wieder klar machen, dass Menschenrechte keine Selbstverständlichkeit sind. Sie müssen auch bei uns immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Das erleben wir beinahe tagtäglich. Ihre universale Wirksamkeit, die unmittelbarer Ausfluss der Würde des Menschen, eines jeden Menschen auf dieser einen Erde ist, ist noch nicht überall erkämpft worden. Nachrichten über schlimmste Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt füllen deshalb immer wieder die Schlagzeilen. Der Siebte Menschenrechtsbericht dient der kritischen Analyse der Aktivitäten der Bundesregierung zur Durchsetzung der Menschenrechte auf globaler Ebene, aber auch in unserem Land selbst. Ich bedanke mich deshalb im Namen der SPD-Fraktion ganz ausdrücklich beim Auswärtigen Amt und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die dieser Aufgabe mit großem Verantwortungsbewusstsein und, wie ich finde, mit einem nicht nur vorzeigbaren, sondern guten Ergebnis gerecht geworden sind. ({1}) Erstmals enthält der Bericht als integralen Bestandteil einen nationalen Aktionsplan für Menschenrechte, wie dies der Deutsche Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode gefordert hat. Dieser nationale Aktionsplan stellt eindeutig einen Fortschritt für die Menschenrechtsarbeit in Deutschland dar. Denn er dokumentiert den politischen Willen, menschenrechtliche Themen an herausragender Stelle in der Regierungspolitik zu verankern. Darüber hinaus stellt auch dieser nationale Aktionsplan ein öffentliches Dokument mit hohem Bildungswert dar, das den allgemeinen Diskurs über menschenrechtliche Themen fördert und zur Bewusstseinsschärfung beiträgt und - last, but not least - die Möglichkeit zur Evaluierung nicht nur eröffnet, sondern sogar vorsieht. Wir werden darüber in den nächsten Jahren sicherlich noch an der einen oder anderen Stelle diskutieren. Im Aktionsplan wird an zentraler Stelle die weltweite Ächtung der Todesstrafe als eines der Leitprinzipien deutscher Menschenrechtspolitik hervorgehoben. Und dies zu Recht! Das menschliche Leben, die Würde des Menschen sind unantastbar, und zwar auch gegenüber solchen Menschen, die sich ihrerseits nicht an solche Regeln halten. Staatliche Verantwortung bietet niemals und nirgendwo einen rechtlich legalen oder moralisch legitimierten Ansatz zur Vernichtung menschlichen Lebens. Dieser Grundsatz gilt und - das sage ich ganz deutlich muss gelten, unabhängig vom Stand der Entwicklung der jeweiligen Gesellschaft. Die meisten Hinrichtungen finden nach wie vor in China statt, gefolgt vom Iran, von Saudi-Arabien und - das muss man sagen - von den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir werden weiterhin in den Rechtsstaats- und Menschenrechtsdialogen mit China und mit dem Iran die Todesstrafe kritisch zur Diskussion stellen. Das macht auch Sinn, wenn man sich vor Augen hält, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass in diesen Ländern auch Minderjährige und geistig Behinderte öffentlich hingerichtet werden. Solche Bilder gehören nicht zu einer humanen Gestaltung der Welt. Dagegen müssen wir an allen Stellen protestieren. ({2}) Eine weitere große Herausforderung, der sich die deutsche Menschenrechtspolitik in der derzeitigen schwierigen weltpolitischen Lage stellen muss, ist die Verteidigung der Menschenrechte gerade auch in Zeiten des globalen Terrorismus. Der Siebte Menschenrechtsbericht widmet dieser Frage verdienstvollerweise viel Raum. Die Terrorismusbekämpfung, die nötig ist, darf nur unter Berücksichtigung des nationalen Rechts wie des Völkerrechts stattfinden. Sonst vergibt sie ihre rechtliche und ethische Legitimation. Gerade in dieser Auseinandersetzung besteht die existenzielle Gefahr der Aufweichung rechtsstaatlicher Grundprinzipien. Einen solchen „Erfolg“ dürfen wir terroristischen Gruppen nicht gönnen. ({3}) In diesem Zusammenhang ist auch die national wie international geführte Debatte über das Folterverbot von großer Bedeutung. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang ausdrücklich die endlich erfolgte Zeichnung des Zusatzprotokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention durch Außenminister Steinmeier im September zu Beginn der Generalversammlung der Vereinten Nationen. Dies ist ein ganz, ganz wichtiger Schritt im Interesse der Glaubwürdigkeit unserer eigenen Menschenrechtspolitik nach innen wie nach außen. Wir werden - das ist ein Versprechen, keine Drohung - die Einrichtung der entChristoph Strässer sprechenden Präventionsmechanismen sehr sorgfältig begleiten und dafür sorgen, dass sie im Sinne der Vereinbarungen der Vereinten Nationen wirken können. ({4}) Allerdings muss uns in diesem Zusammenhang die Verabschiedung des US-amerikanischen Gesetzesvorhabens zur Behandlung mutmaßlicher Terroristen - ich sage das ganz deutlich - zutiefst beunruhigen. Trotz einiger Fortschritte, die wir sehen, bleibt es demnach der CIA erlaubt, Gefangene in unterkühlten Zellen mit kaltem Wasser zu überschütten oder so lange mit Dauerstehen und Schlafentzug zu zermürben, bis sie schließlich zu Aussagen bereit sind. Obwohl der Wahrheitsgehalt solcher unter Druck gemachten Aussagen zweifelhaft ist - das wissen wir alle -, können Ankläger sie verwenden und damit Unschuldige zur Verurteilung bringen. Alle Informationen, auch solche vom Hörensagen - alle Juristen wissen, wie schwierig das ist -, gelten als verwertbar, sind jedoch von der Verteidigung nicht überprüfbar. Die internationale Rechtslage an dieser Stelle ist eindeutig. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt zur Abgabe einer Erklärung eines gefangenen Menschen unterliegt einem absoluten Verbot, und zwar ohne irgendeine Ausnahme. Besonders deutlich ist Art. 2 Abs. 2 der VN-Konvention gegen Folter. Dieser bestimmt, dass auch außergewöhnliche Umstände, gleich welcher Art, seien es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, nicht als Argument für Folter geltend gemacht werden dürfen. Das ist gut. Das ist richtig. In diesem Zusammenhang bleibt für mich die Feststellung, dass in Guantanamo nach Berichten vieler internationaler Organisationen bereits seit 2002 Grundrechte durch grausame und entwürdigende Maßnahmen außer Kraft gesetzt werden. Der Schutz der Menschenrechte ist immer und ganz wesentlich der Schutz vor der Willkür durch den Staat. Es kann nur eine Schlussfolgerung geben und die lautet: Guantanamo - das hat glücklicherweise auch die Bundeskanzlerin gefordert - muss so schnell wie möglich geschlossen werden. Die dort Einsitzenden müssen rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt werden. Darüber sollte sich der Deutsche Bundestag sehr einig sein. ({5}) Zum Schluss zu einem anderen Bereich. Ein besonderes Anliegen der Menschenrechtsarbeit der SPD-Bundestagsfraktion war und ist seit jeher, die Rechte der Kinder weltweit, aber auch national einzufordern und durchzusetzen. Der Siebte Menschenrechtsbericht gibt diesem Thema einen dementsprechenden Stellenwert. Es muss unsere Aufgabe sein, die Chancen von Kindern auf ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu verbessern. Ihre Ausbeutung in vielen Regionen dieser Erde, ihre Ausbeutung als Arbeitssklaven oder zu sexuellen Dienstleistungen sowie ihr Missbrauch als Soldaten und Soldatinnen in gewalttätigen Auseinandersetzungen sind verabscheuungswürdige Menschenrechtsverletzungen, gegen die wir stets vehement gekämpft haben und weiter kämpfen werden. Ich sehe es als einen großen Fortschritt an, dass es in Teilen Afrikas, insbesondere in Norduganda, offensichtlich gelingt, diesen Zustand langsam, aber sicher, wenn auch zu langsam, zu überwinden. Das haben wir zu meiner großen Freude gerade heute von Mitgliedern der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ erfahren. Daran sollten wir weiter arbeiten. ({6}) Aber ich benenne an dieser Stelle auch einen innerstaatlichen Mechanismus, über den wir uns sehr schnell verständigen müssen. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen ist auch im Sinne des Schutzes der Kinder weltweit ein Zeichen von Achtung und Verantwortlichkeit der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber diesen Kindern. Insofern ist es wichtig - wir haben das im Rahmen der Berichterstattung diskutiert, seit ich diesem Deutschen Bundestag angehöre -, dass ({7}) - ja, aber mehr kann ich nicht sagen - die noch bestehenden Vorbehalte Deutschlands zur Wirksamkeit der Kinderrechtskonvention endlich und ohne Einschränkung zurückgenommen werden. ({8}) Ich sage das ganz deutlich. In den letzten Jahren gab es ja immer wieder die eine oder andere Fechterei zwischen den Fraktionen. Aber im Bereich der Menschenrechtsarbeit bietet die große Koalition keine Legitimation mehr dafür, die Nichtrücknahme der Vorbehalte zu erklären. Auf die einschränkungslose Rücknahme dieser Vorbehalte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, sollten wir uns schnellstens verständigen. Alles andere wäre nicht gut für das Image Deutschlands in der Welt. ({9}) Meine Damen und Herren, der Siebte Bericht ist, wie gesagt, aus unserer Sicht ein gelungenes Dokument. Wir müssen seine Schlussfolgerungen umsetzen. Seneca, der römische Philosoph, hat bereits gesagt: „Nicht der Wissende ist glücklich, sondern der Handelnde.“ Es gäbe keine Fortschritte bei der Durchsetzung menschenrechtlicher Standards ohne die verdienstvolle Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen. Deshalb gilt mein ausdrücklicher Dank gerade den vielen ehrenamtlich Tätigen, die in allen Teilen der Welt unter oftmals schwierigsten Bedingungen aktiv sind und einen wesentlichen, einen unverzichtbaren Beitrag für die Menschen leisten, die in existenzieller Not sind. Ich hoffe und wünsche, dass es gelingt, die Zusammenarbeit zwischen Parlament und den Nichtregierungsorganisationen, insbesondere den im Forum Menschenrechte zusammengeschlossenen, zu vertiefen - im Interesse der Menschen, die unsere Unterstützung weiterhin benötigen. Herzlichen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Florian Toncar, FDP-Fraktion.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Beginn unserer heutigen großen Menschenrechtsdebatte möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich bei den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss, beim Auswärtigen Amt und beim Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung für die Zusammenarbeit zu bedanken. Sie ist in der Regel sachorientiert und wenig von den typischen Reflexen gekennzeichnet, die man in anderen Ausschüssen erlebt. Das empfinde ich als sehr angenehm. Wir diskutieren heute den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung. Die erste Frage, die sich stellt, lautet: Was muss ein solcher Bericht leisten? Ich erkenne zwei Hauptaufgaben. Es geht zum einen um die Information der Öffentlichkeit, um Menschenrechtsbildung und um Sammlung von Informationen über Menschenrechte. Das leistet der Bericht zweifelsohne. Ich glaube aber, dass das die weniger wichtige der beiden Aufgaben ist, die der Bericht erfüllen muss, denn es gibt viele Quellen, in denen man etwas über die Menschenrechtssituation nachlesen kann. Wir können die Berichte der Nichtregierungsorganisationen zu Rate ziehen oder den Jahresbericht von Amnesty International. Das Auswärtige Amt stellt Informationen über verschiedene Länder bereit und wir haben das Deutsche Institut für Menschenrechte. Es gibt eine Vielzahl von Quellen, die ähnliche Inhalte und Aufgaben vorweisen. Aber es gibt eine zweite Aufgabe. Das ist die Aufgabe, die diesen Bericht legitimiert und ihn besonders wichtig macht. Es geht um die Frage: Was tut die Bundesregierung im Bereich Menschenrechtspolitik? Ich glaube, ein solcher Bericht muss noch sehr viel klarer, als das bisher der Fall war, benennen, wo unsere Ziele und unsere Schwerpunkte sind, was wir gemacht haben, welcher Instrumente wir uns bedient haben und wie am Ende der Erfolg aussah. Mit dem nationalen Aktionsplan, den es jetzt erstmals gibt, ist ein Anfang gemacht. Dieser Aktionsplan stellt das Herz und die eigentliche Begründung für die Existenz eines solchen Menschenrechtsberichts dar. Aus diesem Grund muss er im Zentrum stehen und darf aus meiner Sicht nicht durch ein Übermaß an Fakten und sonstigen Zusatzinformationen verwässert werden. Der Leser muss klar erkennen können, was die Bundesregierung am Ende getan und erreicht hat. ({0}) Natürlich sind in dem Bericht eine Vielzahl von Themen angesprochen. Aber ein Gedanke zieht sich durch, der mir persönlich besonders wichtig ist, nämlich der Gedanke des Zusammenhangs von Menschenrechtspolitik im Inneren und im Äußeren. Es ist ein Zusammenhang, den man eindeutig sehen kann. Bei manchen Fehlentwicklungen kann man erkennen, dass er nicht beachtet wird, etwa in den USA. Da sind Fehlentwicklungen im äußeren Bereich mit Fehlentwicklungen im inneren Bereich einhergegangen. Das sollte uns in Deutschland eine Lehre sein. Natürlich sind wir in Deutschland immer noch auf einem sehr hohen Stand, was die Verwirklichung der Menschenrechte angeht. Aber wir hatten beispielsweise im Berichtszeitraum auch eine Diskussion über das Folterverbot. Es gab auch in Intellektuellenzirkeln und in dem einen oder anderen Feuilleton durchaus Menschen, die vorgeschlagen haben, Folter unter eine Art Abwägung zu stellen, das heißt, dass man zum Beispiel foltern darf, wenn besonders schlimme Schäden oder Ähnliches drohen. Ich glaube, dass es Aufgabe unseres Ausschusses und dieses Hauses ist, darauf zu achten, dass jede Form von Relativierung des Folterverbots bei uns im Inland keine Chance bekommt. ({1}) Die Glaubwürdigkeit, die dadurch entsteht, dass wir uns im Inneren an unsere Werte halten, hilft uns natürlich auch im Äußeren. Das ist unbestreitbar. Wenn wir uns im Inneren Dinge zuschulden kommen lassen, wird das bei Gesprächen im Ausland sofort aufgegriffen. Das zerstört die Basis, auf der wir argumentieren. Deswegen hat es mich schon geärgert, als vor einiger Zeit bekannt wurde, dass deutsche Beamte in Guantanamo und auch in Damaskus in Gefängnissen Verhöre vorgenommen oder sich an solchen Verhören beteiligt haben; denn das führt dazu, dass uns, wenn wir in den entsprechenden Ländern unterwegs sind, diese Geschichte vorgehalten wird und wir dem Vorwurf der Doppelmoral entgegentreten müssen. ({2}) Aus diesem Grunde halte ich es auch für ausgesprochen bedenklich, dass der Kontakt von deutschen Soldaten bei der Bewachung eines Gefängnisses in Kandahar dem Verteidigungsausschuss fünf Jahre lang nicht bekannt geworden ist. ({3}) Jetzt stehen Vorwürfe im Raum, die aufgeklärt werden müssen. Es stellt sich natürlich die Frage, warum das bisher nicht geschehen ist. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schreibt heute völlig zu Recht: Was wäre daran verwerflich gewesen - wenn sonst nichts war? Das Leidige an solchen Vorkommnissen ist immer, dass das Verteidigungsministerium sich einem Verdacht aussetzt. Noch leidiger ist es, wenn an den Vorwürfen am Ende überhaupt nichts dran ist. Deswegen kann ich nur ausgesprochen bedauern und mein Missfallen ausdrücken, dass es wieder einmal so gelaufen und das Parlament nicht angemessen informiert worden ist. ({4}) Es ist nämlich so, dass man mit wenigen Handstrichen und durch wenige Einzelpersonen manches einreiFlorian Toncar ßen kann, was viele andere an unterschiedlichsten Stellen im Bereich der Menschenrechtspolitik jahrelang aufgebaut haben. Wir haben in Deutschland durchaus einen Ruf zu verlieren. Ich möchte nicht, dass sich solche Vorgänge und auch solche Informationsverläufe wiederholen. Es kann auch nicht dabei bleiben, dass man diese Vorgänge allein aufgrund von dienstlichen Erklärungen von Soldaten aufklärt. Da wird schon etwas mehr Aufwand erforderlich sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen zweiten Antrag, über den wir heute beschließen. Das ist ein Antrag zum Menschenrechtsrat, der auf den ersten Erfahrungen mit diesem neuen Gremium beruht. Es gibt gute Erfahrungen; das weiß ich. Ich möchte trotz allem sagen, dass ich persönlich von den Entwicklungen, die sich in Genf ergeben haben, insgesamt enttäuscht bin. Ich glaube, dass es einige ernüchternde Entwicklungen gegeben hat. Es droht die Entwicklung, dass wir Sitzungsperiode für Sitzungsperiode immer mehr dazu übergehen, in diesem Rat Schadensbegrenzung zu betreiben und Schlimmeres zu verhindern. Das kann nicht Sinn eines solchen Gremiums sein. Der Antrag bringt in sehr klarer Sprache zum Ausdruck, dass es Defizite gibt. Schon in der Überschrift heißt es: „Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen“. Wirksamkeit scheint noch nicht gegeben zu sein; Glaubwürdigkeit muss erst noch geschaffen werden. Da haben die Antragsteller Recht. Es ist durchaus bemerkenswert, dass das auch in der Klarheit der Formulierung zum Ausdruck kommt. In dem Antrag der Koalition wird zu Recht von der großen Gefahr der Blockbildung gesprochen. Die Formulierung, dass die Mehrheit der Staaten des Südens die Handlungsfähigkeit der Minderheit in unerträglicher Weise einschränken würde, spiegelt durchaus wider, was im Menschenrechtsrat abgelaufen ist. Da haben wir einige bedauerliche Fehlentwicklungen zu verzeichnen. ({5}) Für mich persönlich ist ganz wichtig, dass wir beim Universal Periodic Review, also der regelmäßigen Überprüfung aller Mitgliedstaaten durch den Menschenrechtsrat, weiterkommen. Eine Voraussetzung für die Zustimmung zu diesem Kompromiss war, dass sich die Mitgliedstaaten dieses Rates diesem Review als Erste und zuvorderst stellen. Damit ist sichergestellt, dass ein Land, das mitentscheiden kann, selbst überprüft worden ist. Mit dieser Regelung habe ich die Hoffnung verbunden, dass die menschenrechtspolitisch problematischen Staaten, die zwar Mitglied dieses Rates sind, die aber nicht immer die konstruktivste Arbeit leisten, vielleicht zu der einen oder anderen Verbesserung veranlasst werden können. Wenn dieses Instrument nachher nicht greift, dann wäre ein Kernelement des neuen Menschenrechtsrats gescheitert. Das darf nicht passieren. ({6}) Ich möchte mit einem wichtigen Gedanken schließen, der auch in diesem Antrag angesprochen wird. Es geht um den Einfluss Europas auf die Menschenrechtspolitik. Durch neue starke Spieler, die auf die Bühne treten - ich nenne beispielsweise China, das in Afrika sehr präsent ist -, wird es für uns Europäer zunehmend schwieriger, in Gesprächen mit Vertretern anderer Länder menschenrechtspolitische Positionen zu vertreten; denn es gibt für diese Länder alternative Gesprächspartner, die keine lästigen Fragen nach den Menschenrechten stellen. Wir müssen die Diskussion über unsere Möglichkeiten in der internationalen Menschenrechtspolitik etwas offener führen. Wir müssen aber auch klar sagen, dass es nicht angehen kann, dass sich ein Land wie China, das immerhin ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist - die Vereinten Nationen haben ja die Sicherung des Weltfriedens als Aufgabe -, auf Dauer bei allen menschenrechtspolitisch bedeutsamen Entscheidungen eine Zustimmung für selbstverständliche Maßnahmen - beispielsweise für das Vorgehen gegen den Massenmord in Darfur - politisch vergolden lässt, indem ihm an anderer Stelle Zugeständnisse gemacht werden. Wenn alle so handeln würden, wäre keine internationale Organisation mehr handlungsfähig. Aus diesem Grund müssen wir dieser Tendenz entgegentreten. ({7}) Ich hoffe, dass die Bundesregierung dieses Thema zum Schwerpunkt ihrer Ratspräsidentschaft macht. Da diese Forderung auch im Antrag enthalten ist, gehe ich davon aus, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung zur Ratspräsidentschaft auf das Menschenrechtsthema ausführlich eingehen wird. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Holger Haibach, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will im Hinblick auf das, was der Kollege Toncar über das Verhalten von deutschen Soldaten und deutschen Beamten gesagt hat, gerne wiederholen, was ich im letzten Jahr an dieser Stelle dazu gesagt habe: Wenn sich deutsche Soldaten und deutsche Beamte - an welcher Stelle auch immer nicht ordnungsgemäß verhalten haben, dann gehört das auf den Tisch des Hauses und dann müssen diese Vorfälle aufgeklärt werden. Aber bevor das der Fall ist, rate ich, dass wir sehr vorsichtig mit Vorwürfen sind und Vorurteile vermeiden; denn das kann ganz schnell zum Bumerang werden. ({0}) Was Herr Toncar gesagt hat und was der Kollege Strässer angemerkt hat, zeigt: Es ist die Hauptaufgabe eines Menschenrechtspolitikers, unangenehme Themen deutlich, wenn auch diplomatisch allerorts und zu jeder Zeit anzusprechen. Das gilt für das Ausland wie auch für das Inland. Deshalb ist der Bericht der Bundesregierung über die Menschenrechtspolitik, über den wir heute diskutieren, ein wichtiger Beitrag für eine Standortbestimmung. Er gibt einen Überblick und ist zugleich eine Bewertung nationaler und internationaler Menschenrechtspolitik. Wir alle wissen, dass die Erstellung eines solchen Werkes ein hartes Stück Arbeit darstellt und großer Koordinationsarbeit innerhalb der Bundesregierung bedarf. Deswegen möchte ich dem Auswärtigen Amt und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für die Erstellung dieses Berichtes verantwortlich sind, ganz herzlich danken. ({1}) Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen; das wird nachher mein Kollege von Bismarck tun. Ich will hingegen kurz auf die Erwartungen für die künftigen Jahre, die wir in einer interfraktionellen Beschlussempfehlung niedergelegt haben, zu sprechen kommen. Nachdem der nächste Bericht etwas außerhalb des sonstigen Rhythmus im Jahr 2008 vorgelegt wird, wollen wir zur zweijährigen Periode zurückkehren. Wir wollen weiterhin, dass die Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe verstanden wird und dass auswärtige und innenpolitische Themenbereiche kohärent beleuchtet werden. Wir wollen, dass Themen weniger deskriptiv und noch mehr auf die Handlungen und Handlungsabsichten der Bundesregierung ausgerichtet werden, dass der Nationale Aktionsplan als Bestandteil des Berichtes erhalten bleibt und dass die Tätigkeiten Deutschlands im Rahmen der internationalen Menschenrechtspolitik dargestellt werden. Spätestens mit der internationalen Menschrechtspolitik bin ich wieder bei den unangenehmen Dingen, die man ab und zu als Menschenrechtspolitiker sagen muss. „Chance für die Menschenrechte“, das war eine der Überschriften, mit der eine Zeitung den damals neu gegründeten Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen begrüßt hat. Heute, nachdem zwei von drei der für dieses Jahr vorgesehenen Sitzungsperioden vorübergegangen sind, bietet sich ein Bild mit Licht und Schatten. Auf der einen Seite gibt es positive Aspekte: die verstärkte Beteiligung der Nichtregierungsorganisationen am interaktiven Dialog, die erhöhte Tagungsfrequenz und -dauer sowie die Bereitschaft, sich neben wichtigen Verfahrensfragen mit mindestens ebenso wichtigen inhaltlichen Fragen zeitnah zu beschäftigen. - Auf der anderen Seite haben wir sehr viel Anlass zur Sorge: Die aus der Menschenrechtskommission bekannte Blockbildung scheint sich bisher eher zu verstärken. Der Erhalt bewährter Mechanismen, etwa der Sonderberichterstatter, scheint zumindest fraglich. Der Universal Periodic Review, der, wie der Kollege Toncar richtig angemerkt hat, integraler Bestandteil der gesamten Reform ist und dafür sorgen soll, dass alle Mitgliedstaaten der UN mindestens alle fünf Jahre einer Überprüfung unterworfen werden, wird nur wirksam sein, wenn wir es schaffen, dass diese Überprüfung von unabhängigen Experten durchgeführt wird, und zwar auf der Grundlage ausreichenden Datenmaterials. Das bedeutet, dass nicht nur Regierungsdokumente der jeweiligen Länder, sondern auch Dokumente von unabhängigen internationalen Gremien, Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsgruppen Berücksichtigung finden müssen. ({2}) Ich glaube, diese Punkte werden entscheidend dafür sein, ob der Menschenrechtsrat Erfolg haben wird. Es gibt keine Alternative. Entweder wir sind erfolgreich oder wir werden scheitern. Ich weiß nicht, wie ein neuer Weg aussehen könnte. Daran wird sich entscheiden, ob der Rat eine Chance für die Menschenrechte ist oder sogar hinter die alte Menschenrechtskommission zurückfällt, was eine Katastrophe wäre. Der Deutsche Bundestag sollte hier seine Stimme erheben. Der Antrag der Koalition bietet eine gute Grundlage hierfür. Deshalb kann ich ihn wärmstens zur Zustimmung empfehlen. In diesem Zusammenhang möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass bei dem Besuch, den die Vorsitzende und ich in Genf gemacht haben, die konstruktive Rolle der Bundesrepublik bei den schwierigen Verhandlungen immer wieder erwähnt worden ist. Auch dafür möchte ich der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Genf recht herzlich danken. ({3}) Auch das ist schon angesprochen worden: Es wird noch mehr Verantwortung auf Deutschland zukommen. Wir haben nicht nur die Ratspräsidentschaft bei der Europäischen Union, wir haben noch dazu den Vorsitz bei der G 8. Das ist eine außergewöhnliche Situation, die es uns einerseits ermöglicht, innerhalb des Rates EU-Positionen im Sinne deutscher Menschenrechtspolitik noch stärker zu beeinflussen. Andererseits haben wir vielleicht auch die Möglichkeit, durch entsprechende Diskussionen in der G 8 dafür zu sorgen, dass die von mir eben angesprochene Blockbildung ein bisschen aufgebrochen wird und Menschenrechte einen höheren Stellenwert bekommen. Menschenrechten einen höheren Stellenwert zu geben ist offensichtlich per se die sehr löbliche Absicht, die die Fraktion der Grünen mit ihrem Antrag zu Zentralasien verfolgt. Er ist vermutlich vor dem Hintergrund unserer kürzlich beendeten Usbekistanreise entstanden. Der Antrag enthält sicherlich viele richtige Feststellungen. Über die eine oder andere Schlussfolgerung wird man jedoch im Laufe des Verfahrens noch diskutieren müssen, vor allen Dingen darüber, wie realistisch und inwiefern sie umsetzbar sein wird. Zusammenfassend habe ich, meinen Aussagen zu Anfang folgend, viel Unangenehmes sagen müssen. Lassen Sie uns mit der heutigen Debatte helfen, dass eines TaHolger Haibach ges eine Situation eintritt, in der Menschenrechtspolitiker mehr Angenehmes als Unangenehmes über Menschenrechte sagen können. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Michael Leutert für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Fraktionen im Bundestag begrüßen, dass es den Menschenrechtsbericht gibt und dass er in den nächsten Jahren fortgeschrieben werden soll. Entscheidend ist aber nicht, was darin steht - das ist meistens gut und bietet zumeist einen Handlungsfaden für die nächsten Jahre -, sondern das, was nicht darin steht. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses gibt meines Erachtens zwei wichtige Impulse, wie man diese Mängel beheben könnte: Der erste Aspekt ist - das wurde schon angesprochen -, dass Menschenrechtspolitik als Querschnittsaufgabe zu betrachten ist; sie bezieht sich nicht nur auf die Außenpolitik. In der Beschlussempfehlung werden insbesondere Frauen- und Kinderrechte angesprochen. Zweitens soll auch mit Blick auf die Prozesse in der Europäischen Union mehr Gewicht auf die Einhaltung der Menschenrechte gelegt werden. An dieser Stelle möchte ich meine Kritik anbringen und sagen, was ich mir für den nächsten Menschenrechtsbericht wünsche. Herr Haibach, Sie haben darauf hingewiesen, dass es auch Aufgabe von Menschenrechtspolitikern ist, unbequeme Dinge zu sagen. ({0}) Das möchte ich tun, indem ich auf ein paar Defizite des Berichts hinweise. Ich wünsche mir, dass im nächsten Menschenrechtsbericht steht, dass Menschenrechtsverletzungen leider auch in der Europäischen Union an der Tagesordnung sind. Ich spreche die Problematik um das Baskenland an. Amnesty International berichtet immer wieder davon, dass im Baskenland willkürliche Verhaftungen stattfinden, dass dabei Menschen verachtende Methoden angewandt werden, die in den Bereich der Folter fallen, unter anderem die Bolsa-Methode, bei der dem Betroffenen eine Plastiktüte über den Kopf gezogen wird und er einem Erstickungstod nahe gebracht wird, dass Zeitungen verboten werden, dass das Recht auf Meinungsfreiheit eingeschränkt wird usw. Davon steht in diesem Bericht nichts. Weiter möchte ich darauf hinweisen, dass im Jahr 2001 während des G-8-Gipfels in Genua bei dem Überfall auf die Diaz-Schule mehr als 100 Menschen willkürlich verhaftet worden sind und unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt und geschlagen wurden. Einige wurden so schwer geschlagen, dass sie noch heute unter den Folgen leiden. Für die Verantwortlichen hatte das bisher keinerlei Konsequenzen. Auch das wird in dem Bericht nicht erwähnt. Was die Querschnittsaufgabe betrifft, möchte ich auf Folgendes hinweisen: Wie wir alle wissen, gibt es nicht bloß bürgerliche, sondern auch soziale Menschenrechte. Soziale und bürgerliche Rechte gehören untrennbar zueinander; ich glaube, darüber sind wir uns einig. Wir hatten heute das Vergnügen, einer Debatte über die insbesondere von der SPD neu entdeckte so genannte Unterschicht in Deutschland beizuwohnen. Wie steht es denn um die sozialen Rechte in Deutschland? Ich erinnere an Art. 22 der Menschenrechtserklärung, das Recht auf soziale Sicherheit. Wie steht es in Deutschland darum? In der Unterschichtendebatte geht es um 11 Millionen Menschen. Es geht nicht um einige Wenige, die irgendwo in ihrem Zimmerchen sitzen. Wie steht es bei diesen Menschen um die Einhaltung des Art. 23 der Menschenrechtserklärung, um das Recht auf Arbeit? Wie steht es um das Recht auf - das sage ich an die Adresse der FDP - befriedigende Entlohnung, wie es in der Menschenrechtserklärung heißt? Wie steht es um Art. 24, Recht auf regelmäßigen - im Übrigen bezahlten Urlaub? - Das alles ist Inhalt der Menschenrechtserklärung, die nicht wir erstellt haben. Es sind Rechte, denen wir immer wieder beipflichten und die wir gerne hochhalten. Aber wie kann ein Hartz-IV-Empfänger, der von der Willkür seines so genannten Fallmanagers abhängig ist, wenn er in den Urlaub fahren möchte, von seinem Recht auf Urlaub Gebrauch machen? Wie steht es um Art. 26, Recht auf Bildung? Im Haushaltsausschuss haben wir heute über den Einzelplan 30 - Bildungs-/Forschungsministerium - debattiert. In diesem Zusammenhang wurde deutlich gemacht, dass in Deutschland nur noch 11 Prozent der Kinder aus Schichten mit niedrigem Einkommen ein Studium aufnehmen können, aber ein Drittel der Kinder aus der Schicht mit mittlerem, zwei Drittel aus der Schicht mit gehobenem und über 80 Prozent aus der Schicht mit hohem Einkommen. Wie wird angesichts dessen das Recht auf Bildung verwirklicht? Wie steht es um Art. 27, Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben? Sie fragen sich vielleicht, was ich damit meine. Gehen Sie zum Beispiel einmal mit Ihren Kindern in den Zoo. Dort zahlen Sie 12 Euro Eintritt. Das sind ungefähr 4 Prozent des Regelsatzes eines ALGII-Empfängers. Wie steht es darum? Wie gehen wir mit Art. 12 um, Recht auf Nichtbeeinträchtigung seiner Ehre und seines Rufes? Dieses Recht hat jeder Mensch. Doch diese Menschen hören immer wieder, sie ruhten sich in der sozialen Hängematte aus - dieses Argument ist heute wieder gefallen oder seien antriebslos. Letztendlich frage ich - auch das wurde schon von allen Rednern angesprochen -, wie es um Art. 9, den Schutz vor willkürlichen Verhaftungen, und Art. 5, das Folterverbot, steht. Wir müssen uns fragen - die Zeitungen sind heute wieder voll mit diesem Thema -, welche Rolle das KSK tatsächlich im Ausland spielt. War das BKA zum Beispiel in syrischen Folterknästen und hat dort Gefangene verhört? ({1}) Nutzen wir Informationen, die unter Folter erlangt wurden, oder nutzen wir sie nicht? Diese Fragen interessieren mich. Ich denke, dass sie im nächsten Menschenrechtsbericht mehr Gewicht finden sollten. Ich komme zurück zur Querschnittsaufgabe. Ich habe skizziert, was ich darunter verstehe. Eine Konsequenz für das Parlament sollte sein, dass der Menschenrechtsbericht in Zukunft in allen Ausschüssen beraten wird, insbesondere im Sozialausschuss. Wenn wir die Menschenrechte im eigenen Land vernachlässigen - das ist für mich ein ernsthaftes Problem -, dann verwirken wir auch das Recht, auf internationaler Ebene für die Einhaltung der Menschenrechte einzutreten. Danke. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion der Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade nach dieser Rede muss ich sagen: Man darf nicht alles mit allem vermengen und die Kriterien für die Bewertung der Situation in verschiedenen Ländern nicht durcheinander bringen. Das scheint Ihrem Redebeitrag leider nicht ganz gelungen zu sein. ({0}) Ich finde es ganz entscheidend - dieser Bericht steht exemplarisch dafür -, dass man Menschenrechtspolitik immer innenpolitisch und außenpolitisch sehen und beachten muss. Wir müssen immer darauf achten, dass wir die Menschenrechte auch in allen Bereichen gewährleisten und nicht Standards bestimmter menschenrechtspolitischer Konventionen verletzen. In diesem Bericht finden sich zum Beispiel Maßnahmen zum Folterverbot, Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen und für Kinderrechte, und zwar national wie international. Deswegen halte ich den Ansatz des Berichts, das zusammen zu sehen, für richtig. Ich bedauere sehr, Herr Gloser, dass Ihre Kollegen aus dem Bundesinnenministerium dieser Debatte nicht beiwohnen. ({1}) Das hätte gut zum Ausdruck gebracht, dass wir die Menschenrechtspolitik nicht nur als Kritik gegen andere Länder wenden, sondern dass sie ein Maßstab ist, den wir auch an uns anlegen lassen und für dessen Nichteinhaltung wir uns kritisieren lassen. Wenn wir die Menschenrechte international als wesentliches Leitmotiv dafür, wie Staaten mit ihren Bürgerinnen und Bürgern umgehen sollen, durchsetzen wollen, müssen wir deutlich machen, dass Menschenrechte kein Kulturprojekt des Westens sind, sondern dass Menschenrechte universell sind und überall gelten. Menschenrechte beinhalten auch das Recht auf Nahrung, das Recht auf Bildung und das Recht auf Arbeit. Das ist richtig. Aber es darf vor allem nicht sein, dass die Kinder, weil die Eltern eine „falsche“ politische Gesinnung haben oder einer falschen NGO angehören, nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Das sind im Kern die Fragen, über die wir im Zusammenhang mit der Menschenrechtspolitik diskutieren. In vielen Ländern, die wir als Ausschuss besuchen, würde Hartz IV für die Menschen ohne Einkommen und ohne Arbeit schon eine erhebliche Verbesserung der sozialen Lage bedeuten. ({2}) Das sollte man einmal festhalten, bevor wir hier eine Debatte führen, als läge Deutschland mitten in Usbekistan. Ich finde es sehr gut, dass sich die Koalition zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit mit der Arbeit des Menschenrechtsrates beschäftigt. Das ist in der Tat wichtig; denn wir hatten höhere Erwartungen an diese Reform geknüpft. Wir müssen die Arbeit des Rates aufmerksam verfolgen. Deshalb werden wir den Antrag der Koalition unterstützen. Obwohl vieles im Zusammenhang mit dem Menschenrechtsrat unzureichend ist und wir deshalb genau hinschauen und die Bundesregierung bei ihren Initiativen unterstützen müssen, dürfen wir die anderen Mechanismen, die uns zur Verfügung stehen, die OSZE, die Europäische Union und auch den Europarat, nicht hintanstellen. Deshalb sind wir hier insbesondere in Bezug auf Zentralasien initiativ geworden. Dort müssen die Mechanismen der OSZE wirkungsmächtiger ausgestaltet werden. Im Rahmen unserer Reise nach Usbekistan haben wir, beispielhaft für die gesamte Region, erfahren, wie es dort um Demokratie und Menschenrechte steht. Usbekistan ist das Land mit den meisten Menschenrechtsinstitutionen. Zumindest gibt es dort die meisten Verwaltungen, die das Wort „Menschenrechte“ im Namen führen. Das steht allerdings im umgekehrten Verhältnis dazu, in welchem Umfang den Bürgerinnen und Bürger in diesem Land Menschenrechte gewährt werden. Das muss man offen aussprechen, damit die Verantwortlichen in den betreffenden Ländern merken, dass wir uns als westliche Politikerinnen und Politiker von solcher Nomenklatura und solchem Windowdressing nicht an der Nase herumführen lassen. Volker Beck ({3}) ({4}) In Usbekistan kann man sehr gut beobachten, dass man Menschenrechtsdialoge - auch mit Usbekistan führen wir einen solchen Dialog - auf Dauer nicht ohne Zielvorgaben führen darf. Andernfalls entwickeln sie sich zu Veranstaltungen, auf die sich diese Regierungen berufen können nach dem Motto: Diese Probleme werden angesprochen und gelöst. Es gibt keine Probleme, die nicht zu lösen sind. - Mit solchen Sprachformeln wird allerdings überdeckt, dass in puncto Einhaltung der Menschenrechte nichts, aber auch gar nichts geschieht bzw. dass sich die Situation sogar noch verschlechtert. In Usbekistan können wir, ähnlich wie in Russland - zwar auf einem anderen Niveau, aber mit derselben negativen Tendenz -, ebenfalls beobachten, dass die NGOs neu registriert werden und am Ende dieses Prozesses Hunderte oder sogar Tausende von ihnen unter den Tisch gefallen oder in die Illegalität gerutscht sind. Solche Entwicklungen sind in den postkommunistischen Staaten leider häufiger zu beobachten, insbesondere im Raum der GUS. Wir müssen deutlich machen: Wir lassen Menschenrechtsdialoge von diesen Regimen nicht instrumentalisieren, um sich dadurch zu legitimieren. Diese Dialoge werden von uns nur dann fortgeführt, wenn sich dadurch eine schrittweise Verbesserung der Situation der Menschen in den jeweiligen Ländern erzielen lässt. ({5}) Auch muss ganz klar sein, dass wir die Sanktionen gegen Usbekistan nicht aufheben, solange man dort nicht bereit ist, der OSZE wieder ein volles Mandat für die Arbeit in diesem Land zu erteilen ({6}) und dem Internationalen Roten Kreuz freien Zugang zu allen Gefängnissen und allen Gefangenen zu gewähren. Wir müssen deutlich machen, dass wir, was bestimmte Standards angeht, nicht mit uns spaßen lassen. Ich war sehr beeindruckt - das will ich kritisch anmerken -, als uns die Vertreter der NGOs gesagt haben: Deutschland ist in Europa das Land, das den Menschenrechten in seinen auswärtigen Beziehungen zu Usbekistan den geringsten Stellenwert einräumt. - Das sollten wir uns hinter die Ohren schreiben und deutlich machen, dass dem nicht so ist. Die Usbeken fühlen sich sicher, weil unser Militärstandort in Termes ist. Er ist wichtig für unseren Einsatz in Afghanistan. Aber wir müssen auch einen Plan B in der Tasche haben. Wir dürfen durch Termes in unseren auswärtigen Beziehungen zu diesem Land unter menschenrechtspolitischen Gesichtspunkten nicht erpressbar sein. Christoph Strässer, Sie hatten vorhin darauf hingewiesen, dass die UN-Kinderschutzkonvention ein ganz entscheidender Punkt ist. Diese Konvention müssen wir endlich vorbehaltlos umsetzen. Deshalb verstehe ich nicht, warum die große Koalition gestern wieder ganz groß gekniffen hat. Als wir unseren Antrag zur Abstimmung gestellt haben, haben Sie seine Behandlung mit einer fadenscheinigen Ausrede vertagt. ({7}) - Bitte schön, Herr Haibach.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Einen Moment. Es ist immer noch so, dass ich das Wort erteile. Ihre Redezeit, lieber Kollege Beck, ist abgelaufen. Deswegen ist auch keine Zwischenfrage mehr möglich.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Doch, Herr Präsident.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Handeln Sie nicht mit mir! Ich habe die Uhr vor mir. Ihre Redezeit ist überschritten.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Seien Sie doch gnädig!

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte kommen Sie zum Ende Ihrer Rede. Die Zwischenfrage wird nicht mehr zugelassen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Haibach darf seine Frage also nicht stellen. Ich stelle fest: Sie hätten das gestern auf den Weg bringen können. Das haben Sie aber nicht getan. Sie haben sich herausgeredet, indem Sie angekündigt haben, eine Anhörung zur Verankerung der Kinderrechte in der Verfassung durchführen zu wollen. Dieses Thema hat mit der UN-Kinderschutzkonvention aber nichts zu tun. Bei der Kinderschutzkonvention geht es um den Schutz von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen, nicht um die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Sie hätten beides auf den Weg bringen können: das eine mit Ihrer Anhörung, das andere durch Zustimmung zu unserem Antrag. Schade, dass daraus nichts geworden ist. Aber vielleicht bekommen wir das noch hin. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Kollege Haibach bekommt nun Gelegenheit zu einer Kurzintervention. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Herr Kollege Beck, als Parlamentarischer Geschäftsführer sind Sie jemand, der mit Verfahrensfragen vertraut ist und, wie ich weiß, auch großen Wert darauf legt, zumindest wenn es gewisse Verfah5564 rensfragen betrifft. Deshalb möchte ich mir schon die Bemerkung erlauben, dass wir gestern nicht in der Sache über den Antrag abgestimmt haben. Wir haben, weil der federführende Ausschuss - wir sind nicht der federführende Ausschuss - die Befassung mit diesem Antrag vertagt hat, dies ebenfalls getan. Darüber haben wir gestern abgestimmt. Wir haben nicht in der Sache abgestimmt. Ich finde, das hätten Sie der Redlichkeit halber sagen können. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, bitte schön. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Antwort heißt: Die Koalition hat in allen Ausschüssen das Gleiche getan. Sie hat unsere Fraktion und die anderen Oppositionsfraktionen daran gehindert, diesen Antrag zu beschließen, in dem es um die Rücknahme der Vorbehalte geht. Da sind die Mitglieder der Koalition im Menschenrechtsausschuss nicht besser und nicht schlechter als die Mitglieder im Familienausschuss. Bloß, die Argumente sind überall gleich schwach. Es geht letztlich darum, dass diese Vorbehalte zurückgenommen werden. Man kann nicht darauf verweisen, dass es in einem anderen Gremium, in der Kinderkommission, eine Anhörung über die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung gebe. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, außer dass das Wort „Kinder“ in beiden Titeln vorkommt. Deshalb ist es eine faule Ausrede dafür, dass Sie als Koalition nicht in der Lage sind, sich in dieser Frage abschließend zu positionieren. Im federführenden Ausschuss hat man zudem gesagt, man müsse einmal abwarten, was bei dieser Anhörung herauskommt. Vertreten Sie die Position, wie Christoph Strässer sie hier deutlich gemacht hat, dass die Vorbehalte zurückgenommen werden können? Oder wollen Sie abwarten und zu neuen Erkenntnissen gelangen, was am Ende bedeuten könnte, dass Sie an den Vorbehalten festhalten wollen? Was ist denn nun die Position der großen Koalition in der Frage der Vorbehalte bei der Kinderschutzkonvention? Die Antwort darauf sind Sie mit Ihrer Kurzintervention leider schuldig geblieben. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Christoph Strässer.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Beck, es ist schön, mit welcher Eloquenz Sie hier das Versagen Ihrer eigenen Leute in den letzten beiden Legislaturperioden zum Ausdruck bringen. Sie wissen genau, dass wir im Deutschen Bundestag die alte Bundesregierung mindestens zweimal aufgefordert haben, diese Vorbehalte aufzuheben. Sie wissen auch genau, dass das unter Ihrer Regierungsbeteiligung nicht stattgefunden hat. Deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, in dieser wichtigen Frage ein Schaugefecht zu veranstalten. Wir wollen und schaffen das in dieser Legislaturperiode mit dieser Koalition. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, in aller notwendigen Kürze. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Geschäftsordnung, Herr Präsident, gesteht mir hierfür drei Minuten zu. Sie wären sicher besser weggekommen, hätten Sie vorhin die Zwischenfrage zugelassen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich muss mich auch an die Geschäftsordnung halten.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das will ich, ohne den Präsidenten zu kritisieren, anmerken. - Ich will trotzdem in aller Kürze sprechen und mein Rededeputat nicht ausschöpfen. Lieber Herr Strässer, die alte Koalition hat im Bundestag immerhin beschlossen, diese Vorbehalte zurückzunehmen. Wir haben uns nicht gescheut, zu sagen, welche Auffassung wir haben, obwohl es schwierig war und Otto Schily beinahe aus dem Fenster gesprungen wäre. ({0}) Dass das nachher von der Administration nicht vollzogen wurde, steht auf einem anderen Blatt. Sie hätten unseren Antrag gestern beschließen und dann dafür sorgen können, dass er von der Regierung endlich vollzogen wird; denn Otto ist ja nicht mehr da. ({1}) - Nicht in der Regierung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Eduard von Bismarck, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Carl Eduard Bismarck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003723, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte fast gesagt: Jetzt ist Otto wieder da. So hieß mein Ur-Ur-Großvater. Wir beraten heute die Beschlussempfehlung zum Menschenrechtsbericht der Bundesregierung. Papier ist bekanntlich geduldig. So könnte man geneigt sein, den immerhin 370 Seiten starken Bericht der Bundesregierung auf den Lesestapel für die nächste Sommerpause zu legen. Dies wäre allerdings ein fataler Fehler; denn der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist das wichtigste amtliche Dokument zum Zustand der Menschenrechte weltweit und in Deutschland. Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung legt Zeugnis ab über Art und Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen in aller Welt. Gleichzeitig stellt er dar, wie die Bundesregierung auf bi- und multilateraler Ebene aktiv wird, um grundlegende Menschenrechte in der Welt zu fördern. An dieser Stelle möchte ich der Bundesregierung und insbesondere dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Günter Nooke, sowie seinem Vorgänger Tom Koenigs meinen herzlichen Dank für ihr Engagement aussprechen. ({0}) Deutschland hat in Fragen der Förderung von Menschenrechten international einen ausgezeichneten Ruf. Dies darf für uns jedoch kein Ruhekissen sein. Ein Blick in die Tagespresse lässt erahnen, dass der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung 2008 kaum dünner ausfallen wird. Eine Vielzahl von Ereignissen, bei denen Menschen um ihre grundlegenden Rechte gebracht werden, dürfen dies leider nicht zulassen. Der Mord an der russischen Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Anna Politkowskaja vor zwei Wochen hat international große Bestürzung ausgelöst. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es sich hierbei um einen politischen Mord gehandelt hat. Wie kaum eine andere Journalistin war Anna Politkowskaja für ihren Mut bekannt, Missstände wie Korruption und Menschenrechtsverletzungen im russischen Militär, insbesondere in der Krisenregion Tschetschenien, anzuprangern. Auch wenn Präsident Putin eine Aufklärung des Mordes angekündigt hat, bleibt ein fader Beigeschmack. ({1}) Die Äußerung Putins, die Ermordung Politkowskajas schade Russland und den Behörden in Tschetschenien mehr, als ihre Artikel es vermocht haben, verdeutlicht zum wiederholten Male den Zynismus und die Hybris des russischen Präsidenten. Und so verdient es unsere Aufmerksamkeit, wenn einer der führenden Menschenrechtsberater von Präsident Putin, Oleg Orlow, aus diesen Äußerungen die Konsequenzen gezogen und sein Amt niedergelegt hat. Gleichzeitig muss es uns mit äußerster Besorgnis erfüllen, dass die russische Polizei laut Agenturberichten vor einigen Tagen in der südrussischen Stadt Nasran eine Sympathiekundgebung für Anna Politkowskaja gewaltsam aufgelöst und fünf Demonstranten festgenommen hat. Dabei hatten die Teilnehmer der Kundgebung nur dazu aufgefordert, die Mörder der Journalistin unverzüglich ausfindig zu machen. Russland ist zwar nur ein Land von vielen auf der Welt, in denen wir Verstöße gegen das Menschenrecht zu beklagen haben. Aber die Vielzahl an Besorgnis erregenden Nachrichten in diesen Tagen rechtfertigt meiner Meinung nach die besondere Aufmerksamkeit, die wir gerade diesem politischen Partner widmen müssen. ({2}) Meine Damen und Herren, der Fall Politkowskaja reiht sich in eine Serie von Morden an Journalisten in Russland ein. In den Jahren 1996 bis 2005 sind in Russland 24 Journalisten von Auftragskillern umgebracht worden. Was ist in diesem Land los, welches Mitglied der UN und des Europarates ist und eine Vielzahl von Menschenrechtskonventionen unterschrieben hat? Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschenrechtskonventionen zu Lippenbekenntnissen degradiert werden! Lassen Sie mich an dieser Stelle nur ganz kurz auf das Schicksal des in Russland inhaftierten Michail Chodorkowski eingehen; denn ich weiß, dass wir uns keinesfalls nur auf prominente Opfer von Menschenrechtsverletzungen konzentrieren dürfen. Die Vielzahl der Missetaten auf dieser Welt findet im Verborgenen statt. Dies geschieht leider in viel zu vielen Ländern. Opfer sind zu Tausenden meistens namenlose und entrechtete Menschen ohne Fürsprecher und Unterstützung. Wir wissen, dass das leider so ist. Wir müssen das Schicksal dieses Michail Chodorkowski dennoch verfolgen; denn sollte Russland, welches derart mit der westlichen Staatengemeinschaft verbunden ist, in seinem eigenen Land selbst das Menschenrecht eines so prominenten Opfers missachten, dann wissen wir ungefähr, wie es um den Rest der Welt steht, um das einmal ganz banal auszudrücken. Diese Vorfälle zeigen, wie wichtig es ist, dass sich der Westen mit geschlossener Stimme gegen Akte der Willkür und Unmenschlichkeit und für die Einhaltung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Verfahren einsetzt. Diese Aussage ist keine Banalität, sondern sie entspringt der Erkenntnis, dass der Westen massiv an außenpolitischem Einfluss verlieren wird, wenn wir unsere Interessen und Wertvorstellungen nicht klar und geschlossen artikulieren und konsequent vertreten. ({3}) Folgendes - damit komme ich zur zweiten Vorlage, die wir heute zu beraten haben - treibt mich außerdem um: Im neu gegründeten UN-Menschenrechtsrat sind die menschenrechtsfreundlichen Staaten mittlerweile in der Minderheit. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, hat es Anfang der Woche auf einer Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion klar ausgeführt. Im UN-Menschenrechtsrat ist mittlerweile Pakistan als Sprecher der Länder der Islamischen Konferenz zum Hauptakteur geworden. Die 45 Außenminister der Organization of the Islamic Conference, OIC, haben 1990 in Kairo eine Erklärung unterschrieben, die sich letztlich von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, weil die Einhaltung der Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia gestellt wurde. Viele dieser Staaten sind jetzt Wortführer im Menschenrechtsrat. Sie bilden einen starken Block, der mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten nicht viel gemein hat. China vertritt als ebenfalls gewähltes Mitglied die Position, dass Staaten wegen ihrer kulturellen Hintergründe unterschiedliche Ansichten zu Menschenrechten haben könnten. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wie soll es dann zu einer universellen Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte in der Welt kommen? Hier darf die westliche Staatengemeinschaft nicht wegsehen. An dieser Stelle müssen wir in Zukunft auch bereit sein, Konflikte einzugehen, die wir jetzt noch zu vermeiden versuchen. Wir sind es den Opfern von Menschenrechtsverletzungen schuldig. Wir sind es unter anderem Anna Politkowskaja schuldig. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Herta Däubler-Gmelin, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat beraten wir heute wieder einmal eine ganze Schublade voll außerordentlich wichtiger Fragen. Auf der einen Seite befassen wir uns mit dem Siebten Menschenrechtsbericht, über den wir uns schon vor einigen Monaten in erster Lesung unterhalten haben. Auch ich bin der Meinung, dass es ein sehr guter Bericht ist. Ich schließe mich also dem Dank ausdrücklich an. Lieber Herr Kollege von Bismarck, Sie gestatten, dass ich auch noch Herrn Rothen, Leiter des Arbeitsstabs Menschenrechte im Auswärtigen Amt, und Tom Koenigs erwähne. Der Bericht bezieht sich nämlich aufs letzte Jahr; Tom Koenigs ist jetzt UN-Sonderbeauftragter für Menschenrechte in Afghanistan. Das schließt überhaupt nicht aus, dass wir große Erwartungen an den jetzigen Menschenrechtsbeauftragten, Herrn Nooke, haben. Ich hätte mich gefreut, wenn er heute bei der Debatte anwesend wäre. Wir alle stimmen darin überein, dass wir eine Menge zusätzlicher Erwartungen an den nächsten, also den Achten Menschenrechtsbericht haben. Erwartungen richten wir auch an die Bundesregierung, die die Präsidentschaft in der Europäischen Union und in der G 8 im Jahre 2007 innehat. Wir beraten auch über die Menschenrechte in Zentralasien. Darüber werden wir uns noch häufiger unterhalten. Außerdem geht es um den Zustand des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen. Er bekümmert uns außerordentlich. Verehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Geschäftsführer, ich fände es gut, wenn wir einmal eine Menschenrechtsdebatte führen könnten, in der wir auf die Details eingehen und uns nicht mit einem großen Strauß von Fragen beschäftigen. Es tut nämlich der Seriosität der Menschenrechtsarbeit nicht unbedingt gut, wenn man immer Zentralasien, die Vereinten Nationen, den Menschenrechtsrat, die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung - sei sie noch so gut - und andere Fragen in nur einer Stunde abhandeln muss. Das deutet nicht unbedingt darauf hin, dass man den Menschenrechten eine zentrale Stellung einräumt. Wir alle glauben jedoch, dass die Menschrechte eine zentrale Stellung einnehmen sollten. ({0}) Ich darf noch einmal sagen: Es geht hier nicht um Gutmenschen, es geht auch nicht allein um individuelle Ansprüche. Die Fragen der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit und aller anderen Freiheiten, übrigens nicht nur in einem Land, sondern in Ost und West, in Europa, in Russland und in anderen - auch westlichen - Ländern, spielen hierbei eine große Rolle. Es geht auch um die Frage der Rechtsordnung in Deutschland, in Europa, aber auch um die globale Rechtsordnung. Die Menschenrechte sind als Element der globalen Rechtsordnung unverzichtbar. Sie wissen, dass der Hochkommissar für Menschenrechte des Europarates anwesend ist. Ich weiß, dass Kollege Lintner speziell dazu noch Stellung nehmen wird. Es geht hier um einen der Bereiche, über die wir in aller Ausführlichkeit reden müssen. Viele von uns sind Mitglieder in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und haben deswegen ein vitales Interesse daran, dass wir die Verzahnung der nationalen und globalen Ebene nicht nur über die Europäische Union, sondern auch über den Europarat gut hinbekommen, dass die Institutionen des Europarates gesichert werden und dass die Menschenrechtspolitik in Europa nicht durch das Aufsplitten in unterschiedliche Verantwortungsbereiche geschwächt wird. ({1}) Ich möchte noch auf den Menschenrechtsrat eingehen. Der Antrag, den wir heute mit großer Mehrheit beschließen wollen, ist eine Art Bestandsaufnahme. Es ist richtig - das ist schon erwähnt worden -, dass die Erwartungen sehr hoch sind. Die Resolution zur Schaffung eines Menschenrechtsrats, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen hat, ist gut und gibt Anlass zu hohen Erwartungen. Aber nach zwei Verhandlungssitzungen wird deutlich, dass es neben den erfreulichen Punkten - über die in der Regel weniger geredet wird - auch Gefahren gibt. Das ist keine Frage. Diese Gefahren sind schon mehrfach angesprochen worden; ich glaube, das muss nicht wiederholt werden. Wir sind in Genf durch Botschafter Steiner und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tat hervorragend vertreten. Auch hier arbeitet die Menschenrechtsabteilung des Auswärtigen Amtes in vorzüglicher Weise. Aber um deutlicher zu machen, was wir im Bundestag wollen, ist es, glaube ich, nötig, nicht nur die Gefahren aufzuzeigen oder - wie Herr Toncar - mit leicht resignierendem Unterton festzustellen, dass sowieso nichts daraus wird. Das kann man heute noch nicht sagen. Vor allem liegt es nicht in unserem Interesse - weder im deutschen Interesse noch im Interesse des Deutschen Bundestages -, so zu argumentieren. Unser Ansatzpunkt muss vielmehr darin bestehen, was wir bzw. die Bundesrepublik Deutschland tun können, um dem Menschenrechtsrat zum Erfolg zu verhelfen. Diese Frage ist in der Tat noch nicht beantwortet. Ich denke, die Kolleginnen und Kollegen aus allen Parteien, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, verfügen über beträchtliche Möglichkeiten und haben eine große Kreativität eingebracht. Einige Anregungen will ich an dieser Stelle erwähnen. Die Blockbildung ist schon angesprochen worden. Mich wundert das nicht, weil einer der Vorwürfe an die Menschenrechtskommission in der Tat lautete, ihre Zusammensetzung habe sich nach den Blöcken gerichtet; dadurch seien einzelne Regionen der Welt nicht ausreichend berücksichtigt worden. Das ist korrigiert worden. Wenn aber die Blockbildung in das neue System übernommen wird, dann kann sich an der bisherigen Situation nichts ändern. Deshalb müssen wir - das ist die erste Forderung an die Bundesregierung - Verfahren und Strategien finden, damit sich die Blockbildung nicht verfestigt. ({2}) Der Europabeauftragte der Bundesregierung, Herr Gloser, ist anwesend. Ich glaube, dass die Europäische Union vergleichbare Möglichkeiten hat, weil sie in Menschenrechtsfragen immer noch die Koordinierung bis zum letzten Semikolon vorantreiben muss, und eine ganze Menge tun kann. Man wird innerhalb der EU im nächsten halben Jahr in Menschenrechtsfragen nicht nur über Verfahren, sondern auch sehr viel über Grundsatzfragen reden müssen. Denn sonst kann man nicht mit den „like-minded“ Staaten aus anderen Regionen der Welt reden. Aber dabei soll es nicht bleiben. Ich denke, dass die Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, auch die Unterstützung der Bundesregierung und des Bundestages benötigt, die wir ihr sicherlich auch gewähren werden. Wir können das in den verschiedenen Gremien, in denen wir arbeiten, deutlich zum Ausdruck bringen. Zudem hat jeder von uns sehr viele Kontakte in den Parteien, den Parlamentariergruppen und zu den verschiedenen Fachpolitikern und Fachpolitikerinnen. Wenn wir es schaffen, unseren Partnern in Afrika, Lateinamerika und auch in Asien, wo es durchaus Staaten gibt, denen die Menschenrechte in immer stärkerem Maße am Herzen liegen, zu vermitteln, dass sich dies auch im Menschenrechtsrat ausdrücken muss, dann hat der Bundestag einen Beitrag dazu geleistet, die Blockbildung zu überwinden. Das alles meine ich, wenn ich sage, dass es nicht genügt, das eine oder andere zu beklagen, wenn wir im Deutschen Bundestag über Menschenrechtspolitik reden. Wir können nämlich selber das eine oder andere tun. Lassen Sie mich nach diesem Ausflug auf die globale Ebene zum Inland zurückkehren. Ich teile die Auffassung derjenigen - ich weiß, dass sie in allen Fraktionen dieses Hauses vertreten sind -, die sagen: Wir haben auch bei uns die eine oder andere sehr gravierende Menschenrechtsverletzung bzw. Gefährdung von Menschenrechten zu beseitigen. Ich will einen Punkt aufgreifen, den uns die Kirchen, die karitativen Organisationen und insbesondere die Menschenrechtsorganisationen ständig vortragen, denen wir in der Diskussion über den Siebten Menschenrechtsbericht und in der Frage, was im nächsten Menschenrechtsbericht stehen soll, so vieles verdanken. Das ist die Tatsache, dass es eine große Zahl illegal in der Bundesrepublik Deutschland lebender Menschen gibt, die keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung und zum Rechtsschutz haben und deren Kinder, wenn überhaupt, nur einen eingeschränkten Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten haben. Zugang zu diesen Bereichen zu haben, gehört aber zu den grundlegenden Menschenrechten. ({3}) Meine Bitte ist, dass wir uns zusammen mit all denjenigen, die das aufgreifen wollen - das sind fraktionsübergreifend sehr viele -, damit vor der Veröffentlichung des nächsten Menschenrechtsberichts befassen und den einen oder anderen Schritt hin zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage dieser Menschen gehen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Eduard Lintner, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der bloße Umfang des Siebten Menschenrechtsberichts der Bundesregierung - es sind immerhin 208 eng bedruckte Seiten - ein handfester und sehr konkreter Beleg dafür ist, dass die Bundesregierung die Durchsetzung, die Geltung und die Achtung der Menschenrechte als eine echte Querschnittsaufgabe ihrer gesamten Politik begreift. Diese Einschätzung wird durch den Inhalt bestätigt. In dem Bericht wird sehr detailliert und geradezu akribisch Bilanz gezogen und es werden Aktionsfelder für die konkrete Politik aufgezeigt. Lassen Sie mich genau an diesem Punkt ansetzen und aufgrund meiner Erfahrungen als Vorsitzender des Monitoringausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zwei konkrete Anliegen ansprechen, die viel mit der praktischen Wirksamkeit und der Durchsetzung von Menschen- und Grundrechten im Alltag von sage und schreibe 800 Millionen Menschen zu tun haben, die in den Mitgliedstaaten des Europarats leben. Laut Aktionsplan hat sich die Bundesregierung die Stärkung der Zivilgesellschaft in aller Welt vorgenommen, um, wie es heißt, einen unverzichtbaren Beitrag zum Menschenrechtsschutz zu leisten. Genau in diese Richtung gehen meine Anregungen. Die Bundesregierung könnte beispielsweise mehr als bislang tun, um die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg zu unterstützen. Er ist - ich habe es bereits erwähnt - für die 800 Millionen Bürgerinnen und Bürger in den 46 Mitgliedstaaten des Europarats in vielen Fällen der einzige verlässliche Hoffnungsträger im Kampf um die Achtung der Menschenrechte und die letzte Instanz, wenn es darum geht, sich gegen den Staat oder dem Staat zuzurechnende Übergriffe wirksam zu wehren. 80 000 Klagen haben sich dort mittlerweile angesammelt. Damit steht das Gericht, das, wie ich vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen habe, eigentlich Europas Trumpf in der Auseinandersetzung über die Menschenrechte weltweit sein könnte, in Wirklichkeit vor dem Kollaps. In ihrem Bericht findet die Bundesregierung durchaus lobende Worte für die Menschenrechtsarbeit des Europarats und seines Gerichtshofs. Aber im Aktionsplan sucht man vergebens das konkrete Versprechen, sich dafür einzusetzen, die chronische Misere des Gerichts durch eine deutlich bessere sachliche und personelle Ausstattung endlich zu beenden. ({0}) Die Bundesregierung sollte meines Erachtens die sich hier bietende Chance, sich international in Sachen Menschenrechte positiv zu profilieren, entschlossen nutzen, zumal sich - ({1}) - Ist das mein Handy? ({2}) - So kann es gehen. Ich war überzeugt, dass es ausgeschaltet ist. Die Bundesregierung sollte meines Erachtens die sich hier bietende Chance, sich international in Sachen Menschenrechte positiv zu profilieren, entschlossen nutzen, zumal sich der dafür erforderliche zusätzliche finanzielle Aufwand in einem vergleichsweise sehr bescheidenen Rahmen bewegt. ({3}) - Meine Damen und Herren, wieder zurück zum nötigen Ernst. - Es gäbe sogar eine Möglichkeit, die dafür benötigten Mittel anderweitig aufzubringen. Ich meine die von uns allen für völlig überflüssig angesehene Einrichtung einer eigenen Grundrechteagentur der Europäischen Union. ({4}) Was der Europarat, was der Kommissar für Menschenrechte, was das Monitoringverfahren und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seit Jahrzehnten erfolgreich praktizieren und was diesen Institutionen zu Anerkennung und Achtung in aller Welt verholfen hat, droht nun durch eine Art Konkurrenzeinrichtung für den Bereich der EU in den Hintergrund gedrängt zu werden. Dabei sind doch alle EU-Mitgliedsländer auch Mitglieder des Europarats und damit ohnehin den Kontrolleinrichtungen und den Rechtsbehelfen des Europarats unterworfen. Es bedarf also überhaupt keiner zusätzlichen EU-Grundrechteagentur. Die EU will dafür jährlich üppige 21 Millionen Euro ausgeben und die Einrichtung mit sage und schreibe mehr als 60 neuen Planstellen ausstatten. Das alles könnte eingespart werden und nur ein Bruchteil des dafür vorgesehenen Aufwands, abgezweigt für die Arbeit des Gerichts in Straßburg, würde dieses Gericht für alle Zukunft sichern und in seiner Arbeit unterstützen. Ich appelliere daher an die Bundesregierung, sich trotz der bei der EU - ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das ist ja doch eine ganz schöne Melodie, nicht wahr?

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist die Tücke der Technik. Es tut mir Leid. ({0}) Ich appelliere daher an die Bundesregierung, sich trotz der Beschlusslage, die sich mittlerweile bei der EU ergeben hat, nachdrücklich für diese Lösung einzusetzen. Im Übrigen käme sie dabei entsprechenden Wünschen - darauf habe ich hingewiesen - von Mitgliedern aller Fraktionen dieses Hohen Hauses nach, die - das ist ja ein durchaus seltener Fall - bei der Beratung dieses Punktes im zuständigen Ausschuss fast einhellig zum Ausdruck gekommen sind. Ich nehme an, die Bundesregierung hat sich durch den technischen Zwischenfall nicht ablenken lassen. ({1}) Wir hoffen, Herr Staatssekretär, dass Sie diesen Gerichtshof unterstützen; denn wir wissen, dass er ein ganz wirksames Instrument ist, um zumindest für den Bereich des Europarats, dessen Mitglied unter anderem auch Russland ist, für einen wirksamen Schutz der Menschenrechte zu sorgen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Siebten Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen. Das sind die Drucksachen 15/5800 und 16/3004. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3004 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1999 mit dem Titel „7. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbereichen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/3001 mit dem Titel „Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen - Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist einstimmig angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2976 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Kein Weißbuch ohne vorherige Parlamentsdebatte - Drucksache 16/2082 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Birgit Homburger, FDP-Fraktion, das Wort. ({1})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Antrag der FDP-Fraktion zum Weißbuch. Ich bin froh, dass wir aufgrund dieses Antrags die Gelegenheit haben, hier, im Deutschen Bundestag, über dieses Weißbuch überhaupt einmal zu sprechen. ({0}) Bisher hat die Bundesregierung über alle Weißbücher entschieden. Deswegen will sie nächste Woche im Kabinett auch über das neue Weißbuch entscheiden, ohne den Deutschen Bundestag damit vorher befasst zu haben. Dazu sage ich: Ja, in der Vergangenheit war das so. Aber die alten Weißbücher waren im Wesentlichen Fortschreibungen bestehender Weißbücher. Wir haben es jetzt mit einer ganz neuen Situation zu tun. Das Einsatzspektrum der Bundeswehr ist deutlich erweitert. Wir haben mehrfach Veränderungen in der Struktur der Bundeswehr erlebt. Das letzte Weißbuch stammt aus dem Jahr 1994. Das Weißbuch muss auf der Basis einer grundlegend anderen sicherheitspolitischen Lage Antworten auf Fragen geben, die komplexe und weit über den bisherigen Rahmen hinausgehende neue Herausforderungen betreffen. Wenn man diesem Anspruch gerecht werden will, dann brauchen wir eine intensive Debatte. Eine solche Debatte hat der Bundespräsident in seiner Rede über Außen- und Sicherheitspolitik auf der Kommandeurstagung vor gut einem Jahr gefordert. Auch Sie, Herr Minister, haben mehrfach gesagt, dass es dringend notwendig sei, in Parlament und Gesellschaft eine breite Debatte zu führen. ({1}) Nur, wenn Sie das wollen, dann dürfen Sie jetzt nicht einfach einen Kabinettsbeschluss fassen, der dem Deutschen Bundestag vorgelegt wird. Wer eine lebendige Debatte will, wer erreichen will, dass die Gesellschaft sich mit der Bundeswehr beschäftigt, sich hinter die Bundeswehr stellt, der muss eine Diskussion zulassen, und zwar im Vorfeld, der muss Möglichkeiten eröffnen, dass man sich an der Formulierung beteiligen und Gedanken einbringen kann. Das schaffen Sie nicht. ({2}) Seit gestern gerät dieses Vorgehen gänzlich zur Farce. Das Weißbuch wurde zwischenzeitlich öffentlich bekannt; es ist über die Homepage einer Zeitung zugänglich. Herr Minister, ich hätte erwartet, dass Sie wenigstens jetzt endlich in die Offensive gehen und den Entwurf den Mitgliedern des Ausschusses von sich aus zusenden, sodass eine öffentliche Diskussion ermöglicht wird. ({3}) Ich verstehe Ihre Mauschelei nicht. Mit Ihrem wiederholt misslungenen Versuch der Geheimhaltung haben Sie dem Ziel, das Weißbuch insgesamt zu diskutieren und eine unstrittige Grundlage für die Außen- und Sicherheitspolitik der nächsten Jahre zu schaffen, einen Bärendienst erwiesen. ({4}) Dieser Vorgang ist wieder einmal bezeichnend für den Zustand der Koalition. Herr Minister, Sie haben in der letzten Woche angekündigt, es sei ein Konsens über den Bundeswehreinsatz im Inneren erzielt worden. Sofort hat die SPD widersprochen. Die CDU/CSU hat schon vor dem Hintergrund der Fußballweltmeisterschaft versucht, alte ideologische Forderungen, wie den generellen Einsatz der Bundeswehr im Inneren, durchzusetzen. Das ist damals nicht gelungen. Jetzt versucht man das im Zusammenhang mit dem Entwurf des Weißbuchs wieder. Wäre es nach der CDU/CSU gegangen, dann wären terroristische Bedrohungen mit äußerer Bedrohung gleichgesetzt worden, mit der Folge, dass in einem solchen Fall grundsätzlich der Verteidigungsfall ausgerufen würde. Das wäre, erstens, eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Luftsicherheitsgesetz und, zweitens, der Versuch, die Bundeswehr im Inneren durch die Hintertür einzusetzen. Das hat die CDU/CSU versucht. Das ist jetzt offensichtlich verhindert worden; der neue Entwurf sieht Derartiges nicht vor. Sie haben dafür allerdings einen hohen Preis bezahlt: dass die Debatte in der Öffentlichkeit wieder einmal nur als eine Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren wahrgenommen wurde. Damit werden Sie den Herausforderungen, vor denen wir stehen, überhaupt nicht gerecht. ({5}) In der Tat weigern Sie sich erneut, über Kriterien und Grundsätze zu reden, obwohl wir sie brauchen. Die Bundesregierung sagt schlicht, dass sie zukünftig jeden Einzelfall prüfen wird. Natürlich werden wir nicht umhinkommen, jeden Einzelfall eines Auslandseinsatzes zu diskutieren. Aber wir brauchen doch einmal Leitlinien. Auch die NATO-Partner haben Grundsätze wie den, dass solche Einsätze Frieden, Freiheit und Wohlstand dienen und im Einklang mit außenpolitischen Zielen stehen sollen. Es besteht ein UN-Mandat und internationale Unterstützung. Es gibt ein klares Ziel und vor allem auch ein Konzept, wie das Ziel erreicht werden kann, damit man irgendwann einmal feststellen kann, wann die militärischen Einheiten wieder abgezogen werden können, also eine so genannte Exit-Strategie. Außerdem muss der Einsatz finanziell, personell und materiell leistbar sein. Alle diese Grundsätze hätte man doch einmal aufschreiben können. Natürlich kann ich sie nicht einfach nur abhaken, sondern muss sie in jedem Einzelfall beurteilen. Das ist aber etwas, was Leitlinien ausmacht. Es geht um ein nachvollziehbares Korsett für Entscheidungen. Das, was andere NATO-Partner haben, sollten auch wir haben. Das erwarten wir von diesem Weißbuch. ({6}) Ferner muss geklärt werden, welche Bedeutung nationale Interessen spielen sollen. Auch hier gibt es eine Veränderung vom ersten Weißbuchentwurf zum jetzigen Entwurf. Der erste Entwurf war sehr klar an unserer Export- und Rohstoffabhängigkeit sowie daran orientiert, dass wir den Zugang zu kritischen Rohstoffen und Energieträgern sichern müssen. Die Vorstellung einer rohstoff- und energieorientierten Außen- und Sicherheitspolitik wurde durch die simple Tatsachenbeschreibung abgelöst, dass wirtschaftlicher Wohlstand unter anderem auch vom Zugang zu Rohstoffen und freien Transportwegen abhängt. Natürlich ist das richtig. Aber welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Wir müssen diskutieren, welche Konsequenzen wir daraus für zukünftige Auslandseinsätze der Bundeswehr ziehen. Auch hier ist Fehlanzeige, meine Damen und Herren! Ich prophezeie Ihnen, diese Frage wird künftig zu weiterem Streit in der Koalition führen, da Sie die weitere Diskussion auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Eigentlich sollte das Weißbuch doch die Grundlage für künftige Einsatzentscheidungen schaffen, ohne dass es Streit darüber gibt. Hieran scheitern Sie. Eine letzte Bemerkung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das soll sie meines Erachtens auch bleiben. Deswegen kann ich Sie, Herr Minister, nur sehr herzlich bitten und an Sie appellieren, einen Halbsatz aus diesem Dokument zu streichen. Sie schreiben: Die Entscheidung über Bundeswehreinsätze im internationalen Rahmen liegt in erster Linie im Kompetenz- und Verantwortungsbereich der Bundesregierung. Erst dann sagen Sie, dass der Bundestag zustimmen muss. Herr Minister, Sie hätten sich diesen Halbsatz sparen können. Das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Vor dem Hintergrund der Diskussionen der vergangenen Wochen, in denen wir debattiert haben, ob das Parlament ausreichend über die Einsätze informiert ist, macht mich dieser Satz nachdenklich. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie sollten sich diese Missachtung des Deutschen Bundestages nicht gefallen lassen und dafür sorgen, dass, bevor eine Beschlussfassung im Kabinett erfolgt, eine intensive Auseinandersetzung hier im Deutschen Bundestag stattfindet. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans Raidel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir führen hier eine Art Geisterdebatte, nämlich eine Diskussion über etwas, das im Raum steht, aber noch nicht existent ist. Dieses Weißbuch ist doch überhaupt noch nicht auf dem Markt, ({0}) zumindest nicht offiziell. ({1}) Die Bundesregierung muss dieses Dokument erst noch verabschieden. Beachten Sie doch bitte die Spielregeln, verehrte Frau Kollegin! Dieses Parlament hat eine Geschäftsordnung, und auch die Bundesregierung hat eine Geschäftsordnung. Wir als Parlament haben für unsere Arbeit Spielregeln verabschiedet, in denen genau steht, wer wofür zuständig ist. Wenn wir diese Spielregeln so nicht mehr einhalten wollen, bleibt es uns doch unbenommen, sie zu ändern. Solange die Spielregeln aber so gelten, ist klar, dass die Bundesregierung dieses Weißbuch in eigener Verantwortung verabschiedet, ihre Meinung darlegt ({2}) und wir dann darüber diskutieren können. Als Parlament können wir unsere eigenen Vorschläge jederzeit einbringen; das ist uns unbenommen. ({3}) Wir können jederzeit - das ist das Wünschenswerte - in einen Wettbewerb guter Ideen eintreten und festlegen, wie wir das haben möchten. Das Parlament ist in seinen Rechten - anders als Sie versuchten auszuführen - überhaupt nicht beschnitten. ({4}) Zu den Inhalten. In unserer Koalitionsvereinbarung haben wir gemeinsam festgelegt, wie wir die Richtung der künftigen deutschen Sicherheitspolitik darlegen wollen. Ein Instrument dafür war das Weißbuch. Sie, Herr Minister, haben diese Idee sehr schnell aufgegriffen und dieses Weißbuch erarbeitet. Auch wir wünschen uns eine breite Debatte in der Öffentlichkeit über den Inhalt der künftigen deutschen Sicherheitspolitik. Auch wir sind der Auffassung, wir sollten uns intensiver - das gilt für den Ausschuss genauso wie für das Parlament - mit den Fragen der Sicherheit beschäftigen: mit Ausrüstung, mit Ausbildung und mit dem Umfang dieser Armee. Wir sollten begleiten, was in unseren Bündnissen passiert, also in der NATO, in der OSZE, in Europa und woanders. Wir müssen prüfen, ob wir dieser Aufgabe immer gerecht werden. Spätestens, wenn es um die Finanzen geht, doch wohl eher nicht! Dann aber gestalten Sie hier Ihren Redebeitrag mit den Worten: Man sollte! Man könnte! Man müsste! Man dürfte! Man dürfte nicht! Ja, sagen Sie doch ganz konkret, wie Sie es haben wollen! Dann kann sich die Regierung damit auseinander setzen und wir uns damit befassen. Möglicherweise würde dann am Schluss eine gemeinsame Richtung vorgegeben. Sie werden dem Anspruch, den Sie versucht haben darzustellen, in keiner Weise gerecht. ({5}) Das ist ein großes Problem. Ich will gar nicht darauf hinweisen, dass die Weißbücher in der Vergangenheit genau nach diesen Spielregeln und damit nicht im Parlament verabschiedet worden sind. Wir sind uns allerdings auch darüber einig, dass es ungut ist, wenn das Weißbuch vorab in der Presse und sonst wo zu lesen ist und wir hier nicht darüber gesprochen haben. Insofern habe ich die Bitte, Herr Minister, dass Sie da auskehren, damit diese Dinge so nicht mehr vorkommen. ({6}) Natürlich haben wir alle Wünsche bezüglich des Inhalts des Weißbuchs. Es soll objektiv und realistisch die Sicherheitslage in unserer Republik feststellen, nichts weglassen und nichts verschweigen, sodass die Bevölkerung endlich wieder das Gefühl für das Sicherheitsthema insgesamt bekommt. Das scheint mir in der Vergangenheit ein bisschen vernachlässigt worden zu sein, denn sonst würde die Bevölkerung ganz anders über die Sicherheitsfragen diskutieren. Natürlich wissen wir, dass letztlich alles auch am Geld hängt. Aber wir dürfen doch nicht so tun, als wenn es für die Sicherheit kein Geld gäbe. Ich sage Ihnen: Die Bevölkerung hat den Anspruch auf diesen Schutzschild nach innen und nach außen. Die Bundeswehr hat den Anspruch, dass wir bei Ausrüstung und Ausbildung alles tun, damit sie immer das Notwendige, also das, was auf dem Markt verfügbar ist, bekommt. Wenn wir das der Bundeswehr nicht geben und uns hinter mangelndem Geld verstecken, wenn wir die Leute in einen Einsatz schicken, bei dem sie zu Schaden oder sogar zu Tode kommen können, nur weil wir die notwendige Ausrüstung nicht zur Verfügung gestellt haben, dann handeln dieses Parlament, der Verteidigungsausschuss und der Haushaltsausschuss, dann handeln also wir insgesamt unmoralisch. Das dürfen wir nicht tun. Aber darüber redet keiner! Wir streiten uns über die Verfahrensfragen, lassen dabei aber die wirklich wichtigen Themen außer Acht. ({7}) Wo waren Sie denn? Wo haben Sie die notwendigen Anträge durchgesetzt, ({8}) als es darum ging, bei Entwicklung, bei Forschung, bei neuer Bestimmung der Standorte für die Rüstungsindustrie entsprechend zu handeln? ({9}) Was haben Sie gemacht, als es konkret um die finanzielle Absicherung ging? ({10}) Was Sie möchten, ist etwas ganz anderes. Sie führen sich hier als Sicherheitspartei auf, die die deutschen Sicherheitsinteressen vertritt. Dieses Thema ist längst von anderen, von CDU/CSU und SPD, besetzt. ({11}) Jeder landauf, landab weiß das und akzeptiert das. Sie können sich noch so sehr aufs Podest stellen wollen: Das nimmt Ihnen als kleiner 9-Prozent-Partei in Wirklichkeit niemand ab. Auch ich könnte mir etwas Neues vorstellen: Wenn das Weißbuch herauskommt, könnten wir einen Einstieg wagen in der Weise, dass wir einmal im Jahr eine Sicherheitsdebatte führen, in der wirklich alle Fragen für diese Nation auf den Tisch gelegt werden, uns einmal mindestens einen ganzen Tag mit diesen Themen befassen - so ähnlich haben wir damals die Berlindebatte geführt -, daraus entsprechende Beschlüsse ableiten und so dieses Thema in die Bevölkerung hineintragen, damit Interesse geweckt wird, ein breiter Konsens entsteht und wir der Bevölkerung aus dem Parlament heraus beweisen können, wie ernst es uns mit der Sicherheit in diesem Land ist und wie wir zu unserer Bundeswehr stehen. In der praktischen Ausformung bedeutete das, dass wir vielleicht auch einmal zu anderen Formen kommen, zum Beispiel dazu, ein Bundeswehraufgabengesetz zu verabschieden, in dem alle Einzelfragen seriös und gesetzestechnisch richtig behandelt werden. Von daher wäre dann auch das notwendige Rüstzeug bereitgestellt. Diese Debatte ist möglicherweise ein Einstieg; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Die Herausgabe des Weißbuchs ist mit Sicherheit eine gute Gelegenheit, auch zu neuem Denken zu kommen. Wir alle spüren, dass wir mit den alten Denkstrukturen - da treffen wir uns wieder - nicht mehr weiterkommen und dass wir unserem eigentlichen Auftrag, der Bevölkerung das Gefühl von Sicherheit zu geben und damit auch die Legitimation für die Finanzierung unserer Bundeswehr zu erhalten, nicht mehr gerecht werden. Vielleicht ist die Debatte über dieses Weißbuch ein Einstieg in ein neues Denken. Dann hätte sich das tatsächlich gelohnt. Wenn das nicht gelingt, dann sind es nur Worthülsen und Sprechblasen. Die sollten wir uns im Interesse unserer Bundeswehr eigentlich sparen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Paul Schäfer, Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten einen FDP-Antrag, der unseres Erachtens einige vernünftige Grundgedanken enthält. Ein Weißbuch, das die Eckpfeiler unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik für eine längere Zeit festlegen soll, ist zu wichtig, als dass es von oben herab verkündet werden dürfte. Auch unsere Auffassung ist, dass es darüber eine breite Debatte in diesem Haus, aber auch in der Öffentlichkeit geben sollte. So weit, so gut; das sagen alle. Es kann aber nicht nur darum gehen, dass wir jetzt diskutieren nach dem Motto, lieber Kollege Raidel: Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. - Das kann es nicht sein. ({0}) - Es wird aber leider so kommen, fürchte ich. Die Regierung wird verkünden, wir dürfen nächste Woche diskutieren und nach einiger Zeit steht das Werk im Regal. Es kommt doch gerade darauf an, eine Rückkopplung zu erreichen, eine Rückkopplung zwischen Regierung, Parlament, gesellschaftlichen Akteuren und kritischer Öffentlichkeit. Darum geht es. ({1}) Deshalb, denke ich, müssen wir auch über die Regeln reden, lieber Kollege Raidel; völlig richtig. Wir müssen über die Regeln reden und sie ändern. Das heißt, dass es einen Entwurf geben sollte, der durch die kritische Debatte noch verändert werden kann. Ich weiß, dem steht die Auffassung entgegen, die sich in konservativen Kreisen hartnäckig hält: Außen- und Sicherheitspolitik ist eine Sache der Exekutive. ({2}) Aber das ist Vergangenheit. Das ist 19. Jahrhundert. Wir sind im 21. Jahrhundert. Es gibt heute Weltsozialforen, bei denen hunderttausend Menschen zusammenkommen, die über internationale Politik reden. Das ist die Realität von heute. ({3}) Wir wollen eine solche Demokratisierung von Außenpolitik, was heißt: Die Menschen sollen mitreden, mitentscheiden können. Das reicht von öffentlichen Debatten bis hin zur Möglichkeit von Volksabstimmungen über außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen. Warum nicht? In der Schweiz wird darüber entschieden, ob die Wehrpflicht abgeschafft wird, welche Auslandseinsätze man macht, ob das Land der EU beitritt. Warum sollte die Bevölkerung nicht auch hierzulande über Fragen wie NATO-Mitgliedschaft oder Atomwaffen auf deutschem Boden entscheiden? Ich finde, darüber muss hier gesprochen werden. Wir sind für eine solche Demokratisierung der Außenpolitik. ({4}) Der FDP-Antrag enthält eine weitere vernünftige Grundüberlegung. Es heißt dort, wir müssten vor allem diplomatische, wirtschaftliche, ökologische, soziale und entwicklungspolitische Ansätze beachten und zum Ausdruck bringen. Es stellt sich aber die Frage, ob es dann ausreicht, die Federführung beim Ministerium der Verteidigung zu belassen und die Herausgabe dem Kanzleramt zu übertragen. Ich glaube, dass die Federführung beim Ministerium der Verteidigung es mit sich bringt, dass sicherheitspolitische Herausforderungen primär militärisch beantwortet werden, und genau das führt in die Sackgasse. Deshalb muss man sich sehr wohl Gedanken machen, wie man künftig einen ressortübergreiPaul Schäfer ({5}) fenden Ansatz - über den alle sprechen, der dann aber auch institutionell umgesetzt werden muss - finden kann, der die Chance erhöht, dass zivile Konzepte und Kapazitäten der Sicherheitsvorsorge und Konfliktprävention ein viel entscheidenderes Gewicht bekommen. Der sicherlich ausbaufähige Aktionsplan „Zivile Konfliktprävention“ sollte den Handlungsrahmen zumindest - ich drücke mich vorsichtig aus - mitprägen und nicht Anhängsel von militärisch definierten Krisenlösungen sein. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Weißbuchentwurf sind zentrale Fragen angesprochen, die einer grundlegenden Erörterung bedürfen - darüber werden wir ja nächste Woche sprechen -: Soll die Bundeswehr auch im Inneren neue Aufgaben wahrnehmen oder bleibt es dabei, dass für die innere Sicherheit die Polizei zuständig ist? Sollen den Streitkräften neue Aufgaben bei der Sicherung unserer Rohstoff- und Energieversorgung zufallen oder ist das eine Angelegenheit der internationalen Wirtschafts- und Handelspolitik? Soll die deutsche Teilhabe an Atomwaffen fortgesetzt oder - besser - unwiderruflich beendet werden? Über diese Fragen - da hat Kollegin Homburger völlig Recht - muss neu und gründlich nachgedacht werden. Deshalb muss man beim Weißbuch ein neues Verfahren finden. Sonst hätte man sich die Mühe sparen können. Wir wollen jedenfalls eine sicherheitspolitische Debatte, die neue Erkenntnisse und neue Schlussfolgerungen bringt und aus der Sackgasse militärischer Krisenlösungsversuche führt. Danke. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Bartels, SPD-Fraktion.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen von den Liberalen, wir stehen ja nicht am Anfang der Debatte, sondern wir haben bereits eine Praxis, hier im Parlament mit der sich verändernden Welt umzugehen. Ich stelle fest, dass es einen relativ breiten Konsens hier in diesem Hause gibt, mindestens getragen von vier Fraktionen, zu denen Ihre Fraktion gehört. Wir sind uns darin einig, dass sich in der sich verändernden Welt neue Gefahren entwickeln. Wir sind uns darin einig, dass wir einen umfassenden Sicherheitsbegriff vertreten wollen. Wir behaupten nicht, Sicherheit sei allein Verteidigung oder Militär. Selbst in den Einsatzgebieten, wo das Militär eine große Rolle spielt, gibt es inzwischen eine vernetzte Sicherheitsarchitektur. Ich erinnere an die PRTs in Afghanistan. Aber auch all das, was wir tun, bevor es überhaupt zu bewaffneten Konflikten kommt, ist inzwischen Bestandteil einer umfassend verstandenen Sicherheitspolitik. Ich bin froh, dass wir das hier im Hause breit tragen. Wir bekennen uns gemeinsam zu einem aktiven Multilateralismus. Wir wollen, dass viele daran teilnehmen, unsere Welt sicherer zu machen. Wir haben eine europäische Sicherheitsstrategie, die so genannte Solana-Strategie von 2003, die ein bisschen etwas anderes formuliert als die amerikanische Sicherheitsstrategie, diese aber auch ergänzt und in einer Welt, die Gestaltung braucht, für ein selbstbewusstes Europa wirbt. Deutschland ist ein Teil davon. Was in der Solana-Strategie formuliert ist, wird hier breit getragen und ist Bestandteil unseres sicherheitspolitischen Selbstverständnisses. Wir wollen die kollektiven Sicherheitssysteme stärken: die OSZE, die NATO, die UNO. Es ist eben nicht mehr nur die NATO; das hat sich verändert. Ich glaube, auch das wird in diesem Hause breit getragen. Wir stehen also nicht am Anfang der Debatte über eine neue Sicherheitspolitik und das Weißbuch wird sie auch nicht abschließen. Das Weißbuch ist ein Meilenstein, eine Etappe in diesem Diskussionsprozess, der aus gegebenem Anlass nun schon einige Jahre läuft. Wir tragen gemeinsam die Verantwortung für Auslandseinsätze. Ob es sich um eine kleine oder um eine große Koalition handelt: Wir bemühen uns, dass der Rückhalt für unsere Soldaten im Einsatz in diesem Hause so breit wie möglich ist. Das ist inzwischen eine Tradition geworden. Wenn ich das Wirken der Verteidigungspolitiker betrachte, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir ein gemeinsames Interesse an einer deutschen wehrtechnischen Industrie in einem selbstbewussten Europa haben. Dieses Ziel hat die vergangene Regierung verfolgt. Diese Regierung setzt die dazugehörige Politik fort. Dabei wird sie von diesem Parlament unterstützt. Unser Weg in eine Europäisierung der Sicherheitspolitik wird in diesem Haus ebenso breit unterstützt. Es geht nicht mehr darum, nur national zu denken und sich zu überlegen, was wir für unsere eigene Sicherheit tun können. Es geht vielmehr darum, was wir für ein zusammenwachsendes Europa tun können, wie wir Kosten sparen und Verantwortung teilen können. Das sind die Erfahrungen aus den vielen Jahren, die seit dem Erscheinen des letzten Weißbuchs vergangen sind. Es gibt auch ein paar Unterschiede in diesem Haus. Gelegentlich wird die Wehrpflicht thematisiert. Die Mehrheit ist relativ groß, dass wir sie beibehalten. Aber die Unterschiede in dieser Frage kann man anhand einer Festlegung im Weißbuch diskutieren. Es gibt auch Unterschiede in Fragen der nuklearen Teilhabe. Auch darüber muss man weiter diskutieren. Außerdem gibt es Unterschiede in der Auffassung, an welchen Begriffen man sich sozusagen entlangarbeiten will. Der Begriff vom nationalen Interesse hört sich für mich so an, als handele es sich um einen Begriff aus dem 19. Jahrhundert. Er suggeriert, unser Interesse sei gegen die Interessen Frankreichs und Großbritanniens gerichtet. Diese Art von konkurrierenden Interessen gibt es - Gott sei Dank! - nicht mehr. Wir haben gemeinsame Interessen und teilen die gemeinsamen Werte mit unseren Freunden und Partnern. Wir versuchen beispielsweise nicht, auf Kosten anderer Rohstoffe zu sichern. Manchmal wird mit großem Pathos behauptet, man solle einmal ehrlich sein und zugeben, dass es doch um Rohstoffe gehe. Nein, es geht nicht um Rohstoffe: nicht auf dem Balkan, nicht in Afghanistan und auch nicht dann, wenn wir im Bundestag über den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Bündnissen, in denen wir Mitglied sind, entscheiden. Rohstoffe sind für alle Länder eine lebenswichtige Ressource. Wir wollen eine offene Welt und Zugang von möglichst vielen zu den Wohlstandsquellen. Darin stehen wir nicht in Konkurrenz zu anderen. Mir ist also der Begriff vom nationalen Interesse manchmal zu anachronistisch am 19. Jahrhundert ausgerichtet. Ich würde ihn lieber durch den Begriff „politische Maximen“ ersetzen. Deutschlands sicherheitspolitisches Handeln unterliegt politischen Maximen. In diesem Zusammenhang kann man auf das verweisen, was gemeinsam getragen wird: der Multilateralismus, der umfassende Sicherheitsbegriff und unsere Vorstellungen von der Weiterentwicklung kollektiver Sicherheitssysteme. Zum Bereich der politischen Maximen gehört die Schaffung einer offenen Welt, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dabei wollen wir Demokratie nicht exportieren, sondern wir wollen uns gemäß unseren eigenen Maßstäben im Ausland verhalten. Wir erwarten übrigens von unseren Verbündeten, dass sie dies genauso tun. Es gibt nicht nur politische Maximen deutschen Handelns mit Blick auf eine zusammenwachsende Welt. Es gibt auch eine besondere deutsche Verantwortung. Das haben wir in der Debatte über den Libanon-Einsatz gespürt. Es war nicht leicht, den deutschen Beitrag so zu formulieren, dass er der deutschen Verantwortung in allen Richtungen gerecht wurde. Es ist uns gut gelungen. Der Grund für unser Handeln war nicht das deutsche Interesse an Rohstoffen im Nahen Osten, sondern die besondere deutsche Verantwortung, die wir übernommen haben. Ich denke, das wird sich auch im Weißbuch niederschlagen. Darin wird es nicht den anachronistischen Interessenbegriff des 19. Jahrhunderts geben. Noch ein Wort zur strittigen Frage des Bundeswehreinsatzes im Innern. In der Frage der Bundeswehr als Ersatzpolizei liegen wir nicht weit auseinander. Niemand der verantwortlichen Sicherheitspolitiker will, dass die Bundeswehr an den Stellen Polizeiaufgaben übernimmt, an denen die Polizei zu wenig Personal hat. Das kann nicht die Richtung unserer gemeinsamen Politik sein. Es geht nicht um die Absicherung von Veranstaltungen, bei denen der Veranstalter selbst nicht genug Personal für Ordner stellen kann, bei denen die Landespolizei nicht ausreicht oder bei denen die hinzugezogene Bundespolizei nicht ausreicht. Wenn dann die Bundeswehr gebraucht würde, würde ich sagen: Sagen wir lieber das Fernsehgucken im Freien ab. Das kann man auch tun. Darum geht es also nicht. Wenn wir darüber diskutieren, dass das Grundgesetz an der einen oder anderen Stelle eine Veränderung, eine Präzisierung, eine Verankerung neuer gesetzlicher Regelungen braucht, dann geht es um die Luft- und die Seesicherheit und um Sicherheit für die politisch Verantwortlichen, Entscheidungen auf verfassungsrechtlich vernünftiger Grundlage zu treffen. Da sind wir für Änderungen offen. Ich glaube, diese Debatte fängt nicht erst jetzt an und wird mit dem Weißbuch auch nicht abgeschlossen sein. Sie wird aber im Weißbuch einen vernünftigen Niederschlag finden. Was an Land nötig und möglich ist, das ist mit Art. 35 Grundgesetz, Amtshilfe, und natürlich mit der Reserveregel, die das Grundgesetz inzwischen seit fast 40 Jahren hat, geregelt. Damals war sie stark umkämpft, es wurde um sie hart gerungen, aber jetzt steht sie seit Jahrzehnten im Grundgesetz: die Notstandsverfassung. Sie gilt und kann im äußersten Notfall greifen. Gott sei Dank ist das bisher nie der Fall gewesen. Wir hoffen, dass das so bleibt. Aber diesen letzten Rettungsanker, den haben wir jetzt schon im Grundgesetz stehen. Ich glaube, wir brauchen nicht künstlich einen Streit zu suchen, da der Konsens in diesem Haus und in der großen Koalition relativ groß ist. Vermutlich wird durch das Weißbuch auch deutlich werden, wie groß er ist. Die Debatte dazu führen wir nächste Woche Donnerstag, aber heute haben wir darüber geredet, dass es gut ist, diese Debatte über das Weißbuch anzufangen und sie über die Sicherheitspolitik fortzusetzen, die Deutschland in einer zusammenwachsenden Welt gestalten will. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Außen- und Sicherheitspolitik gilt traditionell als Domäne der Exekutive. Hans Raidel hat darauf hingewiesen. Zugleich aber gibt es in der Bundesrepublik eine gewachsene rechtsstaatliche Tradition der Parlamentsarmee. Diese Tradition ist so zeitgemäß wie nichts anderes. ({0}) Denn heutzutage ist der Einsatz bewaffneter Streitkräfte so sehr auf die Akzeptanz der Gesellschaft angewiesen wie wohl nie zuvor. Deshalb ist es ausdrücklich eine Fortsetzung alten Denkens, wenn ein konzeptioneller Meilenstein deutscher Sicherheitspolitik abgeschottet in den Ministerien entwickelt und dem Parlament und der Öffentlichkeit dann sozusagen zum Nachvollzug vorgesetzt wird. ({1}) Eine echte, breite sicherheitspolitische Debatte, die eben auch immer etwas Offenheit benötigt, wird damit behindert. Herr Minister, dass Sie das so abgewickelt haben, ist wohl - schaut man sich das Vorgehen der VorgängerWinfried Nachtwei minister an - nicht unüblich, aber trotzdem kein Beweis von Stärke. ({2}) Dass die Koalitionsfraktionen das so mitmachen, obwohl zwischendurch alle möglichen anderen Zeichen da waren, ist ein Beispiel - ich bedauere das sehr - von parlamentarischer Selbstentmündigung. ({3}) Zweck eines Weißbuches kann nicht nur die innerkoalitionäre Verständigung sein und sein Adressat ist auch längst nicht nur die sicherheitspolitische Community. Gerade heute muss ein Weißbuch vor allem Antworten auf brennende Fragen geben, die in der Bevölkerung, sehr stark unter den Soldaten und auch in der Politik gestellt werden: Was haben denn die Auslandseinsätze und Krisenengagements bisher überhaupt gebracht? Warum dauern die meisten so endlos? Warum ist der Übergang zu selbsttragender Sicherheit und Friedensprozessen so enorm schwierig? Gegenüber welchen Risiken und Bedrohungen können Streitkräfte überhaupt etwas ausrichten? Wofür werden sie angesichts der jetzigen und künftigen Risiken und Bedrohungen vor allem gebraucht und wofür eigentlich gar nicht? Da gibt es den geflügelten Begriff - das ist inzwischen ein Baukastensatz -, Streitkräfte heute zur Krisenverhütung und Konfliktbewältigung, einschließlich Bekämpfung des Terrorismus, einzusetzen. - Das ist auf der ganz allgemeinen Ebene so richtig wie aussagelos. Wie wird schließlich der Anspruch auf umfassende und Gewalt vorbeugende Sicherheitspolitik überhaupt in die Tat umgesetzt? Wie ist das Verhältnis zwischen zivilen und militärischen Mitteln der Sicherheitspolitik? Wie wird der offenkundige Rückstand der zivilen Fähigkeiten aufgeholt? Wie kann - daran sollten wir bei der bevorstehenden Debatte vor allem denken - dem wachsenden sicherheitspolitischen Desinteresse in der Bevölkerung entgegengewirkt werden? Ich befürchte, dass das demnächst vorliegende Weißbuch auf diese Fragen nur unzureichende Antworten gibt. Umso mehr stehen wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Pflicht, diese Fragen bei der bevorstehenden Debatte über das Weißbuch zu stellen und verständlich zu beantworten. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2082 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes - Drucksache 16/1936 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 16/3007 - Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kersten Naumann, Dr. Martina Bunge, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern - Drucksachen 16/2746, 16/3007 Berichterstattung: Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3007 den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2746 mit dem Titel „Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern“ mit einbezogen. Über diesen Antrag soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Franz Thönnes das Wort. ({2})

Franz Thönnes (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002818

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Das nun zu debattierende so genannte Betriebsrentenänderungsgesetz zur Umstellung der Finanzierung des Pensions-Sicherungs-Vereins ist im Laufe der Beratung im Ausschuss des Bundestages um einige sehr sinnvolle und im Kern unstrittige Punkte ergänzt worden, weil wir wollen, dass diese wichtigen sozialpolitischen Regelungen noch in diesem Jahr in Kraft treten. ({0}) Der Kern des Gesetzes ist die Umstellung der Finanzierung des Pensions-Sicherungs-Vereins von der teilweisen Umlagefinanzierung auf die Kapitalfinanzierung. Diese Umstellung stößt bei allen Beteiligten auf ungeteilte Zustimmung; denn dadurch wird die Insolvenzsicherung zukunftsfester. Das ist gut für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, weil ihre Rentenansprüche dadurch besser abgesichert sind. Das ist auch für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gut; denn sie können auf ein verlässliches Altersversorgungssystem hinweisen. Im Kern ist es auch für die Alterssicherung gut; denn dadurch wird die Gesamtversorgung aus gesetzlicher Rente sowie privater und betrieblicher Altersvorsorge gestärkt. ({1}) Von den weiteren Vorhaben, die im Gesetz enthalten sind, spreche ich aus Zeitgründen nur einige an: In der gesetzlichen Rentenversicherung werden die Zusatzjobs nach dem SGB II bei der Berechnung der Höhe der Rentenanpassungen und der Bestimmung der Sozialversicherungsrechengrößen künftig herausgenommen. Eine Verzerrung wird somit verhindert. Dadurch ergibt sich eine klarere Grundlage für die Ermittlung der Beiträge und der Leistungen in den Sicherungssystemen. Mit der Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus der ehemaligen DDR bei den Arbeitgebern in den neuen Bundesländern bis zum 31. Dezember 2011 sichern wir den Zugriff auf die Lohndaten. Das gibt den Menschen ausreichend Möglichkeit zur Klärung ihrer persönlichen Rentenkonten. ({2}) Durch die Änderung beim Insolvenzgeld stellen wir sicher, dass Arbeitnehmer, die mit ihrem Arbeitgeber eine Vereinbarung über Entgeltumwandlung getroffen haben, im Insolvenzfall nicht benachteiligt werden. Das umgewandelte Entgelt fließt künftig in die Berechnung des Insolvenzgeldes ein. Auch das bringt mehr Sicherheit. Ebenso sinnvoll ist, die Regelungen zum Vermittlungsgutschein, mit dem arbeitslose Menschen einen privaten Arbeitsvermittler beauftragen können, um ein Jahr zu verlängern; denn erst nach der für 2007 vorgesehenen Evaluation werden wir wissen, wie nutzbringend der Beitrag der privaten Vermittler sein kann. Mit der Einbeziehung des Dachdeckerhandwerks in das neue Leistungssystem Saisonkurzarbeitergeld können nun auch die Beschäftigten dieses Wirtschaftszweiges die verbesserten Förderbedingungen ab Dezember 2006 nutzen. Das heißt Verringerung des Risikos Arbeitslosigkeit, das heißt Einkommenssicherung und dass die Beschäftigten mit ihren Kompetenzen dem Betrieb erhalten bleiben. Wir nehmen eine ganz wichtige Klarstellung im Behindertenrecht vor, die helfen wird, Diskriminierung zu vermeiden. Man wundert sich ja manchmal, welche Alltagspossen die Realität bietet. Zum Schutz der Menschen gibt es das Merkzeichen „B“ im Schwerbehindertenausweis, mit dem die Notwendigkeit ständiger Begleitung unterstrichen wird. Damit ist das Recht gemeint, eine ständige Begleitung zu haben, wenn man zum Beispiel ins Theater oder ins Schwimmbad geht oder ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen möchte. Man wundert sich, wenn dann auf einmal derjenige hinterm Schalter sagt, dass man, weil man keine Begleitung hat, nicht ins Schwimmbad oder nicht ins Theater dürfe oder nicht mit dem öffentlichen Verkehrsmittel fahren könne. Die Regelung wird dabei sozusagen umgedreht. Das darf in Zukunft nicht mehr passieren. Diese Diskriminierung wollen wir verhindern. Deswegen stellen wir eindeutig klar: Der Schwerbehinderte ist berechtigt, eine Begleitung mitzunehmen, aber nicht dazu verpflichtet. Das gibt mehr Sicherheit im Alltag und mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. ({3}) Schließlich noch eine Anmerkung zum Sozialgesetzbuch II. Wir stellen klar, dass die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende bereits in der Zeit bis zur Entscheidung der gemeinsamen Einigungsstelle über die Erwerbsfähigkeit bzw. die Hilfebedürftigkeit Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erbringen haben. Das verhindert ungeklärte Situationen für die Antragsteller und bedeutet Sicherheit und Verlässlichkeit. Alles zusammengefasst bedeutet das im Kern mehr Klarheit, mehr Sicherheit und mehr Verlässlichkeit. Diskriminierungen sollen verhindert werden. Ich glaube, dass mit dem Betriebsrentenänderungsgesetz und den weiteren sozialpolitischen Entscheidungen, die damit verbunden sind, die Möglichkeit besteht, diese Regelungen noch bis Ende des Jahres in Kraft zu setzen. Deswegen bitte ich um Zustimmung in diesem Haus. Danke. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anhörung und die Beratungen im Ausschuss haben gezeigt, dass die geplante Umstellung auf Kapitaldeckung beim Pensions-Sicherungs-Verein allgemeine Zustimmung findet. Dieser Punkt wird von der FDP-Bundestagsfraktion mitgetragen. Allerdings - Sie, Herr Staatssekretär, haben es gesagt - sind im Laufe des Verfahrens noch einige Punkte hinzugekommen, die mit dem ursprünglichen Inhalt des Entwurfes nicht zusammenhängen und von denen einzelne - ich möchte drei nennen aus unserer Sicht nicht unproblematisch sind. Aber eins nach dem anderen. Zunächst noch ein Wort zur Umstellung der Finanzierungsgrundlage. Wir denken, dass die Umstellung auf Kapitaldeckung sinnvoll ist und dass sie hoffentlich noch zur rechten Zeit erfolgt. Denn infolge der Zunahme der externen Durchführungswege in der betrieblichen Altersvorsorge ist vorauszusehen, dass in Zukunft beim Pensions-Sicherungs-Verein die Beitragsbemessungsgrundlage zurückgeht. Dann würde der Pensions-Sicherungs-Verein zunehmend mit der Ausfinanzierung von Anwartschaften aus InsolvenDr. Heinrich L. Kolb zen vergangener Jahre belastet. Es käme zu Beitragssatzsteigerungen. Dem wird durch die Umstellung vorgebeugt. Ich darf noch anmerken, Herr Staatssekretär, dass ich es schade finde, dass die Koalition das Instrument der Kapitaldeckung nur beschränkt auf diesen Fall, Pensions-Sicherungs-Verein, zum Einsatz bringt. Die Kapitaldeckung wäre auch ein geeignetes Instrument, um drohenden Beitragssteigerungen in der Krankenversicherung entgegenzuwirken. Aber man muss leider feststellen: Die Koalition hat - das kann man bei den Verhandlungen zur Reform des Gesundheitswesens anschaulich verfolgen - leider nicht die Kraft, ein als richtig erkanntes Prinzip auf die Finanzierung des Gesundheitsbereiches zu übertragen. ({0}) Die Herausnahme der so genannten 1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpassung ist zwar richtig, aber noch besser wäre es, wenn die Berechnung der Rentenanpassung endlich - wie bereits von der Rürup-Kommission gefordert und im ursprünglichen Referentenentwurf zum Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehen - auf die beitragspflichtigen Löhne und Gehälter gestützt würde. In der Anhörung wurden durch die Rentenversicherung die Bedenken vorgebracht, bis zur Mitte des Jahres seien die beitragspflichtigen Löhne und Gehälter des Vorjahres nicht zu ermitteln. Ich muss sagen, dass ich nicht bereit bin, dieses Argument zu akzeptieren. Die Arbeitgeber melden nach der neuen Fälligkeitsregelung am Ende eines jeden Monats ihre beitragspflichtigen Entgelte an die Sozialversicherungsträger, genauer gesagt, an die Krankenkassen. Dass diese Daten dann auf ihrem weiteren Weg durch die Institutionen irgendwo versickern, jedenfalls nicht zeitnah zur Verfügung stehen, darf meines Erachtens nicht sein. ({1}) Aus meiner Sicht hat die Deutsche Rentenversicherung hier ein organisatorisches Problem, das durchaus gelöst werden kann und auch gelöst werden muss. ({2}) - Ja, beispielsweise durch einfache Addition. Eine Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung der Lohnunterlagen von ehemals in der DDR Beschäftigten ist nach unserer Auffassung nicht nötig. In den 16 Jahren seit der Wiedervereinigung wurden die Betroffenen mehrfach aufgefordert, ihre Rentenkonten zu klären. ({3}) Die ungeklärten Konten sind, wie der Vertreter der Deutschen Rentenversicherung in der Anhörung ausführte, auf die fehlende Mitwirkung der Betroffenen zurückzuführen. ({4}) Es ist nicht absehbar, dass sich daran künftig etwas ändern wird. Die Versicherten erhalten jährliche Renteninformationen. Außerdem bekamen sie Briefe, in denen sie über die Notwendigkeit der Kontenklärung und über den Fristablauf aufgeklärt wurden. ({5}) Vor diesem Hintergrund halten wir es für nicht richtig, dass die Unternehmen, die die Aufbewahrung der Lohnunterlagen gegen Entgelt übernommen haben, nun die Kosten dafür tragen sollen, dass viele Menschen nicht bereit waren, ein Mindestmaß an Eigenverantwortung zu übernehmen. Ohnehin können die Betroffenen ihre Rentenansprüche auch nach Fristablauf und ohne ihre Lohnunterlagen vorzulegen glaubhaft machen. ({6}) Dann erhalten sie zwar nur fünf Sechstel ihrer Ansprüche. Aber ich denke, dass unter diesen Umständen keine Fristverlängerung notwendig ist. Die vorzeitige Übertragung des Saisonkurzarbeitergeldes auf das Dachdeckerhandwerk wird von uns abgelehnt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Steppuhn von der SPD-Fraktion?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, ich möchte Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass es noch mindestens 1,3 Millionen ungeklärte Rentenkonten gibt und dass in dieser Zahl die Konten der Personen, die in den Westen verzogen sind, noch gar nicht mit berücksichtigt sind?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Diese Zahl ist mir durchaus bekannt. Aber wie ich bereits sagte - Sie haben mir wohl nicht zugehört, Herr Kollege Steppuhn -, hat der Vertreter der Rentenversicherung darauf aufmerksam gemacht, dass es aufgrund der Vielzahl von Fällen offensichtlich an der Bereitschaft der Betroffenen mangelt, bei der Klärung ihrer Rentendaten mitzuwirken. ({0}) Die Frage ist: Wenn 16 Jahre zur Klärung der Rentenkonten nicht ausgereicht haben, was berechtigt dann zu der Annahme, dass die nächsten fünf Jahre eine wesentliche Veränderung dieses Sachverhalts mit sich bringen werden? Möglicherweise ist es doch so, dass sich einige der Betroffenen sogar besser stellen, wenn sie den Weg der Glaubhaftmachung wählen. ({1}) - Es kann sich sogar um eine noch größere Zahl von Betroffenen handeln, Herr Kollege. Vielleicht ist das allerdings ein bewusst gewähltes Verhalten. Ich sage Ihnen: Durch die Verlängerung der Frist um fünf weitere Jahre gewinnen Sie nach meinem Dafürhalten nichts. Es entstehen zwar zusätzliche Kosten, die getragen werden müssen. Aber man gewinnt dadurch im Hinblick auf die Rentendaten nicht mehr Sicherheit. Ich will unsere Ablehnung der vorzeitigen Übertragung des Saisonkurzarbeitergeldes auf das Dachdeckerhandwerk begründen: Wir haben bereits bei der Einführung des Saisonkurzarbeitergeldes erklärt, dass wir vor einer Ausdehnung auf andere Branchen zunächst einmal die Evaluation und die durch das Saisonkurzarbeitergeld entstehende Kostenbelastung abwarten wollen. Daran halten wir weiterhin fest. Zudem ist zu erwarten - das kam auch in der Anhörung zum Ausdruck -, dass, nachdem das Dachdeckerhandwerk berücksichtigt wurde, relativ zügig weitere Branchen in diese Regelung aufgenommen werden wollen. Mit welchem Argument wollen Sie anderen Branchen die Aufnahme versagen, wenn Sie dem Dachdeckerhandwerk dieses Recht eingeräumt haben? Nein, ich denke, ohne Kenntnis der Folgen und der entstehenden Kosten ist eine Ausweitung auf weitere Branchen nicht verantwortbar und nicht zustimmungsfähig. ({2}) Insbesondere aus den letzten beiden Gründen, unserer Ablehnung der Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung von Lohnunterlagen und unserer Ablehnung der vorzeitigen Übertragung des Saisonkurzarbeitergeldes auf das Dachdeckerhandwerk, können wir dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes nicht zustimmen. Da wir allerdings die Einführung der vollständigen Kapitaldeckung beim Pensions-Sicherungs-Verein positiv bewerten, werden wir uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. ({3}) Den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern“ lehnen wir aus den vorgetragenen Gründen ab. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müsste morgen früh auf den Titelseiten der Zeitungen erwähnt werden, dass wir heute Abend diese Debatte führen. ({0}) Denn so viele ausgesprochen gute Dinge, ({1}) wie mit diesem Gesetz beschlossen werden, gibt es eigentlich selten auf einmal. Das zeigt: Die große Koalition ist gut für gute Nachrichten. ({2}) Gute Nachricht Nummer eins: Wir tun Gutes für die betriebliche Altersvorsorge. Das Finanzierungsverfahren der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung wird auf vollständige Kapitaldeckung umgestellt und damit zukunftssicherer gestaltet. ({3}) Zudem wird auch das Geld, das im Wege der Entgeltumwandlung für die Altersvorsorge angespart wird, in den Insolvenzschutz einbezogen. ({4}) Wir schaffen damit zusätzliche Anreize für den weiteren Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge und dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland die Entgeltumwandlung nutzen, um fürs Alter vorzusorgen. Das zentrale Thema bei der Debatte über die Altersvorsorge ist eigentlich nicht die gesetzliche Rente, sondern wie wir die zweite und dritte Säule der Altersversorgung - die betriebliche Altersversorgung und die private, kapitalgedeckte Altersversorgung - so ausbauen, dass die Menschen im Alter von Altersarmut verschont bleiben und einen ausreichenden Lebensstandard durch die drei Standbeine der Altersversorgung haben. Deshalb ist der heutige Tag ein guter Anlass, alle Betriebe, alle Arbeitgeber, aber auch alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzufordern: Nutzen Sie die Möglichkeiten der betrieblichen Altersvorsorge! Nutzen Peter Weiß ({5}) Sie die Entgeltumwandlung, bei der Ihnen der Staat bares Geld schenkt! Dann steht Ihre Altersversorgung auch in Zukunft auf sicheren Beinen. Das ist die Hauptbotschaft. ({6}) Die gute Nachricht Nummer zwei ist: Die große Koalition sorgt für Klarheit und Verlässlichkeit bei der Rente. ({7}) Es gibt genügend publizistische und politische Strategen - einer ist der Kollege Dr. Kolb, der gerade geredet hat -, die mit Begriffen wie „Schrumpfrente“ die Rentnerinnen und Rentner verunsichern wollen. Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, stellen wir klar, dass so genannte Zusatzjobs oder 1-Euro-Jobs - wie immer man sie nennen will - das Lohnniveau, das für die Rentenberechnung maßgeblich ist, nicht nach unten ziehen dürfen. Wir machen gleich Nägel mit Köpfen, indem wir schon heute die Sozialversicherungsrechengrößen für das Jahr 2007 festlegen. ({8}) Also schaffen wir Klarheit bei der Rentenberechnung. Herr Dr. Kolb, Sie haben etwas zur Rente gesagt. ({9}) - Doch. - Unabhängig davon, dass dieses Jahr ein dreizehnter Sozialversicherungsbeitrag eingezogen wird, sagen uns alle Indikatoren: Es läuft bei der Rente ausgesprochen gut, sowohl was die Rentenfinanzierung des Jahres 2006 betrifft als auch was die Rentenfinanzierung des Jahres 2007 anbelangt. Deswegen muss endlich Schluss sein mit der ständigen Verunsicherung der Rentnerinnen und Rentner! Mit Blick auf dieses Gesetz, aber auch auf das, was uns an Daten, Zahlen und Fakten vorliegt, können wir eines sagen: Die Rente 2006 und die Rente 2007 sind gut finanziert. Das ist eine gute Botschaft für die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land. ({10}) Gute Nachricht Nummer drei. Es wird dem Gesetzgeber, also uns, oftmals vorgeworfen, wir würden mit bürokratischen Regelungen das Leben der Menschen erschweren. Es ist gerade umgekehrt: Menschen machen sich gegenseitig das Leben schwer. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit dem Merkzeichen „B“ im Schwerbehindertenausweis. Dieses Merkzeichen besagt, dass ein Anspruch auf ständige Begleitung besteht. Herr Staatssekretär Thönnes hat schon geschildert, dass es vorgekommen ist, dass ein Mensch mit Behinderung, in dessen Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „B“ stand, im Schwimmbad oder in einer Disco abgewiesen worden ist, nach Hause geschickt worden ist, weil er keinen Begleiter dabei hatte. Da hat jemand etwas falsch verstanden! Deshalb müssen wir im Gesetz jetzt leider ausdrücklich klarstellen, dass das Merkzeichen „B“ im Schwerbehindertenausweis zwar zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt, aber nicht verpflichtet, in jedem Fall und unbedingt eine Begleitperson dabeizuhaben. ({11}) Deswegen ist diese Klarstellung im Gesetz, die wir heute vornehmen, auch ein Stück Kampf gegen die Diskriminierung behinderter Menschen in unserem Land. Ich finde, auch das ist eine gute Nachricht für die Behinderten in Deutschland. ({12}) Wir entsprechen daneben dem ausdrücklichen Wunsch der Deutschen Rentenversicherung und mehrerer Bundesländer, die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen der früheren DDR bis 2011 zu verlängern. ({13}) Verehrter Herr Kollege Dr. Kolb, ich finde, wenn diejenige, die zuständig ist, nämlich die Deutsche Rentenversicherung, und die Bundesländer fordern, das zu tun, dann sollten wir uns als Fachpolitiker im Bundestag nicht gescheiter machen als die Deutsche Rentenversicherung und die davon betroffenen Bundesländer, sondern diesem berechtigen Wunsch entgegenkommen. ({14}) Die Kollegin Maria Michalk, die aus Sachsen kommt, hat mir erzählt, dass sie heute eine ganze Reihe von Anrufen und E-Mails von Leuten bekommen hat, die gehört haben, dass wir das heute regeln, und die sagen: Gott sei Dank verlängert ihr die Frist. - Ich finde, es ist eine gute Nachricht für die Menschen in den neuen Bundesländern, dass wir ihrem Wunsch nachkommen und die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen heute beschließen. ({15}) Auch das, was Sie zum Dachdeckerhandwerk gesagt haben, kann ich nicht nachvollziehen. Das Dachdeckerhandwerk hat die tarifvertraglichen Voraussetzungen selbst geschaffen - dort sitzen ja Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen, die frei etwas vereinbaren -, um das neue System zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung nutzen zu können. Wir als Bundestag können jetzt doch nicht sagen: Weil ihr das freiwillig miteinander vereinbart habt, lehnen wir als Gesetzgeber es ab, euch in diese Förderung mit einzubeziehen. ({16}) Peter Weiß ({17}) Ich finde es richtig, dass wir sie noch vor dem Winter und nicht erst nach dem Winter mit einbeziehen. Das ist ja wohl auch logisch. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rohde?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weiß, ich habe wirklich eine Wissensfrage. Ich kenne die Antwort selbst nicht. Wie sieht der Tarifvertrag im Dachdeckerhandwerk, der jetzt gerade beschlossen wurde, denn aus? Im Verlaufe des Jahres - zu Beginn haben wir das Saisonkurzarbeitergeld im Baugewerbe eingeführt - haben wir festgestellt, dass die Tarifverträge vonseiten der Tarifpartner nachgebessert wurden und dass jetzt Vorleistungen durch das Einbringen von Stunden für dieses Saisonkurzarbeitergeld entfallen sind. Wie sieht das jetzt aus? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rohde, es kann nicht nachgebessert worden sein, weil das Dachdeckerhandwerk erst jetzt die tariflichen Voraussetzungen geschaffen hat, um die Regelung überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Wir als Gesetzgeber regeln, dass sie diese auch in Anspruch nehmen können. Von daher muss ich sagen, dass Ihre Frage etwas ins Leere geht. ({0}) Wir regeln in diesem Gesetz noch weitere Gegenstände, die ich nicht alle aufführen will. Wir verlängern die Geltungsdauer der Regelungen bezüglich des Vermittlungsgutscheines, weil wir erst dann, wenn die Evaluierungsergebnisse der Wissenschaftler vorliegen, definitiv darüber entscheiden, ob es ihn so oder in anderer Form auch in Zukunft geben soll. Zusammengefasst finde ich, dass das alles gute Nachrichten sind. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie alle persönlich fragen, ob Sie schon einmal einen Bus verpasst haben. Wenn man einen Omnibus verpasst, dann steht man nämlich in der Regel ziemlich dumm da. Wir beschließen heute ein so genanntes Omnibusgesetz, durch das eine Vielzahl unterschiedlicher Gesetzesmaterien geregelt wird. Ich finde, Sie sollten es alle nicht verpassen, in diesen Omnibus voll guter Nachrichten einzusteigen und dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Thönnes hat es ja schon ausgeführt: Am Anfang dieses Omnibusgesetzes stand zunächst einmal allein und ausschließlich das Zweite Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengesetzes. In diesem Gesetz wird geregelt - auch das ist ja schon angesprochen worden -, dass die Finanzierung der Insolvenzsicherung von Betriebsrenten - und nur der Insolvenzsicherung und nicht der Betriebsrenten - über den Pensions-Sicherungs-Verein auf volle Kapitaldeckung umgestellt wird. Es hat sich erwiesen, dass alle Beteiligten davon profitieren: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben durch diese Umstellung den Vorteil eines stärkeren Schutzes ihrer Betriebsrente vor dem Risiko einer Insolvenz des Arbeitgebers. Die Arbeitgeber zahlen zwar für einen überschaubaren Zeitraum von 15 Jahren zunächst höhere, danach aber wegen der Zinseffekte niedrigere Beiträge, sodass auch sie die Änderung begrüßt haben. ({0}) - Herr Kolb, darüber haben wir heute Abend nicht zu diskutieren. ({1}) Wo es nur Gewinner und keine Verlierer gibt, herrscht natürlich beste Stimmung. Wenn die Stimmung so gut ist, kann man sie natürlich nutzen: Man stellt dann einen Omnibus auf und packt all das hinein, was man in der Sozialgesetzgebung schon längst erledigt haben wollte, wozu man aber bislang keine Zeit oder keine Gelegenheit gefunden hat. Weil die Aussage der Kanzlerin, in dieser Koalition gehe Sorgfalt immer vor Schnelligkeit, nicht immer ganz richtig ist, hat man noch ein paar Gesetze hineingepackt, mit denen handwerkliche Fehler beseitigt werden. Sie haben, wenn auch schamhaft, auch zwei rote Rosen aus dem Garten der Linken in den bunten Strauß eingebunden. ({2}) - Sie können sie als Stiefmütterchen bezeichnen. Stiefmütterchen sind aber, wenn ich das richtig sehe, nicht rot. - Nachdem Sie gemäß Ihrem Grundsatz „Guter Antrag, falscher Antragsteller“ noch im März den Antrag der Fraktion Die Linke, die 1-Euro-Jobs aus der Berechnung der Werte der Rentenversicherung herauszunehmen, als überflüssig abgelehnt haben, bringen Sie ihn nun selbst ein. Besser spät als nie! ({3}) Volker Schneider ({4}) Kollege Brauksiepe, Sie behaupten immer wieder, damals - das hört sich bei Ihnen so an, als sei es Ewigkeiten her; es war im März - sei diese Änderung noch nicht notwendig gewesen, fragten dann in der Anhörung aber selbst den Gutachter der Rentenversicherung, ob es angesichts des Zeitpunkts nicht sinnvoll sei, die Rechengrößen statt über Rechtsverordnungen direkt im Gesetzgebungsverfahren zu regeln. Was ist das: Ahnungslosigkeit, Ignoranz oder Schizophrenie? ({5}) Wären Sie damals unserem Antrag gefolgt, bestünde jetzt nicht die Notwendigkeit, sich als Gesetzgeber in den Tätigkeitsbereich der Exekutive einzumischen. ({6}) Damit Sie die zweite Rose besser im Strauß verstecken können, haben Sie vom Stiel ein Sechstel abgeschnitten. Ob Sie die Frist für die Aufbewahrung von Lohnunterlagen aus der früheren DDR nur um fünf oder, wie von uns gewünscht, um sechs Jahre verlängern, ist nun wirklich nicht der Punkt. Es ist wichtiger - da muss ich im Ansatz dem Kollegen Kolb Recht geben -, zu überlegen, wie es uns in der zusätzlich gewonnen Zeit gelingen wird, die Betroffenen in den mindestens 1,3 Millionen Fällen ungeklärter Rentenkonten dazu zu bewegen, die erforderliche Klärung vorzunehmen. Aufgrund unserer Erfahrungen sind wir der Meinung, dass in vielen Fällen ein Mangel an Vertrauen in die Rente die Ursache der Zurückhaltung ist. Die Betroffenen stellen sich die Frage: Warum viel Zeit und Aufwand in eine solche Angelegenheit investieren, wenn dabei unterm Strich doch nichts oder wenig herauskommt? Auch durch noch so viele Erinnerungen der Deutschen Rentenversicherung wird sich diese Skepsis nicht aufbrechen lassen. ({7}) Hier sind wir besonders gefordert. Kurz noch etwas zu den anderen Blumen in diesem Strauß: Die Fraktion Die Linke begrüßt ausdrücklich die Einbeziehung der Dachdecker in die Förderung der ganzjährigen Beschäftigung sowie die Klarstellung hinsichtlich des Merkzeichens „B“ im Behindertenausweis. Hinsichtlich der Verlängerung des Instruments der Vermittlungsgutscheine haben wir im bisherigen Verfahren deutlich gemacht, dass wir Zweifel an den positiven Wirkungen dieses Instruments haben, Mitnahmeeffekte aber real beobachtbar sind. Daran ändern aus unserer Sicht auch die vorgenommenen gesetzlichen Änderungen nichts. Wenn sich die Bundesregierung in diesem Zusammenhang durch eine Evaluation weitere Sicherheit verschaffen will, stehen wir diesem Ansinnen nicht im Wege, unterstützen es aber auch nicht. Die Einbeziehung der unter 25-Jährigen in die Bedarfsgemeinschaft der Eltern lehnen wir grundsätzlich ab. Die hier vorgenommene weitergehende Veränderung lehnen wir zwar nicht ab, denn sie bringt eine Verbesserung für die Betroffenen; wir können ihr aber auch nicht zustimmen. In unserer ablehnenden Haltung gegenüber den Änderungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, die von Ihnen als nur redaktionell bezeichnet wurden, sehen wir uns durch die Anhörung bestätigt. Diesen Teil des Antrags lehnen wir ab. Man muss nicht jede Blume mögen, um einen Strauß ansehnlich zu finden. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf insgesamt zustimmen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Sie haben schon deutlich überzogen.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie wissen vielleicht, warum Sie unserem Antrag zwar gefolgt sind und die gewünschte Gesetzesänderung bereits eingebracht haben, aber unserem Antrag nicht folgen. Wir verstehen es nicht. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorgeschlagene Änderung des Betriebsrentengesetzes findet unsere volle Zustimmung. ({0}) Durch eine bessere Insolvenzsicherung der unverfallbaren Anwartschaften wird die betriebliche Alterssicherung der Beschäftigten zukunftssicherer. Immerhin geht es dabei um 8,5 Millionen Menschen. ({1}) - Warten Sie ab! Die betriebliche und private Vorsorge wird - darin sind wir uns einig - zunehmend wichtiger. ({2}) Wir hätten uns allerdings in diesem Zusammenhang gewünscht, dass auch die Möglichkeit, Betriebsrentenansprüche beim Wechsel des Arbeitsplatzes mitzunehmen, verbessert worden wäre. ({3}) Herr Weiß, Sie führen immer wieder an, dass Sie so viel Gutes tun. An dieser Stelle hätten Sie eine gute Chance dazu gehabt, aber die große Koalition ist eben ein bisschen träge. ({4}) Wir unterstützen auch die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen aus früheren DDRBetrieben bis zum Jahre 2011, damit 1,3 Millionen Menschen, deren Renten noch nicht geklärt sind, keine Kürzung aufgrund fehlender Nachweise erfahren müssen, wie es bei einer Glaubhaftmachung der Fall wäre. Herr Kolb, ich finde es geradezu zynisch, dass Sie sagen, einige stellten sich mit der Glaubhaftmachung besser. Wenn Sie die kleine Rente einer Ostrentnerin hätten, die noch um 16 Prozent gekürzt würde, dann würden Sie anders reden. ({5}) So weit, so gut. Bis zu diesem Punkt haben Sie unsere Zustimmung. Nun komme ich zum kritikwürdigen Teil Ihres Vorhabens. ({6}) In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hat die große Koalition Änderungen am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz im Ausschuss einfach angehängt. Damit haben Union und SPD verhindert, dass sich der Bundestag ordnungsgemäß in einer ersten Beratung mit den Korrekturen am AGG beschäftigen kann. Das zeigt, wie peinlich Ihnen der ganze Vorgang ist, und zwar zu Recht. Mit hektischen Last-Minute-Änderungen am vormals rotgrünen Entwurf haben Sie schon im Sommer zahlreiche Unstimmigkeiten geschaffen. Seitdem ist im AGG der Wurm drin. Aber statt eine Wurmkur zu machen, vergrößern Sie heute mit den drei Änderungen noch die Löcher. Ich nenne ein Beispiel aus dem Zivilrecht. Seit jeher stehen in unserem Grundgesetz Religion und Weltanschauung gleichberechtigt nebeneinander. Völlig willkürlich beharrt Schwarz-Rot darauf, im Zivilrecht die Weltanschauung aus dem Diskriminierungsschutz auszugrenzen. Das ist eine Diskriminierung von Freidenkern, Atheisten und Anthroposophen. Das gilt selbstverständlich jeweils auch für die weibliche Form. Das nächste Beispiel betrifft die Verbändebeteiligung. Ohne jeden sachlichen Grund beschneiden Sie nun auch die Beteiligungsmöglichkeiten von Verbänden in Arbeits- und Sozialgerichtsverfahren. Diese Beschränkung ist mit den EU-Richtlinien unvereinbar. Sie fordern nämlich starke Verfahrensrechte. Das dritte Beispiel ist das Arbeitsrecht. Alle Fachleute sagen, den Bereich Kündigung aus dem AGG herauszunehmen, verstoße gegen die EU-Richtlinien zu Beschäftigung und Beruf. Aber was machen Sie? Sie nehmen Ihren richtlinienwidrigen Eingriff nicht etwa zurück, sondern werfen auch noch die letzten verbliebenen Altersregelungen hinaus. Staatssekretär Andres hat im Ausschuss gesagt, das seien alles nur redaktionelle Änderungen. Aber ich frage Sie, Herr Thönnes: Halten Sie es gerade vor dem Hintergrund der geplanten Rente mit 67 für gerechtfertigt, ältere Beschäftigte beim Kündigungsschutz schlechter zu stellen? Die Anhörung im Ausschuss hat klipp und klar gezeigt - übrigens waren keine Sachverständigen zu diesem Thema eingeladen; auch das macht etwas deutlich -, dass Sie sehenden Auges richtlinienwidriges Recht beschließen. Sie schaffen damit - bewusst oder unbewusst rechtliche Grauzonen. Das Antidiskriminierungsgesetz als solches ist nicht das Problem. Dabei handelt es sich um ein gutes Gesetz. Problematisch sind vielmehr Ihre Verschlimmbesserungen. Sie schaffen mit den beabsichtigten Änderungen ein Beschäftigungsprogramm für die Gerichte. Ich denke, der Koalitionsfrieden hat für Sie Vorrang vor der Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Was Sie hier machen, ist kein Nachbessern, sondern ein Nachmurksen. ({7}) Im Ausschuss haben wir getrennt über die einzelnen Punkte abgestimmt, sodass wir die AGG-Regelungen ablehnen konnten. Allen anderen Punkten haben wir zugestimmt. Heute wird über den gesamten Entwurf abgestimmt. Daher enthalten wir uns der Stimme. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn so viele Fraktionen dem Gesetzentwurf zustimmen oder zumindest in Teilen zustimmen, dann haben wir ein gutes Gesetz für die Menschen in diesem Land gemacht. ({0}) Insofern hat Peter Weiß Recht: Heute ist ein guter Tag für das Parlament. Die Kollegin Schewe-Gerigk hat die heutige Debatte zum Anlass genommen, um auf das AGG einzugehen und die Frage nach dem besonderen Kündigungsschutz für Ältere in Tarifverträgen aufzuwerfen. Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das, was wir in einem Änderungsantrag als Klarstellung zu dem Gesetzentwurf vorgesehen haben, bewirkt, dass sowohl der allgemeine als auch der besondere Kündigungsschutz durch das AGG nicht berührt werden. Es ist wichtig, dass die Menschen in diesem Land wissen, dass wir nicht für eine Verschlechterung sorgen, sondern eine Klarstellung herbeiführen. Sowohl der allgemeine als auch der besondere Kündigungsschutz bleiben wirksam. Die Streichung der Regelbeispiele in § 10 Nr. 6 und Nr. 7 AGG ist rein redaktioneller Art und hat keine Rechtswirkung. Das möchte ich ausdrücklich feststellen. Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht nur mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengesetzes etwas Gutes bewirken. Vielmehr zeigen die Koalitionsfraktionen auch, dass sie flexibel und schnell handeln können, wenn es den Menschen dient. Die Winterbauförderung für das Dachdeckergewerbe führt dazu, dass die Menschen nicht in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden. Wir wollen das Dachdeckergewerbe in eine gesetzliche Regelung einbeziehen. Schließlich sind die dort tätigen Menschen aufgrund witterungsbedingter Schwankungen einer besonderen Beschäftigungssituation ausgesetzt. Diese Regelung ist ein wichtiger Schritt hin zu stabilen Beschäftigungsbedingungen und ein Beitrag gegen die Verunsicherung in diesem Lande. Das nimmt den Menschen Zukunftsängste. ({1}) Diese Regelung, die Arbeitnehmern und Arbeitgebern Planungssicherheit gibt, ist ein gutes Beispiel für die funktionierende Tarifautonomie in diesem Land. Denn es zeugt von großer gemeinsamer Verantwortung der Tarifvertragsparteien, dass sie den notwendigen tarifpolitischen Rahmen geschaffen haben, der uns als Gesetzgeber in die Lage versetzt, eine wirksame Regelung für die Menschen zu beschließen, die der Winterarbeitslosigkeit im Baugewerbe sonst ausgesetzt wären. Damit erhalten die betroffenen Menschen in der Schlechtwetterzeit eine Arbeitsplatz- und Beschäftigungssicherung. Ein weiterer Bereich, den wir regeln, betrifft den Vermittlungsgutschein. Hier geht es darum, Menschen bessere Beschäftigungschancen zu eröffnen und schneller in Arbeit zu bringen. Die Koalitionsfraktionen von CDU/ CSU und SPD haben sich darauf geeinigt, die Geltungsdauer des bestehenden Vermittlungsgutscheins um ein Jahr zu verlängern. Das gibt den Beschäftigten in diesem Gewerbe Planungssicherheit, eröffnet aber auch den Menschen Chancen, die auf eine bessere Vermittlung in Arbeit angewiesen sind. Für uns sind die privaten Arbeitsvermittler eine ausgesprochen belebende Ergänzung der öffentlichen Vermittlung. Hierfür spricht, dass die Bundesagentur für Arbeit die privaten Vermittler zunehmend als Kooperationspartner annimmt. Das haben wir zumindest der Stellungnahme zu der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf entnehmen können. Wir haben das Instrument der Vermittlungsgutscheine weiterentwickelt und sehen uns in der Evaluation bestätigt. Danach haben Vermittlungsgutscheinbesitzer deutlich bessere Integrationsaussichten; das haben wir beabsichtigt. Wir haben uns vorgenommen, auf der Basis der Evaluation den Instrumentenkasten insgesamt auszuwerten und zu ermitteln, wie dieses Instrument wirkt, wenn es qualitativ weiterentwickelt wird. Solange die Vermittlungsgutscheine dazu beitragen, mehr nachhaltige sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, werden wir die Geltungsdauer dieses Instruments verlängern. Wenn dem nicht so ist, werden wir das in den Evaluationsprozess einbeziehen und entscheiden, ob wir das Instrument weiter einsetzen werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be- kannt, dass uns eine persönliche Erklärung der Kollegin Silvia Schmidt nach § 31 der Geschäftsordnung vor- liegt.1) Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än- derung des Betriebsrentengesetzes, Drucksache 16/1936. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 16/3007, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der Linken, der SPD und der CDU/CSU bei Enthaltungen der Fraktionen der Grünen und der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit demselben Ergebnis wie in zweiter Lesung angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3007 empfiehlt der Ausschuss die Ableh- nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa- che 16/2746 mit dem Titel „Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern“. Wer stimmt für die Beschlussempfeh- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/ CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion der Grünen ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Strom- und Gasnetze in die öffentliche Hand - Drucksache 16/2678 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Herbert Schui, Hans-Kurt Hill, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Regelmäßige technische Überprüfung der Stromnetze - Drucksache 16/1447 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill, Fraktion Die Linke. ({2})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was wir zurzeit auf dem Energiemarkt beobachten, ist doch ein Stück aus dem Tollhaus. ({0}) Die Energiekonzerne glauben, sie können tun und lassen, was sie wollen, und die Regierung sieht tatenlos zu. Die Strom- und Gasnetze sind nahezu vollständig in der Hand von RWE, Eon, Vattenfall und EnBW. 80 Prozent der Kraftwerkskapazitäten werden von den großen Vier kontrolliert. Wird erwogen, in das Kartell einzugreifen, drohen die Konzerne schon einmal indirekt mit Stromausfall. Man wolle den Neubau von Kraftwerken zurückhalten, wenn mehr reguliert werde. Eine Drohung nach der anderen. Die 13,5 Milliarden Euro Profit letztes Jahr waren wohl nicht genug. Irgendjemand kriegt den Hals wohl nicht voll. Nun gibt es neben RWE und Co. neue Energieanbieter auf dem Markt. Tatsächlich ist gut die Hälfte der geplanten Kraftwerksprojekte von anderen Unternehmen geplant. Doch von Wettbewerb keine Spur. Da wird schlicht der Zugang verweigert, Bürokratie vorgeschoben oder es werden unerfüllbare Auflagen gemacht. Ein Beispiel: Im Fall von Engpässen sollen die Kraftwerke der großen Vier Vorrang vor Anlagen anderer Anbieter haben. Mit anderen Worten: RWE und Co. können die Konkurrenz ausschalten. Ein anderes Beispiel: RWE verlangt von einem Energieanbieter, der ein neues Kraftwerk plant, er soll doch bitte 600 Millionen Euro für 150 Kilometer Netzausbau selber zahlen. Das ist faktisch das Aus für solch ein Projekt. RWE kann so das Energieangebot weiter knapp halten und die Börsenpreise für Strom manipulieren. Aus meiner Sicht ist das Missbrauch. So kann es nicht weitergehen. ({1}) Die Netzeigner weigern sich auch, die Netze auf den wachsenden Anfall erneuerbarer Energien auszurichten. Das Ergebnis heißt dann Lastenmanagement. Auf Deutsch, Windkraftanlagen werden schlicht abgeschaltet, wenn bei guten Windverhältnissen viel CO2-freier Strom erzeugt wird. Der Netzausbau richtet sich also nicht nach der Zukunftsfähigkeit der Energieversorgung, sondern nach Eigeninteressen und Profit. Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Die Bundesnetzagentur ist unverzichtbar, um die jetzige Situation einigermaßen in den Griff zu bekommen. Wir unterstützen die Fachleute nach Kräften; denn die Aufgaben sind enorm. Die Linke fordert deshalb eine Anhebung des Etats der Behörde um 5 Millionen Euro, auch damit sie die technische Sicherheit der Netze neutral und kompetent überwachen kann. Das ist übrigens unabhängig von der Eigentumsfrage notwendig. Mit Blick auf die Marktmacht der großen Vier wird aber der Erfolg der Bundesnetzagentur begrenzt bleiben. Sie kann naturgemäß keine Entscheidungen darüber treffen, wie die Energieversorgung und damit die Netzstruktur zukünftig aussehen soll. Die Kontrolle der Netzbetreiber stößt aber auch schnell an Grenzen, wenn es um die Betriebsgeheimnisse geht. Beispiel: Das Gutachten zum katastrophalen Stromausfall im Münsterland konnte nur teilweise veröffentlicht werden, weil - ich zitiere „es Bezug nimmt auf interne Unterlagen der RWE, die als Geschäftsgeheimnisse deklariert sind“. Was am Ende herauskommt, erleben die Strom- und Gaskunden dieser Tage: Die Netzagentur senkt die Netzentgelte. Die Energieversorger erhöhen die Kosten bei der Erzeugung. Unterm Strich kann man froh sein, dass die Preiserhöhung geringer ausfällt. Von sinkenden Strom- und Gaspreisen kann also keine Rede sein. Fazit: Die Netze sind gewissermaßen die Achillesferse der Energieversorgung. Sie gehören deshalb in die öffentliche Hand, um dem Versorgungsanspruch gerecht zu werden, Missbrauch zu verhindern, die Energieversorgung zukunftsgerecht zu gestalten und für die Kommunen eine umfassende Mitgestaltung zu gewährleisten. ({2}) Deshalb liegen Ihnen heute zwei Anträge zur Entscheidung vor. Stellen Sie sich auf die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher! Stimmen Sie den Anträgen zu! Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/ CSU-Fraktion.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Analyse können wir uns in diesem Hause über einiges verständigen; in der einen oder anderen Frage sind wir einigermaßen gleicher Meinung. Aber in der Bewertung und vor allem in den Schlussfolgerungen - ich werde gleich darauf eingehen - sind wir es mit Sicherheit nicht. In der Tat ist festzustellen, dass der Wettbewerb im Energiebereich - dazu zählen nicht nur der Strombereich, sondern selbstverständlich auch die Wärme und das Gas - und auch auf anderen Feldern - ich erinnere nur an den Transport und an den Verkehr - noch nicht richtig funktioniert. Gerade beim Strom - man muss da unterscheiden und sollte nicht alles über einen Kamm scheren - haben wir 1998 bewusst den Weg in die Liberalisierung beschritten. Die Liberalisierung und der Wettbewerb im Strombereich funktionieren bisher aber nur eingeschränkt. Insoweit sind wir in der Analyse noch einig. Im Erzeugungsbereich gab es anfänglich wesentliche Fortschritte bei der Liberalisierung: Rationalisierungsund Liberalisierungseffekte in einer Größenordnung von 8,5 Milliarden Euro. Das kam den Stromverbrauchern direkt zugute: Ende der 90er-Jahre und in den Jahren 2000 bis 2001 hatten wir sinkende Strompreise zu verzeichnen. Auf der anderen Seite gibt es Bereiche wie das natürliche Monopol Netz, in denen wir in Deutschland erst einen Sonderweg beschritten haben, nämlich den des verhandelten Netzzugangs. Dieser Weg hat sich nicht als erfolgreich erwiesen. Aus Einsicht und weil in der EU mit den Beschleunigungsrichtlinien ein anderer Weg beschritten wird, haben wir letztes Jahr mit der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes die Grundlage gelegt, im Bereich des natürlichen Monopols Netz einen Wettbewerb zu implementieren, der ebenfalls dafür sorgt, dass es zu sinkenden Preisen und Entgelten kommt. Im Energiewirtschaftsgesetz ist für eine Übergangsphase bis einschließlich 2007 - das Gesetz ist im Juli letzten Jahres in Kraft getreten - eine Ex-ante-Kostenregulierung vorgesehen. Dafür brauchen wir die Bundesnetzagentur, die in der Tat der Kostenkalkulation auf den Grund geht und in diesem Jahr wirklich erfolgreich arbeitet. Im Grunde stündlich gehen die Bescheide ein, was Gas- und Stromentgelte anbelangt. Insofern ist hier mit Sicherheit eine preisdämpfende Wirkung festzustellen. Die Monopolrenditen werden dadurch reduziert. Wir haben uns aber auch darauf verständigt, für die Zeit vom 1. Januar 2008 an in diesem Bereich eine Anreizregulierung zu implementieren, die Vergleichsmärkte in den Blick nimmt und gerade erst im Entstehen ist. Sie wird am 1. Januar 2008 in Kraft treten und soll dann ihre Wirkung entfalten, was sie, gut angelegt, mit Sicherheit auch tun wird. Das Folgende sage ich nicht nur zu Ihrem Antrag, sondern auch zu der Diskussion auf europäischer Ebene, die aktuell geführt wird und für die, wenn ich das richtig sehe, Teile des Koalitionspartners gewisse Sympathien hegen. Ein eigentumsrechtliches Unbundling wäre maximal ein weiterer Schritt, der zu prüfen wäre, wenn die anderen Instrumente nicht funktionieren würden. Mit Verlaub, Herr Kollege Hill: Sie haben das Ganze zwar differenziert dargestellt und gesagt, dass die Bundesnetzagentur benötigt und eigentlich auch gestärkt werden müsse, aber wenn ich Ihren Antrag richtig sehe, dann fordern Sie mit einem Griff in die sozialistische Mottenkiste - dazu fällt mir nichts mehr ein -, als wären 40 Jahre DDR-Sozialismus mit „Ruinen schaffen ohne Waffen“ spurlos an Ihnen und uns vorübergegangen, die Enteignung bzw. Vergesellschaftung der Strom- und Gasnetze.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hill?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich. Ich habe heute Abend keinen Termin mehr. Insofern habe ich viel Zeit. Zumindest habe ich meinen nächsten Termin erst um 8 Uhr. ({0})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir haben noch einen Termin. Herr Kollege Pfeiffer, Sie haben gerade von der SEDVergangenheit gesprochen, die Sie wieder aus der Mottenkiste ausgegraben haben.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe aus Ihrem Antrag zitiert.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In zwei Ländern, nämlich in Dänemark und in den Niederlanden, sind die Netze verstaatlicht worden. Beide Länder haben meines Erachtens relativ konservative Regierungen. Meinen Sie, dass der Weg, der dort beschritten worden ist, falsch ist?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch in diesem Fall gilt, Herr Kollege Hill, dass man sich zunächst einmal mit dem Sachverhalt auseinander setzen und dass man prüfen sollte, wie sich die Lage wirklich darstellt. Die Situation unterscheidet sich in allen anderen europäischen Ländern mit Ausnahme Österreichs von der in Deutschland. Traditionell haben sich in den anderen europäischen Ländern die Netze bereits in einer Hand, vormals zumeist in staatlicher Hand, befunden. Das gilt zum Beispiel für England und auch für Frankreich. Dort gibt es eine ganz andere Tradition: Die Dinge haben sich seit 100 Jahren, seit Entstehen der Netze, ganz anders entwickelt als in Deutschland. Ich glaube nicht, dass eine Lösung für Deutschland in der Errichtung dezentraler Netze bestehen würde. Sie haben Recht, dass es nur vier Übertragungsnetzbetreiber gibt. Das gesamte deutsche Stromnetz und die Verteilungsebene befinden sich aber in den Händen mehrerer Hundert Betreiber, etwa von Stadtwerken. Ich habe nur Ihren Antrag zitiert. Sie wollen, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordert, einen Gesetzentwurf einzubringen - ich wiederhole das -, der eine Enteignung bzw. Vergesellschaftung der Strom- und Gasnetze zum Gegenstand hat. ({0}) - Ich bin noch bei der Beantwortung der Frage von Herrn Hill. Vielleicht können Sie die Uhr anhalten, Frau Präsidentin. Sie fordern eine Verstaatlichung. Das ist mit Sicherheit der falsche Weg, Herr Hill. Er ist wirklich nur mit dem Griff in die sozialistische Mottenkiste zu begründen. ({1}) - Herr Kurth fordert mit Sicherheit nicht die Verstaatlichung der Netze. Das wäre mir ganz neu. Das hat er weder bei seiner Berichterstattung in der letzten Beiratssitzung, in der Sie wohl nicht anwesend sein konnten, noch sonst wo gefordert. Nichtsdestotrotz ist Tatsache, dass der Wettbewerb in dem Erzeugungsbereich nicht richtig funktioniert. Doch inzwischen haben wir im Netzbereich die Instrumente dafür angelegt. Nun müssen wir noch dafür sorgen, dass sie entsprechend wirkungsvoll werden. Unterstützen Sie uns deshalb bei der Umsetzung einer Anreizregulierung, die preisdämpfend wirkt! Insgesamt kann ich nur davor warnen, dass die Politik falsche Hoffnungen weckt. Sie vermitteln den Eindruck, es müsse nur alles in staatliche Hand überführt werden, dann würden die Preise stabil bleiben oder sogar sinken. Das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein. Wenn wir uns für den Weg der Liberalisierung und der Marktwirtschaft entschlossen haben, müssen wir diesen Weg auch konsequent gehen. Das fordere ich ein. Bislang gehen wir ihn nämlich nicht konsequent. Wir haben im Bereich der Erzeugung heute noch keinen richtigen Wettbewerb. Deswegen haben wir beispielsweise gesagt, dass die Tarifpreisgenehmigung im nächsten Jahr auslaufen soll. Es gibt aber auch Leute, die fordern, die Tarifpreisgenehmigung zu verlängern. Dann würden wir ein staatliches Siegel für die gesamten Stromkosten behalten, welches den Preis, bei dem durchaus Spielraum besteht - weil dieser Spielraum besteht, ist doch das Kartellamt mit seinen Bemühungen gescheitert -, legitimiert. Der marktkonforme Weg muss und wird deshalb sein, das Kartellamt entsprechend zu stärken. Nicht wir sollten die Tarifkontrolle ausüben, sondern das Kartellamt. Dafür müssen wir die Vorschriften über die Missbrauchsaufsicht anpassen und dem Kartellamt zeitlich begrenzt - bis es auch im Erzeugungsbereich im notwendigen Umfang funktioniert - die entsprechenden Möglichkeiten einräumen. ({2}) - Sie können ja gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich habe, wie gesagt, ja noch Zeit. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, die Zwischenfragen lässt die Präsidentin zu. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Hilfestellung in der Interpretation der Geschäftsordnung. Mehr Wettbewerb gibt es nur mit mehr Erzeugung. Wir brauchen dezentrale Erzeugung, die jetzt ja auch wieder attraktiv wird. Deshalb müssen wir die Netzzugangsbedingungen verbessern. Die Bundesnetzagentur und das Bundesministerium für Wirtschaft sind gefordert, den Netzzugang so zu konzipieren, dass neue Wettbewerber die Möglichkeit haben, einzuspeisen. Das gilt sowohl für die Wettbewerber aus dem Bereich der erneuerbaren Energien, von denen es viele Klagen gibt, dass sie nicht richtig einspeisen können, als auch für neue Wettbewerber aus dem Bereich der fossilen Energien, die in Deutschland an den Markt kommen wollen. Wir werden nur mit mehr Liquidität im Markt erreichen, den Wettbewerb zu stärken. Deshalb werbe ich dafür, dass wir nicht das zarte Pflänzchen des Wettbewerbes, das gerade im Begriff ist, sich zu entwickeln, kaputt treten und durch staatliche Reglementierungen ersetzen. Es ist nämlich nicht so, dass der Staat alles besser weiß und deshalb Preise festsetzen kann. Vielmehr müssen wir den Wettbewerb so stärken, dass er auch wirklich greift. Das geht eben nur mit marktkonformen Instrumenten. Damit stärken wir zugleich die Wahlfreiheit der Kunden. Wie in anderen Bereichen soll der Kunde auswählen können, woher er seinen Strom und seine Energie bezieht. Im Ergebnis setzt dann, in marktkonformer Weise, der Kunde die Höchstpreise fest. Das ist heute nicht der Fall. Nur wenn wir unseren Weg konsequent weitergehen, dann werden wir - das wird allerdings noch eine gewisse Zeit dauern - die Früchte unserer Bemühungen ernten können, nicht aber bei einer Verstaatlichung und Vergesellschaftung der Netze. Das hat schon in der DDR nicht funktioniert; daran leiden wir noch heute. Sie aber fordern das heute wieder ein! Das ist der falsche Weg. Der marktkonforme Weg ist der richtige. Diesen wird die Koalition - hoffentlich mit Unterstützung der FDP und vielleicht auch der Grünen - beschreiten. ({0}) Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Wir stehen im Deutschen Bundestag vor der Frage, worauf wir setzen: auf Verstaatlichung von Netzen oder auf eine konsequente Regulierung der Netze, um einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu gewährleisten. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben uns dafür entschieden, hier auf konsequente Regulierung zu setzen, weil wir anders leider nicht zu mehr Wettbewerb auf dem Energiemarkt kommen; da gebe ich dem Kollegen Pfeiffer ausdrücklich Recht. Die Stärkung des Wettbewerbs ist aber notwendig und Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt die Chance zur Kostensenkung erhalten. ({0}) Herr Kollege Hill, Sie setzen in einer Reflexbewegung, die aus jahrzehntelang geübter politischer Überzeugung in die Neuzeit übertragen wurde, wiederum auf den Staat und sagen tatsächlich, hier müsse eine Verstaatlichung der Netze erfolgen; die führe automatisch zu niedrigeren Preisen. Das ist eine Logik, über die ich nicht einmal mehr lachen kann. ({1}) Gerade das Beispiel Airbus zeigt doch: In dem Moment, wo sich Politik in dem Sinne einmischt, ({2}) dass sie versucht, wirklich ins Management einzugreifen, in dem Moment, wo nicht Unternehmer einen Betrieb führen, sondern sich der Staat direkt einmischen soll, geht meist vieles schief. Wir haben erlebt, dass dort, wo das Regime vom Staat übernommen wird, mehr Bürokratie, mehr Ineffizienz und viel mehr Kosten entstehen. Diese Lektion können wir lernen. ({3}) Sie fordern in Ihrem Antrag ein eigentumsrechtliches Unbundling, also eine Entflechtung von Netzen und Erzeugung, zum jetzigen Zeitpunkt. Ich glaube, dass dies der falsche Weg ist. Wir haben das auch in der FDPBundestagsfraktion diskutiert und sind zu der Ansicht gekommen, dass es wichtig ist, die Wirksamkeit aller Instrumente, die hier zu einer Entflechtung führen sollen - organisatorische, buchhalterische und ab dem nächsten Jahr auch rechtliche -, zu prüfen und dann abzuwarten, ob mit der Anreizregulierung die von uns allen angestrebte Entflechtung und damit auch Wettbewerbsstärkung erfolgen. Die eigentumsrechtliche Entflechtung kann nach unserer Überzeugung allenfalls ein allerletztes Instrument sein, wenn denn gar nichts anderes mehr geht. ({4}) Zur Historie - der Kollege Pfeiffer hat das ganz richtig dargestellt -: In den anderen EU-Staaten haben und hatten wir es zumeist mit einem großen Staatsunternehmen zu tun, während wir in Deutschland immerhin bis zu 1 700 Netzbetreiber haben. ({5}) Sie müssen bedenken, dass bei einer solchen Entflechtung zum jetzigen Zeitpunkt auch mit großen Gerichtsverfahren zu rechnen wäre. Die Zeit sollten wir lieber nutzen, um zur Herstellung von Wettbewerb die richtigen Instrumente einzusetzen. Dafür haben wir die Bundesnetzagentur. Sie soll wirken. Wir haben daneben das Bundeskartellamt, das als Missbrauchsaufsichtsbehörde sehr wertvolle Dienste leistet und das man personell noch verstärken sollte; das wäre sinnvoll. Nun braucht man bei einer solchen Regulierung natürlich das Instrument der Geduld. Wir müssen Geduld aufbringen, damit sich die Wirkung dessen, was wir mit dem Energiewirtschaftsgesetz beschlossen haben, auch entfalten kann. Ich sage es noch einmal: Der diskriminierungsfreie Netzzugang ist das Allerwichtigste, damit weitere Erzeuger und neue Anbieter hier Fuß fassen können und damit die Verbraucher in die Lage versetzt werden, zum jetzigen Zeitpunkt ihre Anbieter zu wechseln - beim Gas vermehrt erst in Zukunft -, damit es hier hoffentlich zu Preissenkungen kommt. ({6}) Das kann man nicht versprechen. Aber das ist natürlich auch unser Ziel, denn es kann nicht sein, dass Politik hilflos zusieht, wie hier Monopolstrukturen - darum geht es - weiter bestehen können, ohne dass wir versuchen, in besserer Weise einzuwirken. Das heißt also, liebe Kollegen und Kolleginnen, wir sind uns einig - die meisten jedenfalls, glaube ich -, dass eine Verstaatlichung auf gar keinen Fall der richtige Weg ist. Vielmehr müssen wir den Wettbewerb durch konsequente Regulierung stärken. Wir sollten alles daransetzen, gemeinsam die Bundesnetzagentur in ihren Bemühungen zu unterstützen. Wir sollten nicht ständig neue Instrumente erfinden und jetzt zum Beispiel eine Preisaufsicht aus dem Hut ziehen, statt abzuwarten, ob sich die Wirkungen dessen, was wir bereits beschlossen haben, jetzt entwickeln. Also: keine Verstaatlichung, sondern konsequent an der Herstellung von mehr Wettbewerb arbeiten. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann, SPDFraktion.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Einer der beiden Anträge, die die Linke zur heutigen Debatte gestellt hat, ist fast untergegangen. In diesem Antrag geht es um die regelmäßige technische Überprüfung der Stromnetze. Allein die Antragstellung suggeriert natürlich schon, in dieser Beziehung sei in den letzten Jahren nichts geschehen. Das ist falsch. Wir haben im letzten Jahr - das ist mehrfach erwähnt worden - ein neues Energiewirtschaftsgesetz auf den Weg gebracht. Da heißt es in § 13 Abs. 7: Zur Vermeidung schwerwiegender Versorgungsstörungen haben Betreiber von Übertragungsnetzen jährlich eine Schwachstellenanalyse zu erarbeiten und auf dieser Grundlage notwendige Maßnahmen zu treffen. Das Personal in den Steuerstellen ist entsprechend zu unterweisen. Über das Ergebnis der Schwachstellenanalyse und die notwendigen Maßnahmen hat der Übertragungsnetzbetreiber jährlich bis zum 31. August der Regulierungsbehörde zu berichten. Im Übrigen ist in § 14 genau die gleiche Regelung für die Betreiber von Elektrizitätsverteilungsnetzen vorgesehen. Die Regelungen im Energiewirtschaftsgesetz sind aber nicht nur vorbeugend, sondern auch nachsorgend. Wenn es etwa um bereits stattgefundene Versorgungsstörungen geht, sieht das Energiewirtschaftsgesetz in § 52 entsprechende Meldepflichten vor. Ich könnte auch das im Einzelnen zitieren, will es Ihnen aber ersparen. Es wird jedenfalls ganz klar deutlich, dass wir bereits im letzten Jahr, als wir das Energiewirtschaftsgesetz auf den Weg gebracht haben, auch an den Aspekt der Qualität gedacht haben und selbstverständlich auch im Einzelnen dafür gesorgt haben, dass die Bundesnetzagentur über die notwendigen Instrumente verfügt, um diese Qualität auch durchzusetzen. ({0}) Der zweite Punkt, den ich nannte, also die nachsorgende Beschäftigung mit Versorgungsunterbrechungen, die stattgefunden haben, hat gerade im letzten Jahr eine besondere Rolle gespielt. Sie haben es eben indirekt erwähnt: Es gab die Stromausfälle im RWE-Netz im Münsterland. Es hat sich gezeigt, dass hier in der Tat der genannte Mechanismus gegriffen hat. Es gab ein umfängliches Gutachten der Bundesnetzagentur. Dabei wurde durchaus auch bestätigt, dass das galt, was der Netzbetreiber für sich in Anspruch genommen hat, dass nämlich vor allen Dingen äußere Faktoren zu diesem Unglück geführt haben. Gleichzeitig hat die Bundesnetzagentur das Unternehmen aber angewiesen, das bestehende Sanierungskonzept zu beschleunigen. Ich denke, all das sind nicht nur Nachweise, dass wir gesetzgeberisch gehandelt haben, sondern dass dieses Handeln tatsächlich auch entsprechende Wirkung zeitigt. Übrigens gilt das Gleiche - auch das will ich jetzt nicht im Einzelnen zitieren - für die Gasnetze. Auch im Zusammenhang mit dem Thema Anreizregulierung haben wir uns mit diesem Qualitätsaspekt, den Sie hier anbringen, beschäftigt. Insofern - ich will auch das jetzt nicht vertiefen - ist klar, dass auch das Anreizregulierungskonzept, das jetzt vorgelegt worden ist, und die Verordnung, die jetzt erarbeitet wird, neben dem kosteneffizienten Netzbetrieb auch ein Augenmerk auf Qualität und auf Investitionen legen. Im Übrigen würde ich mir wünschen, dass die Zusammenhänge häufiger beachtet würden; in der Energieversorgung geht es nämlich immer um mehrere Ziele. Wir wollen immer eine umweltverträgliche und zugleich preisgünstige Energieversorgung. Dabei soll es auch eine langfristige Versorgungssicherheit geben. Dass dies Zielkonflikte sind, dürfte jedem klar sein. Dass die hohe Qualität auch etwas kostet, muss man den Menschen im Lande gelegentlich sagen. Man darf ihnen nicht suggerieren, als hätten wir beliebig viele Möglichkeiten, die Energiepreise nach unten zu regulieren. Wir müssen immer einen Kompromiss zwischen Preiswürdigkeit auf der einen Seite und Versorgungssicherheit, Qualität und Investitionen auf der anderen Seite finden. Der zweite Antrag, mit dem wir uns hier beschäftigen, befasst sich mit der Verstaatlichung der Stromund Gasnetze. Wir haben zu diesem Thema schon mehrfach Anträge der Linken gehabt, die in eine ähnliche Richtung gingen. Das ist für uns nichts Neues, für die Linken selber auch nicht. Das hat ein wenig mit ihrer Historie zu tun. Ich will diesen Antrag nicht weiter kommentieren. Ich sage nur: Wir haben begonnen, einen anderen Weg zu gehen. Wir haben im letzten Jahr die Bundesnetzagentur eingerichtet. Sie hat darüber zu wachen, dass die organisatorische Entflechtung, die wir beschlossen haben, erfolgreich umgesetzt wird. Sie soll einen diskriminierungsfreien Netzzugang durchsetzen und sie soll letztlich auch sinkende Netzentgelte bewirken. Die Bundesnetzagentur ist diesen Weg bereits ein kleines Stück gegangen. Wir können schon zu diesem sehr frühen Zeitpunkt feststellen: Die Netzentgelte sinken in der Tat, in Teilen auch die Endverbraucherpreise. Es ist nicht ganz verwunderlich, dass sinkende Netzentgelte nicht jedes Mal und sofort auf die Endpreise durchschlagen. Wer die Berichte der Bundesnetzagentur kennt, weiß, dass Geschichte nicht stehen bleibt und dass zwischenzeitlich neue Sachverhalte eingetreten sind, die zu bestimmten Verrechnungsmechanismen geführt haben, die aber wiederum von der Bundesnetzagentur entsprechend überwacht worden sind. Wir haben im Übrigen - auch dies ist schon mehrfach im Plenum angesprochen worden - verschiedene andere Instrumente in Vorbereitung, um die Wirksamkeit der Tätigkeit der Netzagentur weiter zu verstärken. Dazu gehört zum einen die Kraftwerksanschlussverordnung. Es geht darum, neuen Anbietern eine möglichst faire Chance zu geben, mit ihren neuen Kraftwerken ans Netz zu gehen und am Netz zu bleiben. Es ist also beileibe nicht so, als sei die Benachteiligung der kleinen oder neuen Anbieter vorprogrammiert. Bei der neuen Kraftwerksanschlussverordnung geht es darum, Wettbewerb im Bereich der Erzeugung zu fördern und einen Preisdruck zu bewirken. Dieser Verordnung kommt sozusagen eine Scharnierfunktion zwischen dem Bereich der Netze und der Kraftwerke zu. Im Übrigen ist es so, dass die Bundesnetzagentur durchaus Instrumente hat, um zum Beispiel Engpassmanagement zu organisieren und in einem weiteren Schritt beispielsweise über die Festlegung von Investitionsbudgets und Ähnlichem dafür zu sorgen, dass auch ein Netzausbau stattfindet. All die Punkte, die eingefordert worden sind, sind bereits umgesetzt oder werden gerade durch entsprechende gesetzliche Initiativen vorbereitet. Anstatt auf den Staat zu setzen, der Netze übernimmt - am Ende vielleicht noch die Kraftwerke selbst und den Vertrieb -, anstatt also auf die Schaffung eines Staatsmonopols in Deutschland zu setzen, sollten wir, wie es Herr Dr. Pfeiffer gerade gefordert hat, eher auf den WettbeRolf Hempelmann werb setzen. Weil es in den Medien eine sehr missverständliche Berichterstattung in den letzten zwei Tagen gegeben hat, sage ich sehr deutlich: Ich persönlich, aber auch die SPD begrüßt die Initiative zu einer Novelle des GWB, um zu einer Stärkung der Missbrauchsaufsicht beim Kartellamt zu kommen. ({1}) Man wird aber darüber streiten dürfen, wie das im Einzelnen ausgestaltet wird. Es ist opportun - es gehört sich auch so -, dass man sich darüber unterhält, ob denn die Wirkungen, die wir uns wünschen, eintreten werden oder ob möglicherweise ungewünschte Nebenwirkungen überwiegen. Das wird Inhalt der Debatte zwischen Parlament und Regierung und innerhalb der Koalitionsfraktionen sein. Ich denke aber, das ist nichts Anrüchiges; denn es gehört zum parlamentarischen Alltag. Einen weiteren Punkt, den Herr Dr. Pfeiffer angesprochen hat, unterschreibe ich ebenfalls: Wir wollen keine Verlängerung der Preisaufsicht. Ich spitze zu: Ich will auch keine Verlagerung der Preisaufsicht auf das Bundeskartellamt. Das ist nicht zielführend. ({2}) Zielführend ist alles, was wir gerade im Einzelnen an Instrumenten und zur Beförderung von Wettbewerb dargestellt haben. Meine Damen und Herren, es ist spät, deswegen danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Analyse der Probleme des Energiemarktes sehe ich in diesem Haus viel Übereinstimmung. Der Wettbewerb des Strom- und Gasmarktes hat eine deutliche Schieflage. Die Endkundenpreise für Strom und Gas steigen seit Monaten kontinuierlich an. Fast im Gleichschritt entwickeln sich die Gewinne der großen Energiekonzerne - ich sage hier ausdrücklich nicht, die der Energiebranche. Betrachtet man die Energiewirtschaft genauer, läuft es auf der Gewinnerseite derzeit nur auf eine handvoll marktbeherrschender Unternehmen hinaus. Natürlich kann die Politik diese Entwicklung nicht gutheißen und tatenlos zusehen. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz hat die rot-grüne Koalition schon eine wichtige Rahmenbedingung verändert. Die Bundesnetzagentur ist mittlerweile ein nicht mehr wegzudenkender Akteur. Die Kostenkontrolle bei den Netzentgelten ist auf einem guten Weg. Wenn die Bundesregierung ihre im Gesetz zugewiesene Aufgabe der Anreizregulierung gewissenhaft angeht, dann haben wir einiges erreicht. Was wir nun brauchen, sind Initiativen für mehr Wettbewerb in der Stromerzeugung und auch bei der Gasbeschaffung. Der Anschluss neuer Kraftwerke - zum Beispiel auf der Basis von Biogas und anderen erneuerbaren Energien - muss erleichtert werden. Ambitionierte Verordnungen könnten hier schon einiges erreichen. Sicherlich wäre auch eine stärkere Entflechtung hilfreich. Aber bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, schütten Sie nicht das Kind mit dem Bade aus. Eine Verstaatlichung aller Netze geht einfach zu weit. Fragen Sie doch einmal die Stadtwerke auf der Verteilnetzebene, wo es auf der einen Seite kaum Missbrauch gibt, aber auf der anderen Seite gravierende wirtschaftliche Einbrüche geben würde, wenn die Stadtwerkenetze verstaatlicht werden sollten. Um ihre Entflechtung kümmert sich auf der Basis des Energiewirtschaftsgesetzes doch bereits die Netzagentur. Bei den Transportnetzen ist es in der Tat deutlich spannender. Hier würde eine eigentumsrechtliche Entflechtung tatsächlich einiges bewirken. Sie würde positive Wettbewerbseffekte haben und sie würde den großen Energieversorgungsunternehmen ein Instrument der Blockadehaltung gegen die erneuerbaren Energien aus der Hand schlagen. Das hat Kollege Dr. Pfeiffer gerade auch als Problem betont. ({0}) Spannender als den Antrag von den Linken finde ich die Vorschläge von Bundesminister Glos und Herrn Rhiel. Warum nicht an der Erzeugerseite selbst anpacken? So falsch können die Ansätze doch nicht sein, der Aufschrei der großen Energieversorgungsunternehmen ist ja kaum zu überhören. Aber der Ruf der Linken nach der Allmacht des Staates ist wohl Teil eines inneren Auftrages, den Sie immer spüren. Zu diesem Urteil muss man kommen, wenn man Ihren zweiten Antrag liest. Es kann doch nicht Aufgabe des Staates sein, alle Netze zu überprüfen. Wer soll denn das bezahlen? Der Steuerzahler oder der Energiekunde? - Egal, in jedem Fall der Bürger. Haben Sie denn schon einmal die sozialen Auswirkungen solcher Strompreissteigerungen ausgerechnet? Nein, es gibt hier wesentlich effizientere Methoden, zum Beispiel eine Festschreibung von Mindeststandards für die Netzsicherheit und bei Verletzung Strafzahlungen oder gar den Verlust der Konzession. Dazu gehört dann natürlich auch eine Anrechung der Netzinvestitionen bei den Energiepreisen. ({1}) Meine Damen und Herren, Teile der SPD halten weiter an der Strategie fest, wenige Unternehmen zu europäischen Champions hochzupäppeln. Den Preis zahlen die deutschen Strom- und Gaskunden sowie der Wettbewerb. Damit knickt die SPD zugleich als erste vor der Drohung der Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW ein, zukünftig keine Kraftwerke mehr zu bauen, wenn ihre exorbitanten Gewinne nicht langfristig gesichert werden. Es scheint die SPD nicht zu interessieren, dass es sich dabei zugleich um die Atomstromkonzerne handelt, die den Atomkonsens faktisch aufgekündigt haben. ({2}) Die Politik ist gefordert, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass wirtschaftliche Energiepreise gewährleistet werden. Das kann selbst die SPD nicht bestreiten. Die Energiepreise aber steigen seit Monaten kontinuierlich an, fast im Gleichschritt mit der Gewinnentwicklung der vier großen Energieversorger. Die von Rot-Grün eingeführte staatliche Aufsicht über die Netze konnte diese Entwicklung bisher nur bremsen, aber nicht völlig stoppen. Wir brauchen dringend effektive Handlungen der Regierung, um diese Preistreiberei zu stoppen. ({3}) Zum Schluss: Unverständlich bleibt uns auch, warum die Emissionshandelszertifikate nach 2008 weiter an die Energiekonzerne verschenkt werden, die sie dem Endkunden teuer in Rechnung stellen. Wir brauchen jetzt einen Wettbewerb um die besten Ideen und Konzepte, damit uns die Energiepreise für Kleinkunden und Energieverbraucher nicht weiter davongaloppieren. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2678 und 16/1447 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss - Drucksache 16/1368 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 16/2940 Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Fischbach Sibylle Laurischk Ekin Deligöz - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/2941 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ole Schröder Dr. Frank Schmidt Otto Fricke Roland Claus Anna Lührmann Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute in zweiter Lesung um die Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss. Die bisherigen Regelungen besonderer Anspruchsvoraussetzungen für ausländische Staatsangehörige hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 6. Juli 2004 für verfassungswidrig erklärt, sodass wir uns nun erneut darüber Gedanken machen müssen, wie wir auch ausländische Kinder und ihre Eltern an diesen staatlichen Leistungen beteiligen wollen. Wir haben eine Regelung vorgelegt - das ist eine gute Nachricht für ausländische Familien -, die den Kreis der Berechtigten maßvoll ausweitet. Deshalb ist mit überschaubaren Leistungssteigerungen beim Kindergeld, beim Bundeserziehungsgeld und beim Unterhaltsvorschuss sowie mit Mindereinnahmen beim Einkommensteuergesetz zu rechnen. Wir können es uns aber nicht leisten, dass alle Ausländer, die derzeit in Deutschland leben, an diesen Familienleistungen gleichermaßen beteiligt werden. Wir halten es für richtig - an diesem Leitmotiv orientiert sich der Gesetzentwurf - danach zu unterscheiden, ob von einem dauerhaften Aufenthalt der ausländischen Familie in Deutschland auszugehen ist oder nicht. ({0}) In Anbetracht der Haushaltslage halten wir es für berechtigt, bei dieser Leistungsausweitung zurückhaltend vorzugehen, das heißt, nicht unbedingt über das hinauszugehen, was von Verfassungs wegen gefordert wird. Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Existenzsicherung natürlich nötigenfalls durch Leistungen der Sozialhilfe für jeden Ausländer und für jedes ausländische Kind, unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen Status, von Anfang an garantiert ist. Heute geht es wirklich nur darum, zusätzliche Bonusleistungen für Familien in sinnvoller Weise zu konzentrieren. Für den unter finanziellen Gesichtspunkten wohl interessantesten Regelungsbereich des Kindergeldes - das ist schließlich das Kernstück des familienpolitischen Leistungsausgleichs des Staates - heißt das, dass die heutige Diskussion für all diejenigen bedeutungslos ist, die im Sozialhilfebezug stehen; denn für diese werden die Leistungen für die Kinder nach Sozialhilfesätzen - der Satz beträgt immerhin 207 Euro pro Kind und Monat - unter Anrechnung des Kindergeldes gezahlt. Ich möchte zunächst auf den Grundsatz unserer Gesetzesänderung zurückkommen. Wir wollen Menschen, die sich im Einklang mit den Voraussetzungen des Aufenthaltsgesetzes dazu entschließen, ihren Lebensmittelpunkt und den ihrer Kinder dauerhaft nach Deutschland zu verlegen, fördern und ihre Integration unterstützen. Damit man sich die Dimension dieser Aufgabe klar machen kann, nenne ich ein paar Zahlen: In Deutschland leben etwa 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, die als ausländische Staatsangehörige oder als Spätaussiedler zu uns gekommen sind. Das ist fast ein Fünftel der Bevölkerung in unserem Land. Hinter dem Begriff Migration verbergen sich sehr unterschiedliche Lebensschicksale und Lebenswirklichkeiten. Manche kommen freiwillig und manche eben nicht. Entscheidend für eine Politik, die die Integration und die Förderung ausländischer Familien vorantreibt, ist immer, ob diese Menschen ihr Leben dauerhaft in unserer Gesellschaft führen wollen und können. Dabei bedeutet erfolgreiche Integration Identifikation, Teilhabe und Verantwortung. Dafür sind Anstrengungen auf beiden Seiten erforderlich: auf der einen Seite des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft und auf der anderen Seite der Migranten und Migrantinnen selbst, die bereit sein müssen, sich auf ein Leben in unserer Gesellschaft einzulassen, das Grundgesetz und die gesamte Rechtsordnung vorbehaltlos zu akzeptieren und insbesondere das Erlernen der deutschen Sprache als ein sichtbares - oder besser gesagt: hörbares - Zeichen der Zugehörigkeit zu Deutschland zu setzen. ({1}) Aufseiten der deutschen Gesellschaft und des Staates bedeutet das gleichzeitig, diejenigen, die nun dauerhaft hier leben, zu unterstützen nach dem Motto: Wer fordert, muss auch fördern. Es gibt noch einen anderen Zusammenhang, der es meiner Auffassung nach gebietet, die Leistungen auf diejenigen zu beschränken, die dauerhaft hier bleiben. Wir müssen uns angesichts unserer Haushalts- und Schuldenlage darüber klar sein, dass jede zusätzliche Sozialleistung nur auf Kredit, also als Wechsel auf die Zukunft, möglich ist. Investitionen in Kinder und Jugendliche sind sicher eine gute Entscheidung, aber wir müssen sehen: Für Deutschland zahlt sich diese Investition nur aus, wenn die Kinder hier heranwachsen und sich als Leistungsträger in unsere Gesellschaft, aber auch in unseren Arbeitsmarkt integrieren. Es werden dann diese Kinder sein, die gemeinsam mit den deutschstämmigen Kindern das Bruttosozialprodukt erwirtschaften, von dem diese Schulden zurückgezahlt werden, ({2}) während die Kinder, die in ihre Heimatländer zurückkehren, sich nicht daran beteiligen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem zitierten Beschluss den Grundsatz unangefochten gelassen, dass sich die Gewährung von Kindergeld danach richten kann, ob eine Familie dauerhaft hier bleibt oder nicht. Wir stehen also nun vor der Aufgabe, geeignete Kriterien zu finden und Anspruchsvoraussetzungen zu formulieren, die die Prognose zulassen, dass es sich um einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland handelt. Das ist bei einer Niederlassungserlaubnis natürlich völlig unproblematisch. Auch bei anerkannten Asylberechtigten und Flüchtlingen ist die Situation klar. Aber wenn nur eine Aufenthaltserlaubnis vorliegt, müssen weitere Kriterien hinzukommen. Der Gesetzentwurf knüpft für den Regelfall daran an, ob diese Erlaubnis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt. Dann ist von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen. ({3}) Ausnahmen sind dann vorgesehen, wenn die Aufenthaltserlaubnis nur erteilt wurde, um einen von vornherein nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt abzusichern. Es wäre nicht richtig, wenn wir zum Beispiel auch denjenigen Kindergeld gewähren, die sich nur als Studenten oder für die Dauer einer Ausbildung vorübergehend in Deutschland aufhalten. ({4}) Hier und heute streiten wir noch darüber, ob das auch für eine Aufenthaltserlaubnis gilt, die in Härtefällen nach § 23 a Aufenthaltsgesetz oder nach § 25 Abs. 3 bis 5 Aufenthaltsgesetz, also aus humanitären oder politischen Gründen, erteilt wurde. Die Koalitionsfraktionen gehen davon aus, dass in diesen Fällen nicht ohne weiteres mit einem dauerhaften Verbleib zu rechnen ist. In diesen Fällen, in denen es zum Beispiel um vorübergehende private Gründe gehen kann, aber natürlich auch um politische Verhältnisse im Herkunftsland, die einer Rückkehr entgegenstehen, ist der Aufenthalt in Deutschland eindeutig nicht auf Dauer angelegt, unbeschadet der Tatsache, dass sich der Aufenthalt länger hinziehen kann als ursprünglich geplant. Im Prinzip muss man diese Situationen so beschreiben, dass der betroffene Ausländer jederzeit bereit ist, in seine Heimat zurückzukehren, sobald sich dort die Verhältnisse geändert haben und Reisehindernisse entfallen sind. In so einer Situation generell von dauerhaften Hindernissen auszugehen oder jede politische Veränderung zum Positiven im Heimatland der betroffenen Ausländer aus Erfahrung für unwahrscheinlich zu halten, wäre eine pessimistische Betrachtungsweise, der sich die Unionsfraktion nicht anschließen möchte. ({5}) Deshalb halten wir es im Gegensatz zu dem, was in den Anträgen von FDP und Linken steht, für angebracht, bei rechtmäßigem Aufenthalt - gestattet oder geduldet als zusätzliche Voraussetzung eine dreijährige Wartefrist oder die Berechtigung zur Erwerbstätigkeit zu verlangen, bevor - wie gesagt, zusätzlich zur jederzeit garantierten Existenzsicherung - weitere Familienleistungen gezahlt werden. ({6}) Wenn der Aufenthalt aus diesen Gründen bereits drei Jahre andauert, ist das sicherlich ein Indiz dafür, dass sich die Situation tatsächlich verfestigt hat. Dann kann man den Sachverhalt anders beurteilen. ({7}) - Dann wird die Leistungsberechtigung auf Grundlage des Gesetzes angenommen. ({8}) Ich möchte kurz zusammenfassen: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung erfüllt in seiner vorliegenden Fassung die verfassungsmäßigen Vorgaben. Das haben die beteiligten Ministerien eingehend geprüft. In ihm werden richtige politische Entscheidungen getroffen. Insbesondere wird eine wichtige Unterscheidung getroffen: zwischen den Personen, die dauerhaft hier bleiben, und denjenigen, die nur für eine überschaubare Zeit bei uns leben, die zum Teil Zuflucht bei uns suchen, die wir ihnen auch gerne gewähren, die dann aber in ihr Herkunftsland zurückkehren oder in ein anderes Land gehen und sich in die dortige Wirtschaft und Gesellschaft integrieren.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. Wir müssen die zusätzlichen finanziellen Mittel, die wir zur Verfügung stellen, auf die Familien konzentrieren, die sich für ein Leben in unserer Gesellschaft entschieden haben. Diese Familien zu unterstützen, begreifen wir als Investition in unsere gemeinsame Zukunft. Das tun wir gern. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDPFraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden. Ziel ist, nur solchen Ausländerinnen und Ausländern Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss zu gewähren, von denen zu erwarten ist, dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden. Die FDP hätte es sehr begrüßt, wenn dieses Ziel konsequent verwirklicht worden wäre. Stattdessen hat die große Koalition in letzter Minute - sogar ohne ein einziges Wort der Begründung - einen Änderungsantrag vorgelegt, der zum Inhalt hat, dass weitere Gruppen hier lebender Ausländerinnen und Ausländer von einer Anspruchsberechtigung ausgeschlossen werden. Daran wird wieder einmal deutlich, wie schwierig es für Union und SPD ist, sich beim Thema Migration und Integration auf eine einheitliche Linie zu einigen. ({0}) Die FDP kritisiert, dass durch die vorliegende Regelung nun auch diejenigen vom Bezug von Familienleistungen ausgeschlossen werden sollen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten. Dabei handelt es sich insbesondere um Personen, die sich aufgrund einer Entscheidung der Härtefallkommission in Deutschland befinden. Auch sie sollen jetzt vom Bezug von Kindergeld und Erziehungsgeld ausgeschlossen werden. Den Menschen, deren Aufenthalt aufgrund einer Einzelfallprüfung sowohl eine Kommission als auch die oberste Landesbehörde befürwortet haben - dasselbe gilt auch für diejenigen, die sich aus humanitären Gründen in Deutschland aufhalten, wenn ihre Rückkehr unmöglich ist -, wird durch die Blume gesagt: Wir wollen euch nicht; ihr bekommt kein Kindergeld, kein Erziehungsgeld, kein Elterngeld und keinen Unterhaltsvorschuss. ({1}) Das ist keine ehrliche Politik. Aber das ist für diese Regierung typisch. ({2}) Herr Grindel, Sie haben kein stimmiges und kein stringentes Konzept zur Zuwanderung und Integration. ({3}) Einerseits wird pressewirksam ein Integrationsgipfel einberufen, andererseits werden im Bundesinnenministerium Vorschläge für Maßnahmen zur Einschränkung der Integration erarbeitet. Darüber hinaus geht es der großen Koalition immer wieder um die Notwendigkeit, Integration und Zuwanderung zu fördern, um bestimmten Problemen wie der demografischen Entwicklung zu begegnen. ({4}) Wir als FDP meinen, dass hiervon wenig zu spüren ist. Wir fordern daher die Bundesregierung mit unserem Entschließungsantrag auf, schnellstmöglich eine Novellierung des Zuwanderungsgesetzes vorzulegen. Die Bundesregierung muss nach ihren vielen Ankündigungen endlich handeln und eine Regelung für ein Bleiberecht langjährig geduldeter Flüchtlinge vorlegen. ({5}) Denn wir wissen doch alle: Viele der Flüchtlinge sind sozial und wirtschaftlich hervorragend integriert. Viele ihrer Kinder sind in Deutschland geboren. Es scheint mir keine besonders kluge Politik zu sein, Menschen, die erfolgreich unser Bildungssystem durchlaufen, wieder fortzuschicken. Ich habe da einige Fälle vor Augen, in denen ich die Betroffenen persönlich kenne; viele von Ihnen kennen sicher auch solche Fälle. Wir Liberale wollen, dass sich Menschen, die dauerhaft zu uns nach Deutschland kommen, ihren Lebensunterhalt - das finde ich sehr wichtig - selbst verdienen können. Das passiert nicht. Wir reden über die Belastung der Sozialversicherungssysteme - wie es meine Vorrednerin getan hat -, über Hartz IV und darüber, dass die Haushaltsmittel knapp sind. Doch wir geben Menschen, die sich hier aufhalten, nicht die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, sich Arbeit zu suchen. Das muss geändert werden. ({6}) Wir erneuern unsere Forderung aus der letzten Legislaturperiode, dass Ausländerinnen und Ausländer, die rechtmäßig in Deutschland leben, die Genehmigung erhalten, für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien selbst zu sorgen. Bislang ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für diese Menschen zu restriktiv geregelt. Derzeit wird nur Sozialneid auf diese Empfänger staatlicher Transferleistung gefördert. Das wollen wir nicht. ({7}) Wir fordern Sie auf: Überarbeiten Sie Ihren Gesetzentwurf und nehmen Sie bitte auch unsere Vorschläge auf! Die FDP-Bundestagsfraktion wird Ihren Gesetzentwurf, über den heute Abend abgestimmt wird, in der vorliegenden Form ablehnen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga Lopez, SPDFraktion. ({0})

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2004 mit zwei Entscheidungen - einer zum Erziehungsgeld und einer zum Kindergeld - die bereits dargestellte Verfassungswidrigkeit des ursprünglichen Gesetzes vorgestellt. Uns wurde aufgegeben, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Die Bundesregierung hat am 3. Mai 2006 einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die in den beiden Entscheidungen genannten Grundrechtsverletzungen beseitigt werden sollen. ({0}) Ziel dieses Gesetzes - das haben wir bereits gehört; ich kann auf eine Wiederholung verzichten - ist im Wesentlichen, dass jetzt folgender Personenkreis als anspruchsberechtigt berücksichtigt wird: Ausländer mit Niederlassungserlaubnis und Ausländer, die zwar noch nicht über einen verfestigten Aufenthaltsstatus verfügen, bei denen aber ein weiterer Anhaltspunkt hinzukommt, der mit einem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt regelmäßig einhergeht: dass sie erwerbstätig sind. Ausgeschlossen von Familienleistungen bleiben ausländische Staatsangehörige, deren Aufenthalt befristet ist oder bei denen ein dauerhafter Aufenthalt nicht absehbar ist. Hierbei geht es zum Beispiel um Studierende oder Saisonarbeitskräfte. ({1}) - Nicht nur, aber eindeutig. Leider - auch das haben wir bereits gehört - hat es eine Ausweitung des Kreises der Nichtberechtigten gegeben, zum Beispiel Ausländer, deren Abschiebung ausgesetzt ist. Sie können die Anspruchsberechtigung nun auch erst nach einer Wartefrist erreichen. Dafür wurde diese Frist aber von den vorgesehenen fünf Jahren auf nunmehr drei Jahre verkürzt. Zumindest das ist gut so. Wie Sie wissen, hat es vonseiten des Bundesrates Bestrebungen gegeben, den Ausschluss von Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auszuweiten. Dies hat die Bundesregierung aus gutem Grund abgelehnt, weil dieser Personenkreis eine dauerhafte Bleibeperspektive hat. Diese Zurückweisung begrüßen wir ausdrücklich. Ebenso begrüßen wir die Aufnahme eines neuen Paragrafen in das Einkommensteuergesetz, nämlich des § 76 a. Durch ihn wird erstmals sichergestellt, dass das überwiesene Kindergeld für die Dauer von sieben Tagen seit der Gutschrift unpfändbar bleibt. Zuvor war die Pfändbarkeit sofort gegeben. Bei dem Ausschluss von der Anspruchsberechtigung auf Zahlung von Kindergeld stellen sich im Gegensatz zu den Regelungen zum Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss aber noch weitere Fragen. Ich habe die zum Kindergeld ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so verstanden, dass über die konkretere Bestimmung des nicht berechtigten ausländischen Personenkreises hinaus Sorge dafür getragen werden muss, dass es innerhalb der Gruppe der Nichtberechtigten nicht zu Ungleichbehandlungen kommt. Dies scheint mir nicht gewährleistet zu sein. Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung ausgeführt, dass alle Menschen, die legal in Deutschland leben, in gleicher Weise durch die persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der Kindererziehung belastet sind. Das Gericht führte weiter aus - ich zitiere jetzt wörtlich -: Für eine solche Durchbrechung eines in der Erfüllung seines sozialstaatlichen Schutzauftrages aus Art. 6 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber geschaffenen Systems bedürfte es besonders gewichtiger Gründe. Damals konnte das Gericht - so die weiteren Ausführungen - keine besonders gewichtigen Gründe erkennen. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes hat in den Beratungen im Ausschuss bereits eine Rolle gespielt. Ich habe aufgrund der Zweifel, die mir nach der Lektüre des Urteils zum Kindergeld gekommen sind, noch einmal nachgehakt. Ich danke Herrn Staatssekretär Dr. Kues für die prompte Antwort. ({2}) Aus der Antwort geht hervor, dass meine Bedenken nicht geteilt werden, folglich unbegründet sind. Wir, die SPD-Fraktion, verlassen uns auf diese Auskunft. ({3}) - Ja, ich bin keine Verfassungsrechtlerin und noch nicht einmal Juristin. Ich muss mich darauf verlassen. Mit der Abstimmung über den hier vorliegenden Gesetzentwurf erfüllen wir die durch das Bundesverfassungsgericht angemahnten Erfordernisse und erledigen den inzwischen drängenden Arbeitsauftrag. Das Thema selbst, nämlich die erfolgreiche Eingliederung von Migrantinnen und Migranten, wird uns sicherlich weiterhin beschäftigen. Ich bin mir sehr sicher, dass wir uns in diesem Kontext sicherlich bald auch wieder über die finanzielle Ausstattung hier lebender ausländischer Familien unterhalten müssen, und zwar unabhängig vom Aufenthaltsstatus. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Erst vor drei Wochen hat die Bundesregierung mit einem Gesetz deutlich gemacht, dass sie auch beim Thema Familienförderung mit zweierlei Maß misst: Das „1 : 0 für die Familien“ - so pries Ministerin von der Leyen das Elterngeld an - ist für circa 340 000 Familien in der Bundesrepublik wohl eher so etwas wie ein Eigentor. Es sind die Familien, die nicht im Fokus der Bundesregierung stehen: die Familien, die nur ein geringes oder gar kein Erwerbseinkommen haben. Mit dem heutigen Gesetzentwurf wird die Gruppe dieser Menschen noch etwas größer. Wieder geht es um Kinder und darum, wie sich ihr Stellenwert in unserem Land bemisst. Die Familienministerin spricht oft und gern von der Unterstützung, die sie Kindern gewähren möchte, die auf der Schattenseite stehen. Mit der heutigen Gesetzesänderung hätte sie dazu eine Chance gehabt. Eigentlich ist die Ungleichbehandlung von Migrantinnen und Migranten bei den kindbezogenen Leistungen schon für sich genommen ein Skandal. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Dass seit dem Urteil vom 6. Juli 2004 über zwei Jahre ins Land gehen mussten, bis heute eine Bundesregierung mit einer Gesetzesänderung darauf reagiert, ist der nächste Skandal. Der richtig große Skandal beginnt aber erst jetzt, da das Gesetz vorliegt, das dank eines in letzter Sekunde eingebrachten Änderungsantrags der großen Koalition nichts, aber auch gar nichts an der Verfassungswidrigkeit ändern wird. ({0}) In den letzten Tagen wurde aus einem sehr tragischen Grund wieder vollmundig davon gesprochen, dass Kinderrechte in das Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Dies wäre eine Maßnahme, bei der Sie sicher sofort Zustimmung von der Linken fänden, aber nur, wenn die Rechte aller Kinder dabei berücksichtigt werden und man sich nicht nur die aussucht, die gerade ins aktuelle politische Kalkül passen. Im Familienausschuss haben SPD und CDU/CSU gestern beschlossen, dass ein Antrag der Grünen von der Tagesordnung abgesetzt wird, der auf die Rücknahme der Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zielt. Die Rücknahme der Vorbehalte würde nämlich bedeuten, dass Sie alle Kinder und Jugendlichen gleich behandeln müssten. Wie Sie dazu stehen, machen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf deutlich. Es bleibt bei der repressiven Politik gegenüber Migrantinnen und Migranten, die das Ziel hat, „Zuwanderungsanreize abzubauen“. Unser Antrag macht unsere Vorstellungen von einem Gesetz deutlich, welches der Situation der betroffenen Menschen entspräche und zudem die Verfassungskonformität gewährleisten könnte: die voraussichtliche Aufenthaltsperspektive als maßgebliches Kriterium, die Rücknahme des Ausschlusses von Personen mit einer humanitären oder menschenrechtlichen AufenthaltserDiana Golze laubnis und eine genauere Bestimmung der Anspruchsberechtigung, die auch Geduldete und Asylbewerber durch eine Öffnungsklausel einschließen würde. ({1}) Ich komme zu einer zweiten Ungleichbehandlung aus politischem Kalkül. Es ist eine parlamentarische Ungehörigkeit, in das Gesetz zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss eine allgemein gültige Änderung des Kinderzuschlags nach Bundeskindergeldgesetz einzubauen. Im Familienausschuss stellte ein Mitglied einer die Regierung tragenden Fraktion sogar die Frage, ob diese Regelung dann nur für Ausländer gelten würde. Selbst wenn es so wäre, meine Damen und Herren von SPD, CDU und CSU, wäre es dann weniger schlimm? ({2}) Sie verstoßen damit auch gegen den im Koalitionsvertrag beschlossenen und durchaus lobenswerten Vorsatz, den Kinderzuschlag zu einem Instrument zu machen, das wirklich zur Bekämpfung von Kinderarmut beiträgt. Das komplizierte Regelwerk des Gesetzes führt bislang dazu, dass neun von zehn Anträgen abgelehnt werden. Wir können deshalb erst recht nicht nachvollziehen, warum die Antragsfrist von sechs Monaten auf nur einen Monat verkürzt werden soll. Ich frage deshalb: Was nutzt ein Kindergeldzuschlag, der den Betroffenen den Bezug von ALG II ersparen soll, aber unter denselben entwürdigenden Bedingungen bewilligt oder eher abgelehnt wird? Die Bundeskanzlerin hat erst gestern gesagt, dass sie mit der Gesundheitsreform Politik für die Versicherten machen möchte. Das ist längst überfällig. Genauso wichtig wäre es aber, Familienpolitik für Familien und Kinderpolitik für Kinder zu machen. Mit dem vorliegenden Gesetz hat sich die Bundesregierung wiederholt davon entfernt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bevölkerung beschwert sich sehr oft über die große Koalition. Es wird gesagt, es gehe in diesem Lande sehr langsam voran. Manchmal geht es aber sehr schnell voran, zum Beispiel wenn es darum geht, ausländische Familien in Deutschland schlechter zu stellen. Denn wie wir schon gehört haben, sieht eine in letzter Minute von den beiden die Regierung tragenden Fraktionen eingebrachte Änderung an dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, dass aus humanitären Gründen dauerhaft in Deutschland bleibeberechtigte Ausländer nur noch sehr eingeschränkt Familienleistungen erhalten sollen. Dabei sollte mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004 umgesetzt werden, in dem die Bundesregierung aufgefordert wurde, bis zum 1. Januar dieses Jahres den gegen den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 des Grundgesetzes verstoßenden und damit verfassungswidrigen Ausschluss erwerbstätiger Ausländer mit rechtmäßigem Aufenthalt vom Kinder- und Erziehungsgeld aufzuheben. Das Bundesverfassungsgericht hat mit deutlichen Worten festgestellt, dass die bestehenden Kindergeldregelungen ausländische Familien mit humanitärem Bleiberecht in nicht zu rechtfertigender Weise benachteiligen. Es beanstandete insbesondere, dass Ausländern mit einer Aufenthaltsbefugnis nach dem alten Ausländergesetz grundsätzlich keine Familienleistungen gewährt wurden. Dazu haben die Richter festgestellt - das ist auch logisch -, dass dieser Aufenthaltstitel nicht zwingend nur vorübergehender Art sei. Das Urteil wird aber - das muss man an dieser Stelle festhalten - von der Koalition nicht nur gnadenlos missachtet, sondern in geradezu obszöner Art und Weise im Sinn verdreht. Das ist skandalös. ({0}) - Wenn das Ihres Erachtens falsch ist, warum gehen Sie dann in Ihrer Begründung zum Gesetzentwurf mit keinem Wort darauf ein, dass Sie den Gesetzentwurf in letzter Minute geändert haben? Also stimmt es doch wohl und Sie verstoßen tatsächlich gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. ({1}) Von den Gesetzesänderungen werden nämlich genau diejenigen betroffen sein, auf die sich das Verfassungsgerichtsurteil bezogen hat, nämlich Ausländer mit Aufenthaltserlaubnis nach § 23 a des Aufenthaltsgesetzes - das wurde schon erwähnt - aufgrund einer positiven Entscheidung der Härtefallkommission. In diesen Fällen kann man wohl davon ausgehen, dass nicht erst nach drei Jahren, sondern von vornherein ein dauerhafter Aufenthalt angestrebt wird. Es ist völlig willkürlich und widersinnig, dass der Aufenthalt als vorübergehend betrachtet wird, wenn die Härtefallkommission nach langwierigen Entscheidungsprozessen die Aufenthaltserlaubnis nach § 23 a erteilt hat. ({2}) Des Weiteren sind Kriegsflüchtlinge nach § 24 betroffen sowie Personen mit menschenrechtlichem Abschiebeschutz nach der Europäischen Menschenrechtskonvention nach § 25 Abs. 3, Personen mit humanitärem Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 4 und Personen, denen die Rückkehr rechtlich oder tatsächlich dauerhaft unmöglich ist, nach Art. 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes. Das ganze Gesetz macht insofern im Prinzip keinen Sinn mehr. Das halten wir für skandalös. Wir meinen - da teilen wir die Auffassung der Linksfraktion und der FDP-Fraktion -, dass Flüchtlinge mit humanitärem Abschiebeschutz genauso einen Anspruch auf Familienleistungen haben wie andere Ausländer mit Arbeitsgenehmigung. ({3}) Wir halten den weitgehenden Ausschluss dieser Ausländergruppen von Familienleistungen für kinder-, familien- und insbesondere flüchtlingsfeindlich. Ich muss noch einen Aspekt ansprechen, weil die große Koalition ständig über die Verbesserung der Leistungen für Familien und über Integration diskutiert. Der angeblichen politischen Maßgabe der Koalition, Familien zu stärken und ihre Integrationsleistungen anzuerkennen und sie darin zu unterstützen, widerspricht der Gesetzentwurf eklatant. Aus diesem Grund stimmen wir ihm keinesfalls zu. Wir stimmen allerdings dem Entschließungsantrag der FDP-Fraktion zu. Bei dem Entschließungsantrag der Linksfraktion enthalten wir uns der Stimme, weil uns einige Details nicht passen. Den Gesetzentwurf der Bundesregierung halten wir für schlecht. Deshalb werden wir ihn ablehnen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss, Drucksache 16/1368. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2940, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3029? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. ({0}) Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3030? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Jürgen Trittin, Undine Kurth ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Schaden von der Reputation der Osteuropabank abwenden - Das Öl- und Gasprojekt Sachalin II als Lackmustest für die Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards - Drucksachen 16/1668, 16/2925 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Dr. Karl Addicks Ute Koczy Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion. ({3})

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über das Thema der Einhaltung von Umweltstandards auf internationaler Ebene haben wir hier schon etliche Male diskutiert. Es ist unbestritten ein wichtiges Thema. Umweltprobleme bleiben nicht nur auf das betreffende Land beschränkt, sondern wirken weit über die von Menschen gesetzten Grenzen hinaus. Deshalb reden wir heute wieder über ein solches Thema. Das Projekt „Sachalin II“ stand schon mehrfach auf der Tagesordnung. Das Ölförderprojekt „Sachalin I“ im Ochotskischen Meer ist bereits seit 1999 in Förderbetrieb. Zur besseren Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen sind durch die internationalen Investoren drei weitere Offshorebohrplattformen, Offshore- und Onshorepipelines, Verladeeinrichtungen und Terminals geplant. In der vorgesehenen 800 Kilometer langen Pipeline sollen Öl und Gas in Zukunft vom Norden in den Süden der Insel transportiert und in die Anivabucht, die fast das ganze Jahr eisfrei ist, verschifft werden. Bislang ist eine Ölförderung nur in den Sommermonaten möglich. Das wird sich durch die Pipelines ändern. Die für das Projekt mit einem Gesamtvolumen von 21,3 Milliarden US-Dollar notwendige Finanzierung soll über verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten sichergestellt werden, unter anderem möglicherweise durch einen Kredit in Höhe von 400 Millionen US-Dollar von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE. Ich wiederhole, um die Dimensionen zu verdeutlichen: Bei einem Gesamtvolumen von 21,3 Milliarden US-Dollar geht es um 400 Millionen US-Dollar Kredite von der EBWE. Es ist bekannt, dass die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung am sorgfältigsten die umweltpolitischen Risiken des Projekts prüft. Die Überprüfung wird auch von anderen Banken sowie selbstverständlich von Nichtregierungsorganisationen aufmerksam verfolgt. Unabhängig von der zu erwartenden Entscheidung ist von den Investoren bereits mit dem Bau eines ersten Sockels der neuen Ölplattform begonnen worden. Das Problem dieses Projekts besteht in den gravierenden Auswirkungen auf die natürlichen Lebensräume und die Artenvielfalt. Durch die Erschließung der Öl- und Gasvorkommen ist eine Verunreinigung des Meeresbodens mit Kohlenwasserstoff möglich, ja zu erwarten. Der durch die Kälte bedingte langsame Abbau führt insbesondere für die letzten westpazifischen Grauwale zu einer Bedrohung ihres Lebensraumes. Immer wieder haben Forscher und Nichtregierungsorganisationen auf die Bedrohung der Grauwale durch die Öl- und Gasförderung hingewiesen, und zwar durchaus erfolgreich. 2004 hat der Wissenschaftsausschuss der Internationalen Walfangkommission auf der 56. Tagung der IWC durch den maßgeblichen Einsatz der damaligen Bundesregierung - Frau Koczy, damals waren Sie noch nicht hier, aber es ist so gewesen - im Konsens eine Resolution verabschiedet, die alle Staaten auffordert, sich für den Schutz der westpazifischen Grauwale einzusetzen. Ebendiese Resolution wurde im letzten Jahr auf der 57. Tagung noch einmal von allen Staaten, also im Konsens, bekräftigt. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ist ihren eigenen Regeln zufolge verpflichtet, der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, vor einer Projektbeteiligung das Projekt zu kommentieren. Das ist auch geschehen. Die Anhörung ist erst am 21. April 2006 beendet worden. Nur dadurch - ich finde es sehr wichtig, dass die EBWE überhaupt eingebunden wurde - haben wir die Möglichkeit bekommen, auf die umweltpolitischen Rahmenbedingungen positiv Einfluss zu nehmen, und eine umfangreiche Beteiligung der Öffentlichkeit in Form einer Anhörung erreicht. Wir haben uns also in der vorherigen Regierung unter Rot-Grün, aber auch in dieser Koalition deutlich für die Einhaltung der Standards für eine umweltgerechte Durchführung des Projekts ausgesprochen. Mit unserem Antrag „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen“, den damals Frau Kollegin Rawert eingebracht hat und der am 7. September 2006, also gerade einmal vor sechs Wochen, hier im Plenum verabschiedet worden ist, haben wir uns ebenso deutlich dafür ausgesprochen, dass sich die Bundesregierung, die im Direktorium der EBWE vertreten ist, für die umweltgerechte Durchführung des Projekts „Sachalin II“ mit dem Ziel einzusetzen hat, Umweltschäden, insbesondere Schädigungen der akut bedrohten Grauwalpopulation und damit selbstverständlich auch der anderen Arten in diesem Gebiet, so weit wie irgend möglich zu vermeiden. Gleichzeitig haben wir hier die Bundesregierung aufgefordert, sich gegen eine Bewilligung des Finanzierungsantrags durch die EBWE auszusprechen, falls diese Anforderungen nicht erfüllt werden. Seit August 2006 prüft die russische Umweltbehörde, ob die Lizenz für das Sachalinprojekt zurückgezogen werden soll. So lange sieht die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung grundsätzlich von einer Förderung des Projekts ab. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen liebe Frau Koczy, wir fallen nicht hinter die Position der russischen Regierung zurück, wie Sie in Ihrer Erklärung zu dem Antrag am 7. September im Plenum behauptet haben. Das ist wirklich barer Unsinn. ({0}) Ihr Vorwurf, wir hätten die Dramatik der Lage nicht erkannt, läuft ebenso ins Leere. Hätten wir die Dramatik nicht erkannt, hätten wir uns nicht darum gekümmert. ({1}) Wäre dieses so, hätten wir gar keinen Antrag stellen müssen. Es ist wichtig, dass wir darauf Einfluss nehmen, so weit wie möglich Schäden für die Umwelt zu vermeiden. Wir sind in der Pflicht, dieses zu tun, wohl wahr. Wir halten uns aber an die international gültigen Sozialund Umweltstandards. Dafür haben wir die Bedingungen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, und diese sind auch unsere Messlatte. Wenn diese Standards nicht eingehalten werden, wird dieses Projekt nicht durch diese Bank finanziert. Das ist klar und deutlich unser Auftrag an die Bundesregierung gewesen. Deshalb hat unser Antrag nach wie vor seine Berechtigung und ich sehe nicht ein, dass wir gerade einmal sechs Wochen später wieder einen Antrag zu dem Thema verabschieden sollen. Sie hätten vor sechs Wochen die Möglichkeit gehabt, sich anzuschließen. Sie haben die Möglichkeit nicht wahrgenommen. Im Übrigen: Alle paar Wochen die Messlatte ein kleines bisschen höher zu legen, spricht nicht für die Sache, sondern zeugt eher von dem Versuch, in bestimmten Gruppierungen mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Ich halte fest: Die Forderungen eins und drei, die Sie in Ihrem Antrag stellen, entsprechen vollkommen der Haltung der Bundesregierung. Die Forderung vier hat sich mit Verabschiedung der neuen Energiepolitik der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung am 11. Juli 2006 erledigt. Das ist auch Ihnen bekannt. Der Forderung zwei können wir nicht entsprechen. Das liegt für uns in der Logik. Fazit: Wir lehnen Ihren heutigen Antrag ab. ({2}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks, FDPFraktion. ({0})

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen wollen also mit diesem Antrag hier einen Lackmustest durchführen. Sehr schön. Soll es denn blaues oder rotes Lackmuspapier sein? Ich vermute mal rotes, weil dann die Farbe so schön zu tiefdunkelgrün wechselt. ({0}) Sprich: Grün wäre also jetzt die Farbe des Widerstandes gegen dieses Projekt? Das hätte Ihnen natürlich auch ein bisschen früher einfallen können; denn nach meinen Informationen hat sich die EBWE noch in der rot-grünen Ägide mit 170 Millionen Dollar an der ersten Phase des Projekts beteiligt. Das grüne Gewissen kommt hier also leider ein bisschen spät -, ({1}) aber besser spät als nie. ({2}) - Genau. Wenn ich Ihren Antrag durchlese, wird mir nicht so ganz klar, was Sie eigentlich beabsichtigen: Wollen Sie den Ruf der EBWE retten? Das fänden wir sehr gut; dem würden wir uns glatt anschließen. Wollen Sie die Bevölkerung und die Umwelt der Insel Sachalin retten? Prima, dem würden wir uns ebenfalls anschließen. Wollen Sie vielleicht das ganze Projekt „Sachalin II“ stoppen? ({3}) Dem würden wir uns nicht so ganz anschließen. Wenn es Ihnen um die Osteuropabank geht: Vielen Dank, dass Sie um die Reputation dieser Bank so besorgt sind. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die EBWE sich an ihre eigenen Regeln hält - sehr richtig! Das unterstützen wir von ganzem Herzen, auch wenn Sie damit ein bisschen Ihre Klientel bedienen wollen. Wenn die Bank sich nicht an die von ihr selbst gesetzten Umwelt- und Sozialstandards hält, dann soll sie sich auch nicht mit Kreditvergaben in dieses Projekt einmischen - völlig richtig! Das gilt vor allen Dingen, wenn das ganze Kreditvolumen nur 1,5 Prozent des Gesamtvolumens beträgt. ({4}) Frau Groneberg, Sie haben gerade von einem Gesamtvolumen von 400 Millionen Euro gesprochen. Mir liegt die Zahl 300 Millionen Euro vor. Nach Adam Riese entspricht dies ganzen 1,5 Prozent. Aber wenn es Ihnen um die Bevölkerung von Sachalin und den Umweltschutz auf dieser Insel geht, dann muss ich Ihnen sagen: Dazu stehen in Ihrem Antrag leider keine harten Fakten. Ich zitiere: … die bereits erfolgten und kaum noch revidierbaren Verstöße von Shell, Mitsui und Mitsubishi gegen russische und internationale Umwelt- und Sozialnormen … Wovon sprechen Sie hier eigentlich genau? Warum nennen Sie nicht die Umweltkatastrophen, die dort stattgefunden haben sollen, beim Namen? Hat es wirklich so gravierende Auswirkungen gegeben oder sind das nur Ordnungswidrigkeiten? Ich finde Ihre Argumentation dort ein bisschen schwach. Aber es geht hier nicht so sehr um den Umweltaspekt, sondern mehr um die Reputation der EBWE. Nach der Lektüre Ihres Antrags habe ich den Eindruck bekommen, dass Sie das ganze Projekt am Ende wirklich stoppen wollen. Mittlerweile ist dieser Fall beinahe eingetreten: Die Russen haben dem Konsortium die Lizenz entzogen. Sie begründen ihren Einspruch mit Verstößen gegen russische Umweltauflagen. Man höre und staune und werfe auch einmal einen Blick auf die derzeitigen russischen Produktionsanlagen und deren Umweltschutz - ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Mir drängen sich da wirklich Assoziationen in Richtung Gasprom auf. Der Ölpreis ist inzwischen ein wenig gestiegen und daher möchte Gasprom natürlich gern einen Fuß in die Tür setzen. Da die Gespräche nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt haben, haben die Russen einfach andere Wege gewählt. Aber das will ich Ihnen nicht vorwerfen. Das ginge jetzt zu weit. Wollen Sie wirklich, dass dieses Projekt gestoppt wird? Es ist mittlerweile zu 70 Prozent fertig gestellt. Ich weiß nicht, ob es für die Umwelt so gut ist, wenn in Sachalin eine Investitionsruine steht. Gerade in diesen Zeiten wird das Erdöl sehr dringend gebraucht. Das Erdölvorkommen dort ist eines der größten, die in jüngster Zeit weltweit entdeckt worden sind. Wir steuern auf eine internationale Energieknappheit zu. Wir könnten diese Energie eigentlich ganz gut gebrauchen. Ich weiß wirklich nicht, ob die Welt es sich leisten kann, auf diese Vorräte einfach so zu verzichten. Das sind zwar wieder fossile Energien - richtig! - mit Auswirkungen auf das Klima; aber über eine vernünftige Nutzung der Atomkraft können wir mit Ihnen ja leider nicht reden. ({5}) Natürlich muss dieses Projekt mit Rücksicht auf die Umwelt gefördert werden. Aber man sollte bitte nicht gleich alles stoppen. ({6}) Zurück zu Ihrem Antrag. Ihre letzten Forderungen haben mit Sachalin II im Grunde überhaupt nichts mehr zu tun. Da propagieren Sie eigentlich nur Ihren Ökokolonialismus. Da ist die Rede von Energieeffizienz und von der Förderung erneuerbarer Energien. Prima, das finden wir ebenfalls alles gut. Aber warum soll das jetzt auf einmal wieder mit einem Verzicht auf die Wasserkraft einhergehen? Für mich ist Wasserkraft nach wie vor eine der saubersten Energien. Leider ist Ihr Antrag nicht so schlüssig, wie wir uns das wünschen. Es scheint mir im Grunde ein Gefälligkeitsantrag für Ihre Klientel zu sein. Das können wir leider nicht mitmachen. Deshalb werden wir uns hier enthalten. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Öl- und Gasprojekt „Sachalin II“ befindet sich zweifellos in einem ökologisch besonders empfindlichen subarktischen Gebiet. Aufgrund der Größenordnung des Projektes sind die Auswirkungen auf die Umwelt besonders nachhaltig zu prüfen. Dies war Grund für die CDU/CSU und die SPD, den Antrag vom 5. September dieses Jahres zu formulieren, den Sie kennen. Er steht unter der Überschrift „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen“. Das ist im Grunde nichts anderes als ein Pars pro Toto; denn „Schutz der Grauwale“ bedeutet auch Schutz von Fauna und Flora in der Anivabucht, Schutz der Lachse und der Fischerei sowie Schutz der Menschen. 30 Prozent der Menschen dort leben vom Lachsfang; das ist also auch entwicklungspolitisch relevant. Wir wollen die umwelt- und entwicklungspolitischen Fragen nicht vernachlässigen. Deshalb haben wir den vorliegenden Antrag formuliert. Wir meinen, dass damit aber das Notwendige gesagt ist. Meine Damen und Herren, vorhin wurde angesprochen, dass die Russen dem Projekt „Sachalin II“ die Unbedenklichkeitserklärung in Bezug auf die Umwelt entzogen haben. Wir könnten uns eigentlich zurücklehnen und sagen: Endlich haben es die Russen erkannt. - Aber, meine Damen und Herren, man muss sich schon fragen, ob dies ein Zeichen für eine neue umweltpolitische Sensibilität in der russischen Politik ist. Wenn man sich zum Beispiel anschaut, wie marode das Pipelinenetz ist, das die Russen betreiben, wenn man sich vor Augen führt, dass sie Geld nur in Neubauten stecken, die alten Leitungen aber nur notdürftig repariert werden und große Mengen Rohöl im Boden versickern, dann kommen einem schon Zweifel, wie sie der Kollege Addicks vorhin formuliert hat. Dass es nicht um Umweltmotive, sondern um die Motive Macht und Geld geht, liegt aus meiner Sicht relativ nahe. Nun kann man sich die Frage stellen, warum die Russen erst jetzt, drei Jahre nachdem die Unbedenklichkeitserklärung erteilt worden ist, darauf kommen, diese wieder zurückzuziehen. Ich behaupte, das Vorgehen liegt im Kontext der neuen russischen Rohstoffpolitik oder - vielleicht besser - Machtpolitik. Schauen Sie sich das an: Liquidierung des Yukos-Konzerns, Gaskrieg mit der Ukraine, und jetzt scheinen die Konzerne Shell, Mitsui und Mitsubishi als derzeit maßgebliche Träger des „Sachalin II“-Projektes an der Reihe zu sein. Dafür gibt es verschiedene Belege, zum einen den Zeitpunkt. Kurz bevor die Verhandlungen über die Beteiligung von Gasprom an Sachalin II gescheitert sind, wird die Unbedenklichkeitserklärung kassiert. Zum anderen gibt es Belege wie Aussagen des russischen Rohstoffministers, der unverhohlen sagt, Sachalin II sei für Russland zu wenig vorteilhaft. Schaut man sich die Verträge an, so merkt man in der Tat, dass sie in den 90er-Jahren, als Russland sich noch in einer anderen wirtschaftlichen Situation und einer anderen politischen Verfassung befunden hat, so gestrickt worden sind, dass die Konzerne im Prä sind und Russland erst dann an dem beteiligt wird, was aus dem Boden gefördert wird, wenn die Konzerne ihre Investitionen zurückverdient haben. Ein Berater Putins soll sogar gesagt haben, es sei wünschenswert, dass das Projekt „Sachalin“ in nationale Projekte umgewandelt wird. Nun werden Sie sich wahrscheinlich fragen, warum ich das im Zusammenhang mit dem Antrag der Grünen erzähle. Meine Damen und Herren von den Grünen, glauben Sie ernsthaft, dass dann, wenn sich die Osteuropabank nicht mit 300 oder 400 Millionen Euro an diesem Projekt beteiligt, das, was dort auf Sachalin in Grund und Boden steckt, nicht ausgebeutet wird? ({0}) Angesichts des Energiehungers dieser Welt, angesichts des Bedarfs, der sich in den Schwellenländern plötzlich entwickelt, ist es völlig unwahrscheinlich, dass die Rohstoffe ohne Zutun dieser Bank nicht ausgebeutet würden. Wir müssen uns doch auch fragen, wie wir damit umgehen sollen. Ist es nicht sinnvoller, dass wir uns - natürlich unter Einhaltung von Umweltstandards, natürlich unter Einhaltung von Auflagen - an diesem Projekt beteiligen, auf die von Ihnen angesprochene Signalwirkung hoffen und darauf setzen, dass sich dort tatsächlich etwas bewegt und wir beides, nämlich die Gewinnung von Rohstoffen auf der einen Seite und den Schutz der Umwelt in dieser Region auf der anderen Seite, in Einklang bringen können? Den Russen muss man natürlich auch sagen, dass sie sich bei dem, was sie politisch tun, schon überlegen müssen, ob sie nicht anfangen sollten, ihre Vertrauenswürdigkeit Investoren gegenüber unter Beweis zu stellen und ihr Verhältnis zu Japan zu hinterfragen, mit dem es noch immer keinen Friedensvertrag gibt. Das sind Dinge, die man in diesem Zusammenhang vielleicht einmal ganz offen ansprechen sollte. ({1}) Allerdings muss sich auch Shell vorhalten lassen, das Projekt ohne Umweltverträglichkeitsanalyse begonnen zu haben. ({2}) Von einem internationalen Konzern wie Shell muss man in diesem Punkt etwas mehr Sensibilität verlangen können. ({3}) Der Maßstab für die Beurteilung von Sachalin II muss ein materieller und darf eben kein formaler sein. Deshalb sagen wir ganz offen: Die Bundesregierung und die EBWE können zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht entscheiden, wie man mit dem Projekt umgeht. Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung zu Nummer vier Ihrer Forderungen machen, und zwar unabhängig von der Tatsache, dass sich das aufgrund des Zeitablaufs schon erledigt hat. Wir reden über die Frage, wie es energiepolitisch mit der Ausbeutung von fossilen Rohstoffen weitergeht. Sie wollen weg von der Kernenergie. Sie wollen auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern CO2-schonend Energie produzieren. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass Entwicklungs- und Schwellenländer Zugang zu Energie haben; denn das ist ein ganz besonderes entwicklungspolitisches Thema. Wenn man das so sieht, dann darf man aber nicht Vorschriften machen, die sich widersprechen. Was machen Sie? Sie fordern die Nutzung von erneuerbaren Energien, nehmen aber die Große Wasserkraft aus, weil Sie den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht das zugestehen wollen, was andere schon lange tun. Aber irgendwie, meine Damen und Herren, müssen wir doch den Energiebedarf decken! Wenn nicht über die Große Wasserkraft, nicht über die Kernenergie und natürlich - denn im Kern wollen Sie ja letztlich das „Sachalin II“-Projekt stoppen - auch nicht über die fossilen Brennstoffe, wie denn dann? Diese Frage müssen Sie beantworten. Der Zugang zu Energie ist - ich glaube, meine Damen und Herren, da sind wir uns einig - Voraussetzung für den Wohlstand, den wir nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern schaffen wollen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin, Fraktion Die Linke. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sachalin II ist eines der größten Öl- und Gasförderprojekte der Welt. Das haben meine Vorredner bereits erwähnt. Am Anfang des Jahres verkündete das Konsortium Sakhalin Energy, dass sich die Umsetzung des Projektes in die Länge ziehen würde. Die Kosten würden von 12 Milliarden auf 20 Milliarden US-Dollar steigen. Nun soll die Osteuropabank einspringen und Kredite in Höhe von bis zu 400 Millionen Euro gewähren. Wir fordern die Bundesregierung auf - und da sind wir uns mit den Antragstellern einig -: Lehnen Sie diesen Kreditantrag im Direktorium der Bank ab! Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Das Projekt hat bereits vor seiner Fertigstellung die Anivabucht auf der Insel Sachalin buchstäblich verseucht. Die Pipeline quer über die Insel hat ebenfalls schwere Umweltschäden verursacht. Sie wurde unter Verstoß gegen russische und auch internationale Umwelt- und Sozialnormen verlegt. Das Betreiberkonsortium hat es nicht einmal für nötig erachtet, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzulegen. Durch eine Zustimmung zur Kreditvergabe würde sich die Bundesregierung direkt mitschuldig machen, ({0}) mitschuldig an der kriminellen Umweltzerstörung in einer der verbliebenen urwüchsigen Naturlandschaften der Welt. Hauptaktionär des Projektes „Sachalin II“ ist der Energiekonzern Shell. Der Konzern gebärdet sich wie ein Wiederholungstäter. In der Anivabucht vor Sachalin wiederholt sich eine Umweltkatastrophe, wie wir sie bereits aus dem Nigerdelta kennen. Auch dort vergiftet die Ölförderung unter Verantwortung von Shell die Lebensgrundlagen von Mensch und Natur. Nun traf sich der Shell-Vorstand am vergangenen Wochenende mit dem russischen Minister für Bodenschätze, Juri Trutnev. Nach dem Treffen erklärte nicht nur Shell vor der Presse, alle Umweltprobleme seien beseitigt; nein, auch Herr Trutnev schlug plötzlich versöhnliche Töne an. Es hieß, der von der russischen Regierung erwogene Stopp von Sachalin II sei hinfällig, wenn Shell einen neuen Plan vorlege. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Ein neues Papier wird die Vernichtung der unschätzbaren Natur auf Sachalin nicht rückgängig machen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass sich die russische Regierung mit dem Shell-Vorstand weniger über Grauwale und Wiederaufforstung als vielmehr über die Konditionen bei der Ausbeutung des Öl- und Gasfeldes unterhalten hat. ({1}) Eine bloße Neuverteilung der zu erwartenden Gewinne aus der Ölförderung zwischen Staat und Konsortium kann kein Kriterium für eine positive Neubewertung des Projekts sein. ({2}) Ich bin mir sicher, dass Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsparteien, das genauso sehen. Warum wollen Sie diesem Antrag dann aber nicht zustimmen? Die deutsche Öffentlichkeit hat noch gut in Erinnerung, wie Gerhard Schröder direkt aus dem Kanzleramt in den Aufsichtsrat des Betreiberkonsortiums für die Ostseepipeline wechselte. ({3}) Wie weit wollen Sie, liebe SPD-Kolleginnen und Kollegen, diesen Weg der unkritischen Begleitung der russischen Regierungspolitik noch mitgehen? Man mag ja kaum seinen Ohren trauen, wenn Altkanzler Schröder den russischen Präsidenten Putin dafür lobt, dass er Russland - ich zitiere - „auf den demokratischen Weg führt“. Das war am 6. Oktober. Einen Tag später wurde in diesem Land die kremlkritische Journalistin Anna Politkowskaja erschossen, ({4}) jene Journalistin, die von Putin im Fernsehen unverblümt als Feindin des Volkes bezeichnet wurde. Ein Zufall? Die Regierungsparteien ziehen sich darauf zurück, dass bereits ein Antrag zum Schutz der Grauwale vor der Insel verabschiedet worden sei. Ich frage mich: Warum spricht das gegen den vorliegenden Antrag? ({5}) Hier geht es um die Kreditvergabepolitik der Osteuropabank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, schauen Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. - Jetzt, wo ein Antrag eine konkrete Bedeutung zum Schutz der Natur vor der russischen Ostküste hat, ziehen Sie sich feige zurück. Ich glaube, hier sollten Sie Mut aufbringen und dem Antrag zustimmen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser grüner Antrag will dafür sorgen, dass das Unterlaufen von Standards in der Öl- und Gasproduktion durch den Konzern Shell in Russland nicht noch durch deutsche Politik unterstützt wird. Wir stehen aktuell vor einer Entscheidung der Osteuropabank. Auch in Russland wird darüber diskutiert. Der aktuelle Anlass ist also gegeben. Wir kennen natürlich die Position der Regierungsfraktionen und auch den Antrag, der da heißt „Die weltweit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen“, den die Koalitionsfraktionen am 5. September eingebracht haben, aber leider nicht diskutierten; es gab keine Aussprache dazu. ({0}) Wir wissen, dass der Antrag vor der Sommerpause zurückgezogen wurde. Deshalb ist es wichtig, diesen Punkt hier zu benennen und zu diskutieren. ({1}) Frau Groneberg, es ist tatsächlich so: Die Umweltschäden vor Ort sind enorm. Sie haben in Ihrem Antrag diese Situation und auch die sozialen Folgen für die Menschen dort ausgeblendet. ({2}) Deswegen konnten wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Dieser Antrag, der zu Recht die weltweit letzten lebenden Grauwale schützen will, verweigert sich damit der Erkenntnis, in welchem Zusammenhang die Ausbeutung der Rohstoffe steht. Ich finde, Sie haben eine große Chance vertan. Die Osteuropabank, die jetzt über einen Kredit für Sachalin II entscheidet, ist eine angesehene internationale Entwicklungsbank. Deutschlands Stimme in ihrem Direktorengremium hat beträchtlichen Einfluss auf die Vergabeentscheidungen der Bank. Deutschland hat damit die besondere Verantwortung, dass zum einen der Ruf der Osteuropabank, zum anderen aber auch internationale Standards nicht beschädigt werden. Beides riskieren wir, wenn dieses Haus unserem Antrag nicht zustimmt. Sakhalin Energy als Förderkonsortium bei Sachalin II hat eine unglaubliche Liste von Verstößen gegen internationale Umwelt- und Sozialstandards produziert. Wenn die Osteuropabank ihre eigenen Standards ernst nimmt, dann darf das Konsortium diesen Kredit nicht bekommen. Frau Groneberg und Herr Addicks, Sie haben hier abgewiegelt und gesagt, es gehe um die 400 Millionen Euro im Vergleich zu der Gesamtsumme. Es geht aber nicht um das Geld, sondern darum, ob die Osteuropabank ein Gütesiegel für die Ausbeutung auf Sachalin - unter den katastrophalen Umweltbedingungen, die dort herrschen - gibt. Dieses Gütesiegel verweigern wir. ({3}) Es gibt Proteste vor Ort und eine breite Bewegung gegen das Projekt und gegen die finanzielle Unterstützung des Projekts durch die Osteuropabank. Die Bank muss wissen: Mit einer Kreditvergabe würde ein starkes Signal der Aufweichung internationaler Standards an andere Banken und Ressourcenprojekte ausgesendet. ({4}) Dabei ist es eigentlich Aufgabe der Bank, ehrgeizige Umwelt- und Sozialstandards nach Osteuropa zu vermitteln. Die Bank muss jetzt umsteuern und sich auf die Förderung von regenerativen Energien und Energieeffizienz konzentrieren. Welchen Sinn macht es, die knappen Mittel der Entwicklungsbank in Zeiten akuten Klimawandels in riesige Ölprojekte zu stecken, für die es ohnehin ausreichend Kreditfinanzierung gibt? ({5}) Die Osteuropabank braucht das Geld nicht; sie muss dieses Gütesiegel nicht geben. ({6}) Was wir brauchen, ist ein klares Nein zur Kreditvergabe durch die Osteuropabank an Sachalin II. ({7}) Derzeit geht die russische Regierung gegen Sakhalin Energy wegen seiner Umweltvergehen vor; das wurde auch schon erwähnt. Ich meine, man muss auch darauf hinweisen, dass es dabei nicht nur darum geht, die Ökologie zu schützen. Machtpolitische Motive sind mindestens genauso wichtig. Ich will Sie zum Abschluss meiner Rede auch noch darüber informieren, dass es die mutige russische Umweltaufsicht sehr schwer hat. Gestern haben Einheiten der russischen Kriminalpolizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft die Büros der Behörde durchsucht. Dabei haben sie Dokumente über das von der Umweltaufsicht eingeleitete Umweltaufsichtsverfahren gegen Sakhalin Energy und andere Ölunternehmungen konfisziert. Da findet gerade ein Machtkampf statt. Ich bin der Meinung, wir sollten uns daran nicht beteiligen. Stimmen Sie unserem Antrag zu; sagen Sie Nein zur Kreditvergabe an Sachalin II. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/2925 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Schaden von der Reputation der Osteuropabank abwenden - Das Öl- und Gasprojekt Sachalin II als Lackmustest für die Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1668 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Grünen und der Fraktion der Linken sowie Enthaltung der FDP angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und diese jetzt sofort als Zusatzpunkt 15 ohne Aussprache aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe daher den Zusatzpunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 16/3043 - Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 16/3043, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- genommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Drucksachen 16/2711, 16/2753 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - Drucksache 16/3005 - Berichterstattung: Abgeordneter Markus Kurth b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({2}) - Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Für ein menschenwürdiges Existenzminimum - zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Das Existenzminimum sichern - Sozialhilferegelsätze neu berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten - zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard ScheweVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln - Das Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinderungen ermöglichen - Drucksachen 16/2743, 16/2750, 16/2751, 16/3005 Berichterstattung: Abgeordneter Markus Kurth Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde, FDP-Fraktion. ({4})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt wieder einmal, dass hinter den Kulissen der Koalition mit heißer Nadel Gesetzesänderungen gestrickt werden, die wir im Parlament nach kurzer Diskussion verabschieden sollen. ({0}) Immerhin wurden auch drei Punkte, die die FDP in die Beratung zu den Gesetzesänderungen eingebracht hat, von der Koalition übernommen. Wir begrüßen als FDP den Bürokratieabbau bei der Frage der bisher jährlichen Festlegung der Höhe der monatlichen Regelsätze durch Verordnung der Landesregierungen. ({1}) Zukünftig müssen die Landesregierungen nur noch eine neue Verordnung erlassen, wenn sich die Regelsätze auch wirklich ändern. ({2}) Auch die Erweiterung der Gewährung von Darlehen an Leistungsberechtigte bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung halten wir für richtig. Besonders hervorzuheben ist die Beibehaltung des Bruttoprinzips in § 92 SGB XII. Noch am 22. September 2006 hatte die Bundesregierung, Herr Staatssekretär Thönnes, auf meine Frage hin bestätigt, dass sie die Befürchtungen der Sozialverbände bei der Einführung des Nettoprinzips bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen nicht teilt. Die Anhörung am Montag in Berlin hat aber aus meiner Sicht ganz klar ergeben, dass es notwendig ist, beim Bruttoprinzip zu bleiben, ({3}) um Menschen mit Behinderungen finanzielle Leistungen aus einer Hand anzubieten. Wir freuen uns als FDP heute also über die Einsicht der Bundesregierung und der Koalition in diesem wichtigen Punkt. ({4}) Bei der anstehenden Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in Zusammenarbeit mit den Kommunen und den Ländern wollen einige Abgeordnete der Koalition aber schon in naher Zukunft wieder über die Einführung des Nettoprinzips diskutieren. Aus Sicht der Sozialverbände kann hier also noch keine endgültige Entwarnung erfolgen. Aber die Liberalen stehen hier klar an der Seite der Verbände und der Betroffenen. Wir werden hier wachsam bleiben. ({5}) Nun komme ich zu einigen Punkten im vorliegenden Gesetzentwurf, welche die Liberalen gemeinsam mit den Bundesländern gerne verbessert hätten. Zum Beispiel haben wir im Ausschuss gefordert, dass EU-Bürger, die nach Deutschland ziehen, frühestens nach Ablauf von drei Monaten leistungsberechtigt sind. Gerade als Betriebsrat bin ich für Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Europa und für die soziale Absicherung dieser Freizügigkeit. Aber einem Zuzug in unsere Sozialsysteme müssen wir entgegenwirken. ({6}) Auch hätten wir uns eine gesetzliche Klarstellung gewünscht, um die Zuständigkeit für Wohnungsbeschaffungskosten, Umzugskosten und Kautionen eindeutig festzulegen. Beim SGB II hatten wir erst im Sommer eine entsprechende Klarstellung beschlossen. Warum wollen Sie dies nicht auch im SGB XII regeln? Als Drittes möchte ich an dieser Stelle die Aufhebung der Verortung der Schiedsstellen bei den Landesbehörden kritisieren. Im Zuge der zunehmenden Kommunalisierung könnte die Änderung des § 80 SGB XII von den Bundesländern dazu genutzt werden, die Schiedsstellen bei den Landkreisen zu verorten. Damit könnte der öffentliche Rechtsträger zum einen potenzielle Partei eines Schiedsstellenverfahrens sein und zum anderen für den Aufbau und die Organisation der Schiedsstelle zuständig sein. Selbst wenn die Schiedsstellen bei den in einigen Bundesländern bestehenden Landeswohlfahrtsverbänden angesiedelt würden, entstünden ähnliche Verwerfungen, wenn die Landeswohlfahrtsverbände von den Landkreisen getragen werden. Der Nutzen für die Menschen in Einrichtungen erschließt sich mir nicht. Wir hätten die Schiedsstellen lieber weiter bei den Landesbehörden gesehen und fordern daher, den § 80 nicht zu ändern. ({7}) Leider haben Union und SPD alle diese weitergehenden Vorschläge im Ausschuss abgelehnt. Des Weiteren kritisieren wir, dass wir mittlerweile eine Regelsatzbemessung nach Kassenlage haben. ({8}) Wir haben weiterhin die starke Vermutung, dass bei der Veränderung der Parameter für die EVS 2003, also die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, so lange an den Parametern gedreht wurde, bis das gewünschte Ergebnis von circa 345 Euro errechnet werden konnte. ({9}) - Das ist eine Vermutung, meine Damen und Herren. Hier fordern wir künftig mehr Nachvollziehbarkeit und eine Ausrichtung des Regelsatzes an objektiven Kriterien wie dem Preisniveau. ({10}) - Heute keine Zwischenfragen! Zudem sollten die Anrechnungsregeln für den Hinzuverdienst für SGB-XII-Empfänger nicht gegenüber dem heute geltenden Recht verschlechtert werden. Der Anreiz zu Aktivität und Arbeit bei den Leistungsempfängern würde vermindert. Hier widersprechen die Liberalen mit Nachdruck. Alles in allem frage ich mich, warum Sie ausgerechnet jetzt den Vorstoß zu einer so weit gehenden Änderung des SGB XII gemacht haben. Sie flicken und doktern an der Eingliederungshilfe herum, obwohl Sie doch andere Pläne hatten. Ich darf Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, an Ihren Koalitionsvertrag erinnern.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion?

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Heute nicht, Herr Kollege. ({0}) Im Koalitionsvertrag heißt es wörtlich: Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den Verbänden behinderter Menschen werden wir die Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die Umsetzung der Einführung des Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert. Beinahe hätten Sie die finanzielle Leistungserbringung aus einer Hand gekippt. Jetzt wird es endlich Zeit, Ihre Pläne mit den Betroffenen zu diskutieren. ({1}) Für heute ist nach unserer Bewertung die ursprüngliche Gesetzesvorlage durch die Änderungsanträge der Koalition zwar verbessert worden, aber unter dem Strich können wir als FDP-Fraktion aus den zuletzt genannten Gründen dem SGB-XII-Änderungsgesetz nicht zustimmen und lehnen es daher ab. Für unseren Entschließungsantrag bitten wir dagegen um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun dem Kollegen Peter Weiß.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rohde! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich befürchte, dass die ungeheuerliche Behauptung, die Sie zum Regelsatz in der Sozialhilfe nach dem SGB XII aufgestellt haben, nachher von einer anderen Fraktion wiederholt wird, mit der Sie sonst nicht so gern koalieren. Es war 1989 ein großer Fortschritt, der damals von der gesamten Fachwelt und auch den Wohlfahrtsverbänden begrüßt worden ist, dass wir den Warenkorb abgeschafft haben und dazu übergegangen sind, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes bei den unteren 20 Prozent der in Deutschland erhobenen Einkommen zur Grundlage des Regelsatzes in der Sozialhilfe zu machen, und damit zu einem Verfahren gekommen sind, das auf statistisch einwandfreien Daten basiert und auf das die Politik und andere keinen Einfluss nehmen können. Ich möchte es noch einmal betonen: Es ist richtig, dass sich die Bundesregierung bei der Regelsatzverordnung an diese Einkommens- und Verbrauchsstichprobe hält; denn dadurch wird das tatsächlich ermittelte Verbrauchsverhalten der Schicht der unteren 20 Prozent der Einkommen in Deutschland zur Grundlage des Regelsatzes. Wer dieses Verfahren in der Art und Weise verdächtigt, wie Sie es getan haben, betreibt nicht Sozialpolitik, sondern macht eine Rückwärtsrolle in Sachen Sozialpolitik. Dagegen sollten wir uns entschieden wehren. Ich behaupte: Das Statistische Bundesamt lügt nicht. Wenn Sie hier eine solche Behauptung aufstellen, dann beweisen Sie auch auf Punkt und Komma, wo Sie meinen, dass unsere Statistiker lügen und eine falsche Berechnung vorgenommen haben. Ich behaupte: Die EVS ist richtig. Sie sollte auch in Zukunft angewandt werden. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zur Erwiderung Herr Rohde, bitte.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weiß, wir hatten vor zwei Wochen zum gleichen Thema und fast zur gleichen Stunde genau die gleiche Auseinandersetzung. Ich habe damals gesagt: Ich vermute es. Das ist keine Behauptung, sondern das ist eine Vermutung von mir persönlich. Aber die Nachvollziehbarkeit ist insofern gegeben, weil 1998 bei der letzten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ein Satz errechnet wurde, von dem dann aus politischen Gründen abgewichen wurde. Den Leuten wurde etwas mehr gegeben. ({0}) Diesmal kam bei der Berechnung exakt der Betrag heraus, der bisher gezahlt wurde. Das nährt meine Vermutung, dass aus politischen Gründen ein bisschen an den Parametern gedreht wird. Das ist nur eine Vermutung. Es ist völlig richtig: Ich habe keine Beweise dafür. Aber ich bleibe bei meiner Vermutung. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine ganz interessante Erfahrung, wenn man sieht, dass sich FDP und CDU/CSU hier einmal streiten. Wir haben heute Mittag über Armut in Deutschland diskutiert. Jetzt handeln wir. Wir erhöhen nicht nur die Sozialhilfe in Ostdeutschland, sondern schaffen auch die gesetzliche Grundlage zur Verbesserung der finanziellen Situation von Menschen in stationären Einrichtungen. Ich spreche von der Anhebung des Barbetrages und der damit verbundenen bundesweiten Wiedereinführung der Weihnachtsbeihilfe. Fast ein Jahr lang hing sie in der Luft. Jetzt machen wir den Weg für die Weihnachtsbeihilfe frei, und zwar rückwirkend für dieses Jahr. Im Zuge der Reform des Bundessozialhilfegesetzes und der damit verbundenen Umstellung auf Pauschalierung der Sozialhilfe in 2003 ist die gesetzliche Verpflichtung der Länder zur Zahlung von Einmalleistungen zu besonderen Anlässen - ehemals § 21 BSHG - weggefallen. Das hatte zur Folge, dass im letzten Jahr nur noch sieben Bundesländer die Weihnachtsbeihilfe als freiwillige Leistung gezahlt haben. Nun muss man natürlich die schwierige Finanzsituation der Länder vor Augen haben. Ich bin mir jedoch sicher, dass die Streichung der Weihnachtsbeihilfe von gerade einmal 36 Euro pro Leistungsbezieher und Jahr kein echter Sanierungsbeitrag für die Länderhaushalte sein kann. ({0}) Aus meiner Sicht haben diese Einsparungen aber zu einer nicht zu vertretenden sozialen Härte geführt. Wer im Heim und von Sozialhilfe lebt, gehört zu den bedürftigsten Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sind natürlich mit dem Nötigsten versorgt; für ihren persönlichen Bedarf steht ihnen aber lediglich ein Barbetrag von knapp 90 Euro im Monat zur Verfügung. Das ist wenig. Wenn dann noch die Weihnachtsbeihilfe in Höhe von 36 Euro wegfällt, dann ist das viel. Im Rahmen der Föderalismusreform haben wir heftig über die Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen diskutiert. Der Umgang mit der Weihnachtsbeihilfe ist für mich ein deutliches Beispiel dafür, dass wir die soziale Sicherung der Menschen in unserem Land nicht aus der Zuständigkeit des Bundes entlassen dürfen. ({1}) Deshalb lehnen wir die im FDP-Antrag vorgeschlagene Regionalisierung der Sozialhilferegelsätze entschieden ab. ({2}) Bleiben wir bei der FDP. Zugegeben, ich war überrascht, als ich in Ihren Änderungsvorschlägen die Forderung nach einer Heraufsetzung des Barbetrages für Heimbewohner um gleich 2 Prozentpunkte gefunden habe. Wir haben uns mit der Union im Hinblick auf die schwierige Verhandlungssituation mit den Ländern, die dem Gesetz ja auch zustimmen müssen, auf 1 Prozentpunkt geeinigt. Ich habe mich gefragt: Seit wann hat die FDP ein so ausgeprägtes soziales Gewissen, dass sie gleich 2 Prozentpunkte mehr fordert? In der letzten Ausschusssitzung haben Sie die Welt dann aber wieder gerade gerückt, Herr Kollege Rohde, als Sie sagten, dass natürlich die von Ihnen gewünschte Heraufsetzung des Barbetrages an die Unterstützung der Kompensationsforderungen der Länder geknüpft sei. Diese Forderungen haben es in sich. Die Länder bieten rund 30 Millionen Euro und wollen den Heimbewohnern durch Streichung anderer Leistungen im Gegenzug mehr als 150 Millionen Euro entziehen. Das ist ein schlechtes Geschäft. Herr Kollege Rohde, wir werden ein solches Geschäft zulasten der Heimbewohner auf keinen Fall mitmachen. ({3}) Man ist in der Politik vor Überraschungen nicht sicher. Während sich die FDP auf den ersten Blick für eine Besserstellung der Sozialhilfe beziehenden Menschen in Heimen einsetzt, schweigt die Linkspartei zu diesem wichtigen Thema. Kein Änderungsantrag weit und breit. Sie setzt sich allerdings für eine Aufstockung des Regelsatzes auf 420 Euro ein. Diese Maßnahme würde rund 10 Milliarden Euro kosten; denn der Regelsatz ist auch Grundlage für das Arbeitslosengeld II und für die Berechnung des steuerlichen Existenzminimums. Die zusätzliche Belastung wäre aber nicht ausschließlich vom Bund, sondern insbesondere von den Ländern und Kommunen zu tragen. Wie Ihre Forderung bei der angespannten Lage der öffentlichen Kassen umgesetzt werden soll, bleibt im Nebel. Es ist auch fraglich, ob die Aufstockung von Transferleistungen für alle Betroffenen der richtige Weg ist. Ich denke an die rund 1 Million Menschen, die trotz Arbeit Grundsicherung beziehen. Eine neue Studie der Hans-Böckler-Stiftung kommt zu dem Schluss, dass die tatsächliche Zahl der Leistungsberechtigten weit höher liegt. Es wäre ein falscher Weg, den Niedriglohnsektor durch eine Aufstockung der Grundsicherung noch stärker zu subventionieren. Diese Menschen brauchen keine höheren Transferleistungen, sondern Arbeit, von der sie leben können. ({4}) Dazu gehören ordentliche Lohnabschlüsse und ein Mindestlohn, der den freien Fall nach unten begrenzt. Höhere Transferleistungen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sind nicht immer das Allheilmittel. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun erneut der Kollege Rohde.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich möchte Sie nur leicht korrigieren. Sie haben Recht: Wir haben den Änderungsantrag, in dem wir eine Erhöhung von 26 auf 28 Prozentpunkte fordern, eingebracht. Im Ausschuss haben wir gefordert, die Mittel in genau diesem Umfang zu kompensieren. Aufgrund der Ergebnisse der Diskussion im Ausschuss würde ich diesen Betrag mit circa 26 Millionen Euro beziffern. Wir haben im Ausschuss nicht erklärt, wie wir dies kompensieren wollen. ({0}) Die Diskussion darüber haben wir noch nicht abgeschlossen. Wir wünschen uns eine Kompensation. Zu den Länderforderungen haben wir uns nicht geäußert.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr, Frau Kollegin, zur Erwiderung.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rohde, danke für Ihre Darstellung. Sie bringt uns allerdings nicht viel weiter. Es ist eigentlich egal, für welche Kompensationsforderung Sie sich einsetzen. Sie haben im Ausschuss und auch jetzt betont, dass Sie eine Aufstockung des Barbetrages in Höhe von 2 Prozentpunkten nicht ohne Kompensation wollen. Also unterstützen Sie die Länder in ihrer - ich würde einmal sagen - etwas unsozialen Herangehensweise im Umgang mit der Heraufsetzung des Barbetrages. Die Länder fordern im Gegenzug Einsparungen in Höhe von 150 Millionen Euro. ({0}) Dieser Betrag würde den Menschen in den Heimen fehlen. Das ist also ein schlechtes Geschäft. ({1}) Sie haben leider nicht gesagt, dass Sie sich für eine Anhebung des Barbetrages um 2 Prozentpunkte einsetzen und auf eine Kompensation verzichten. Wenn Sie dies gesagt hätten, hätten Sie meine volle Unterstützung. Das aber haben Sie nicht getan. Sie haben Ihr wahres Gesicht gezeigt, und das ist nicht sozial. Das ist wieder einmal deutlich geworden. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort die Kollegin Elke Reinke, Fraktion Die Linke. ({0})

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach Vorliegen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ist die Bundesregierung verpflichtet, die Regelsätze des Sozialgesetzbuches XII zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Im Unterschied zu anderen Gesetzesvorhaben waren die Regierungsfraktionen nach der Anhörung nicht so beratungsresistent wie bei der Föderalismusreform und aktuell bei der Gesundheitsreform. Eine Mehrheit der Expertinnen und Experten hat sich für das Bruttoprinzip bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen ausgesprochen und die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der SPD haben sich belehren lassen. Leider wurden andere Bedenken, die in der Anhörung geäußert wurden, nicht ernst genommen. Der Sachverständige Hesse von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege hat angemerkt, dass sich die Preise in den Aldi-Filialen nicht unterscheiden, dass Menschen überall im Land 10 Euro Praxisgebühr beim Arzt zahlen müssen und dass alle von der Mehrwertsteuererhöhung betroffen sind. Weil es keine relevanten Unterschiede bei den Lebenshaltungskosten gibt, sieht unsere Fraktion keine Grundlage für regionale Abweichungen bei den Regelsätzen in den verschiedenen Bundesländern. ({0}) Wir fordern in unserem Antrag „Für ein menschenwürdiges Existenzminimum“ die Einführung einer bedarfsdeckenden Grundsicherung von 420 Euro. In den Ausschussberatungen wurde uns mehrfach Wunschdenken unterstellt. Ich würde gerne einmal hören, wie Sie zu den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes stehen, der schon im Mai dieses Jahres als Notmaßnahme forderte, die Leistung auf 415 Euro zu erhöhen. Wenn Sie einen Eindruck von der Stimmung der Leidtragenden Ihrer Politik bekommen wollen, dann sollten Sie die Demos gegen Sozialabbau besuchen, die am kommenden Samstag stattfinden. ({1}) Die Regierungsfraktionen haben auch auf ein anderes drängendes Problem nicht reagiert. Dr. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband forderte ebenso wie wir, kindgerechte Bedarfe anders zu berechnen. Selbst in den Reihen der SPD gab es zu diesem Vorschlag zustimmendes Kopfnicken. Im Regelsatz für Kinder sind anteilig 12 Euro für Zigaretten vorgesehen. Windeln, Spielsachen, Bücher und Buntstifte tauchen hier gar nicht auf. Nur ein Beispiel für die lebensfremde Berechnungsweise dieses Regelsatzes: Für ein Kind, dessen Eltern Sozialhilfe beziehen, werden pro Jahr 52,80 Euro für den Kauf von Schuhen zur Verfügung gestellt. Liebe Mütter und Väter hier im Hause, wann waren Sie das letzte Mal mit Ihren Kindern Schuhe kaufen? Erklären Sie mir einmal, wie Sie von diesem Betrag Halbschuhe, Winterstiefel, Sandalen und Turnschuhe bezahlen wollen! ({2}) Hinzu kommt, dass Kinder auch noch die unangenehme Angewohnheit haben, zu wachsen. Zum Weltkindertag hat die Linke der Öffentlichkeit die Eckpunkte einer Kindergrundsicherung vorgestellt. Wir wollen den schrittweisen Einstieg in eine bedarfsorientierte und individuelle Kindergrundsicherung. Wo bleiben Ihre Antworten auf das drängende Problem der Kinderarmut in unserem reichen Land? ({3}) Angesichts der Ergebnisse der Studie der FriedrichEbert-Stiftung und aufgrund der aufgeregten Debatte über zunehmende Armut und abgehängte Unterschichten empfehle ich Ihnen, diesen Antrag an die Ausschüsse zurückzuverweisen. Dort könnten wir nicht nur debattieren, sondern auch sofort gemeinsam handeln. Wer keine Schulbücher finanziert und wer für 2,5 Millionen betroffene Kinder und Jugendliche keine armutsfeste Grundsicherung einführt, der sollte sich seine Empörung über Motivationsprobleme und die so genannte Bildungsferne sparen. Danke schön. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz, das für die Menschen in Deutschland mehr soziale Sicherheit bedeutet. ({0}) Diese gute Botschaft richtet sich vor allem an die Menschen, die sich nicht selbst helfen können, an diejenigen, die nicht erwerbsfähig sind und deshalb unbedingt sozialer Unterstützung bedürfen. Mit diesem Gesetzentwurf trägt die große Koalition dazu bei, den Unterschied zwischen Ost und West aufzulösen; denn in Zukunft wird in ganz Deutschland ein einheitlicher Regelsatz gelten. Es ist eine große Leistung dieser Koalition, dass sie ihrer sozialen Verantwortung trotz der sehr schwierigen Haushaltslage und knapper Finanzmittel gerecht wird. Deshalb ist dieser Gesetzentwurf ausdrücklich zu loben. ({1}) Von vielen Seiten wurde kritisiert, es sei nicht richtig gewesen, die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zur Grundlage des Regelsatzes zu machen. All diejenigen, die dies kritisiert haben, sind allerdings die Antwort auf die Frage schuldig geblieben, auf welcher Grundlage sie den Betrag ermittelt hätten, der für ein Leben in hinreichend gesicherten Verhältnissen anzusetzen ist. Ich bin der Meinung, der gewählte Ansatz, von dem Verbrauchsverhalten derer auszugehen, die die untersten 20 Prozent der Einkommensskala bilden, ist eine vernünftige Grundlage für die Festlegung des Regelsatzes.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Straubinger. Dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, also das Verhalten der untersten 20 Prozent der Einkommensskala, die Grundlage des Verfahrens für die Berechnung des Regelsatzes ist, wie es Herr Weiß betont hat, wird von niemandem in Zweifel gezogen. Aber Sie wissen auch, dass es bei diesen Werten Abschläge gibt, je nach Warengruppe. Was kritisiert wird, ist, dass das Berechnungsverfahren nicht transparent ist. Es wird nicht klar, warum zum Beispiel für Strom pauschal 85 Prozent des ermittelten Wertes gezahlt werden. Der Herr Staatsekretär hat im Ausschuss versucht, zu erklären, dass die Heizung anteilig berücksichtigt wird. Es haben aber nicht alle eine elektrische Heizung. Wie will man das trennen? Die Begründung für die Abschläge ist nicht deutlich. Würden Sie also bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir nicht die Grundlage kritisieren, sondern die Abschläge, die vorgenommen werden? Darauf gründet sich die Kritik.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kurth, ich glaube, dass die Bundesregierung mit diesem transparenten und für jemanden, der sich damit beschäftigt hat, durchaus nachvollziehbaren Verfahren letztlich eine gute Lösung gefunden hat. Natürlich spielt der alte Warenkorb hier noch eine Rolle. Das ist beim Verbrauchsverhalten der Menschen sicherlich feststellbar; das liegt auf der Hand. Aber ich bin überzeugt, dass die Grundlage vernünftig ist, Herr Kurth. ({0}) Es ist wichtig, darzustellen, dass wir wegen unserer begrenzten Mittel keine zusätzlichen Leistungen erbringen können, wie es die Oppositionsfraktionen - die Fraktion der Linken, aber auch, wenn auch nicht in Zahlen dargelegt, die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen - gefordert haben. Ich möchte mich mit den Forderungen der Fraktion der Linken auseinander setzen. Sie fordern eine Anhebung des Regelsatzes auf 420 Euro im Monat. Das würde den Bundeshaushalt jährlich mit zusätzlichen 10 Milliarden Euro belasten. Ich glaube, dass dies nicht leistbar ist und eine starke Überforderung derer bedeutete, die die Leistungen zu erbringen haben. ({1}) Bemerkenswert ist die Begründung der Linken, warum der Regelsatz auf diesen Betrag angehoben werden muss. Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf den Paritätischen Wohlfahrtsverband.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, danke. - Demnach sollen zusätzliche Ausgaben für Mobilfunk und weitere Privat-PKW sowie Gesundheitsausgaben von Privatpatienten eingerechnet werden, aber auch wesentlich höhere Ausgaben für Tabakwaren und Verpflegungsdienstleistungen sollen berücksichtigt werden. Ich glaube, für eine gesunde Lebensführung ist es eigentlich entscheidend, nicht zu rauchen. Dieser Ansatz des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist meines Erachtens nicht gerechtfertigt. Vor allen Dingen ist diese Erhöhung nicht von der Allgemeinheit zu erbringen. ({0}) Der Kollege Hüppe wird noch auf die Veränderungen eingehen, die sich im Fortgang der Beratungen ergeben haben, auf das Brutto- bzw. Nettoprinzip und die Weihnachtsbeihilfe. Entscheidend ist, dass wir zum Bürokratieabbau beigetragen haben; das ist auch für die Länder wichtig. Der Kollege Rohde hat das hier bereits gewürdigt. Für mich ist es auch sehr wichtig, dass wir die Darlehensgewährung für Leistungsberechtigte durch den Verweis auf § 91 im SGB XII ausgeweitet haben. Das bedeutet, dass den Menschen, die in Not geraten sind bzw. sich in einer Notlage befinden und der sozialen Unterstützung bedürfen, sehr schnell und sehr sachgerecht von staatlicher Seite geholfen werden kann. In diesem Sinne kann ich Sie alle nur dazu aufrufen: Stimmen Sie diesem Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung zu. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Da heute offensichtlich weder der Minister noch der Staatssekretär reden wollen und da weder Frau Hiller-Ohm noch Sie, Herr Straubinger, sich zu dem Brutto-Netto-Prinzip geäußert haben, würde ich gerne die Frage an Sie richten - diese muss ja jemand von der Koalition beantworten -, ob die Rücknahme des Nettoprinzips, also dessen, dass behinderte Menschen in Zukunft erst einmal selbst bezahlen müssen und anschließend beim Sozialamt fragen dürfen, ob sie das Geld wiederbekommen, endgültig ist oder ob das eine taktische Maßnahme ist, die Sie in zwei, drei Monaten oder vielleicht in einem halben Jahr doch wieder zurücknehmen. Für die Menschen, die das betrifft, wäre es sehr wichtig, zu wissen, dass es dabei bleibt und dass die Sachkosten aus einer Hand voll übernommen werden. Wenn es tatsächlich jemanden gibt, der etwas zuzahlen kann, dann wird das zurückgefordert. Es kann aber nicht sein, dass diejenigen, die ohnehin nichts haben - wir hören hier von Menschen, die nur 90 Euro im Monat haben und jetzt gnädigerweise wieder Weihnachtsgeld bekommen; da kann man ja fast das Heulen kriegen -, in Vorleistung gehen sollen. ({0}) Bleibt die Regelung so, wie sie jetzt ist, oder wird das, was Sie vorhatten und zurückgezogen haben, weil der Protest aus dem Kreis der Betroffenen zu stark war, nach kurzer Zeit wieder hervorgeholt? Diese wichtige Frage für die Betroffenen hätte ich von Ihnen gerne beantwortet. Vielen Dank, Frau Präsidentin.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Straubinger, zur Erwiderung, bitte.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Seifert, bei der CDU/CSUund bei der SPD-Bundesfraktion, die die Regierung unterstützen, ist die Politik nicht auf Taktik angelegt, wie bei der Fraktion der Grünen. ({0}) - Entschuldigung, der Linken. - Wir betreiben eine beständige Politik. Weil nachfolgend der Kollege Hüppe hier eine Rede hält und sich in seinen Ausführungen ausdrücklich mit dem Brutto-Netto-Prinzip befassen wird, verweise ich diesbezüglich auf den Kollegen Hüppe. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich dem Kollegen Markus Kurth, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Straubinger, die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fühlt sich sowohl taktisch als auch strategisch leistungsfähig. Das kann ich Ihnen versichern. ({0}) Es ist jetzt nicht nur rein taktisch, wenn ich die Rede damit eröffne, dass ich sage, dass das vorliegende Gesetz zur Änderung des Sozialhilferechts ein Gesetz ist, das im Laufe der Ausschussberatungen stark verbessert worden ist. ({1}) Das ist durchaus nicht selbstverständlich und das kann man ruhig einmal sagen. Das freut uns umso mehr, als Sie als Koalitionsfraktionen auch auf Bedenken eingegangen sind, die wir bereits bei der Einbringung des Gesetzes in einem begleitenden Antrag zum Ausdruck gebracht haben. Änderungen, wodurch der Gesetzentwurf besser geworden ist, sind die angesprochene Darlehensregelung für Personen, die nicht sofort zum Beispiel ihr Immobilienvermögen einsetzen können, sodass sie trotzdem in den Genuss von Leistungen kommen, die Regelung zur Weihnachtsbeihilfe und natürlich - das ist ganz entscheidend und dazu möchte ich auch noch einige Sätze sagen die Beibehaltung des Bruttoprinzips in der Eingliederungshilfe. Weiterhin ist nun die zügige Hilfegewährung in stationären und teilstationären Einrichtungen möglich. Die auf solche Hilfen angewiesenen Menschen werden nun nicht, wie ursprünglich geplant, mit der aufwendigen Arbeit belastet, ihre Einkommen und ihre Unterhaltsansprüche zusammenzustellen und diese Ansprüche vor allen Dingen auch geltend zu machen. Diese Arbeit erledigen nun weiterhin die Sozialhilfeträger, die über das nötige Fachpersonal verfügen. Wie aufwendig diese Arbeit ist, zeigt sich daran, dass allein im Bereich des Landschaftsverbands Rheinland, dem größten überörtlichen Sozialhilfeträger, mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter damit beschäftigt sind, dies zusammenzutragen. Es wäre also durchaus eine große Belastung, wenn all das auf Menschen mit Behinderung übertragen worden wäre. Gleichwohl ist von Vertretern der großen Koalition auch im Ausschuss verkündet worden - wir haben es bereits mehrfach gehört -, dass das Bruttoprinzip erneut zur Disposition steht. Angesichts dieser Ankündigung möchte ich die Kolleginnen und Kollegen von SPD und CDU/CSU nachdrücklich auffordern und ermuntern, sich endlich einmal grundsätzlich mit dem Recht der Eingliederungshilfe auseinander zu setzen. ({2}) - Nein, das machen Sie bislang nicht. - Besser noch wäre, wenn Sie eine Reform der Eingliederungshilfe mit einer Strukturreform beim Rehabilitationsrecht verbinden würden, um endlich den Prinzipien „ambulant vor stationär“ und „Hilfe aus einer Hand“ wirklich zum Durchbruch zu verhelfen. ({3}) Ich biete Ihnen dabei die Hilfe meiner Fraktion an. ({4}) - Herr Brauksiepe, Sie brauchen gar nicht so abschätzig zu rufen. Es ist eine gute Tradition in diesem Hause - auch deshalb habe ich Lob ausgesprochen -, dass in Fragen der Politik für Menschen mit Behinderung über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammengearbeitet wird. ({5}) Es gibt hier keinen Grund zur Häme bei Zwischenrufen. Auch Sie wissen, dass die Bundesländer nicht lange mit neuen Vorstößen auf sich warten lassen werden, um mit Salamitaktik zu Einschnitten bei der Eingliederungshilfe zu kommen. Wir haben gesehen, welche Vorschläge von den Bundesländern im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahren gemacht wurden. Weniger als jeder einzelne Kürzungsvorschlag der Länder - darüber kann man reden; ich erkenne das Interesse der Kommunen an, den Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe in Grenzen zu halten - verärgern mich bei den Vorschlägen der Länder die Kurzsichtigkeit, der vordergründige Sparzwang und die mangelnde Bereitschaft, hier endlich einmal nach einer grundlegend anderen Leistungsstruktur zu suchen und andere Anreizstrukturen zu schaffen. ({6}) Ich würde mir wünschen, dass wir die Diskussion, die wir hier über dieses Gesetz führen, weiterhin führen und wir zu einer anderen Reform bei der Eingliederungshilfe kommen. Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion und ich können wegen der bereits vielfach - auch heute Mittag erwähnten Fragen der Regelsatzbemessung und der Öffnungsklauseln im Bereich des Sozialhilferechtes dem Gesetz nicht zustimmen. Abgesehen davon ist es ein ganz passables Gesetz. Ich hoffe, dass wir im Bereich der Behindertenpolitik später einen Schritt vorankommen. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Silvia Schmidt, SPDFraktion. ({0})

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte nicht auf die Änderungsan5610 Silvia Schmidt ({0}) träge der Opposition eingehen. Ich denke, mit diesem Änderungsgesetz zum SGB XII haben wir etwas Hervorragendes geschaffen. Ich möchte wiederholen - Kollege Straubinger hat es bereits gesagt -, was es Gutes mit sich bringt. Ich habe nämlich das Gefühl, durch die Streitdiskussion gehen die guten Seiten unter. Die Menschen können sich freuen, besonders die Menschen in den neuen Bundesländern. Der einheitliche Sozialhilferegelsatz führt ja dazu, dass sich die Einkommenssituation der betreffenden Personen in den neuen Bundesländern deutlich verbessert. Das ist einfach gut. Man hört davon nur wenig. Vielleicht kommt es in der einen oder anderen Partei nicht an. Wer bisher die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung bezogen hat, musste Kürzungen in Kauf nehmen, wenn der Partner Zuschläge nach den Regelungen des Arbeitslosengeldes II erhielt. Hierzu wird es nun nicht mehr kommen. Das heißt, diese Zuschläge werden bei der Sozialhilfe nicht angerechnet. Es gibt also deutlich mehr Geld für die Menschen. Das sollte endlich einmal ankommen. Wir haben einige Anträge des Bundesrates gestoppt. Der Bundesrat wollte, dass nur die Eltern Kindergeld erhalten, die mit ihren volljährigen behinderten Kindern zusammenwohnen. Das entspricht nicht dem steuerlichen Familienlastenausgleich. Mit einem anderen Antrag wollte der Bundesrat bereits 2004 den Zusatzbarbetrag für Heimbewohner abschaffen. Wir erinnern uns noch an die Demos vor dem Brandenburger Tor; wir waren dabei. Gemeinsam - auch daran möchte ich erinnern haben wir den Bestandsschutz durchgesetzt. ({1}) Auch der zweite Versuch des Bundesrates scheitert heute in diesem Haus. Ein weiterer Antrag des Bundesrates betraf die Erhöhung des Barbetrags, allerdings nur als Pauschale. Das hört sich zunächst gut an, aber bei der Pauschalierung wird übersehen, dass die Kosten für Sehhilfen und die Zuzahlungen für nicht verschreibungspflichtige Medikamente nicht mit einbezogen sind. Wir wollen den Barbetrag auf 27 Prozent erhöhen. Darin ist die Weihnachtsbeihilfe mit enthalten. Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang Gabriele HillerOhm, die besonders dafür gestritten hat. ({2}) Die Erhöhung des Barbetrags ist auch gut für die Heimbewohner in den neuen Bundesländern. Denn dadurch erhalten sie 27 Prozent von 345 Euro statt 26 Prozent von 331 Euro. Das Bruttoprinzip, über das sehr viel gestritten worden ist, wird erhalten bleiben. ({3}) Aber wir können nicht die Augen davor verschließen, dass das Nettoprinzip schon lange in der Altenhilfe und in der Pflege Anwendung findet. Die behinderten Menschen, die außerhalb der Einrichtungen in den Gemeinden in betreuten Wohnformen bzw. in eigenen Wohnungen leben, kennen das Verfahren des Nettoprinzips genau. Das Nettoprinzip fördert die Selbstständigkeit. Das wird niemand leugnen. Die Menschen haben ein Recht auf Kostentransparenz. Auch das wird niemand leugnen. Ich kann aber auch die bereits erwähnten Befürchtungen der Einrichtungsbetreiber verstehen. Sie haben zum Beispiel nicht die Möglichkeit, Rentenansprüche zu pfänden. Aber wir werden alle Beteiligten in die Reform mit einbeziehen. Denn wir alle wollen ein leistungsfähiges System der Eingliederungshilfe. Das steht im Koalitionsvertrag und wird unsere Aufgabe für 2007 sein. Wir wollen verstärkt das Prinzip „ambulant vor stationär“ umsetzen. Auch das steht im Koalitionsvertrag. Deshalb wird dieses Prinzip bei der Reform der Eingliederungshilfe maßgeblich sein. Das ist nicht nur der Standpunkt der Bundesregierung; es wird auch auf europäischer Ebene schon lange gefordert. Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union fordert ausdrücklich die Integration behinderter Menschen. In Art. 19 der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen vom 25. August wird gefordert, dass behinderte Menschen leben sollen wie alle anderen Menschen auch. Das ist ein Menschenrecht. Wir wollen die Bundesinitiative „Daheim statt Heim!“ ins Leben rufen. Ich rufe Sie alle auf, mitzumachen. Denn wir wollen, dass behinderte Menschen auch außerhalb von Einrichtungen leben können. Ich danke Ihnen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kollege Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine Bemerkung vorweg, lieber Kollege Kurth. Wenn Sie feststellen, dass wir möglicherweise Kürzungen vorhätten, dann darf ich daran erinnern, dass die Grünen in der letzten Legislaturperiode - übrigens gegen die Stimmen der Union - der Abschaffung des Zusatzbarbetrags in Einrichtungen zugestimmt haben. ({0}) Ohne diese Maßnahme hätten die Betroffenen in den Einrichtungen heute einige Probleme weniger. ({1}) Ich möchte als Behindertenbeauftragter meiner Fraktion die beiden Punkte ansprechen, die Max Straubinger schon für meine Rede angekündigt hat. Das ist zum einen das Bruttoprinzip. Ich freue mich ausdrücklich daHubert Hüppe rüber, dass dieses Prinzip in den Einrichtungen beibehalten wird. ({2}) Dies bedeutet - wir gehen immer davon aus, dass die Zuhörer wissen, wovon wir reden, aber vielleicht sollte man das doch deutlich machen -, dass bei behinderten Menschen, die in Einrichtungen leben, weiterhin zunächst der Sozialhilfeträger in Vorleistung tritt und er erst zu einem späteren Zeitpunkt den Eigenanteil dieser Menschen einfordert. Ich begrüße zum anderen, dass wir uns auf die Erhöhung der Weihnachtsbeihilfe für die Heimbewohner geeinigt haben. Bislang wurde sie freiwillig gezahlt, aber nicht von allen. In diesem Jahr haben wir einen einheitlichen Standard von mindestens 36 Euro erreicht; das ist eine ganze Menge. Im nächsten Jahr wird es mehr sein, weil wir diese Beihilfe zusätzlich zum monatlichen Barbetrag gewähren. Zukünftig wird es als Barbetrag statt 26 Prozent vom allgemeinen Regelsatz in Höhe von 345 Euro 27 Prozent geben. Das ist ein Fortschritt. ({3}) Wir sind für das Bruttoprinzip, weil damit der Grundsatz der Leistungserbringung aus einer Hand bestehen bleibt. Manche Befürworter des Nettoprinzips argumentieren, man könne damit das Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit Behinderung stärken und zudem gelte der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Des Weiteren wurde behauptet, dass der Eigenanteil mit dem persönlichen Budget der Menschen mit Behinderung vergleichbar sei. Das ist aber nicht der Fall; denn das persönliche Budget bedeutet, dass ein Mensch mit Behinderung einen Betrag bekommt, den er so ausgeben kann, wie er es möchte; das wollen wir und die Regierung. Das ist aber mit dem Nettoprinzip nicht vergleichbar; denn hier haben die Menschen mit Behinderung keinen Einfluss auf die Höhe ihrer Einnahmen. Diese werden vielmehr von den Trägern der Sozialhilfe festgelegt. Wenn die Träger der Sozialhilfe und die kommunalen Spitzenverbände in der Anhörung sagen, dass die Einsparungen nicht so groß seien, und wenn wir sehen, dass die Bürokratie so zunimmt, dass Menschen mit Behinderung, insbesondere denjenigen mit so genannter geistiger Behinderung, die Teilhabe an der Gesellschaft eher unmöglich gemacht wird, dann glaube ich nicht, dass dies in Zukunft angetastet wird. Ich jedenfalls hielte es für nicht richtig. ({4}) Wir werden über die Eingliederungshilfe zu reden haben. Aber es bleibt dabei: Wir werden mit den Verbänden und den Menschen mit Behinderung sprechen. Wir halten an dem im Jahr der Menschen mit Behinderung entwickelten Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“ fest. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 13 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksachen 16/2711 und 16/2753. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3005, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3006. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/ CSU und SPD sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/3005 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2743 mit dem Titel „Für ein menschenwürdiges Existenzminimum“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2750 mit dem Titel „Das Existenzminimum sichern - Sozialhilferegelsätze neu berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2751 mit dem Titel „Die Eingliederungs5612 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt hilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln - Das Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinderungen ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Dann ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zusatzpunkt 9 auf: 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto ({0}), Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für einen zukunftsfähigen europäischen Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste Den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv begleiten - Drucksache 16/2675 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste - Drucksache 16/2977 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel, Wolfgang Börnsen, Christoph Pries, Jörg Tauss, Christoph Waitz, Lothar Bisky und Grietje Bettin haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich eine Aussprache. ({3}) - Ich höre dazu nichts, Herr Kollege Tauss. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2675 und 16/2977 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 16/2675 zu Tages- ordnungspunkt 14 soll zusätzlich an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz über- wiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungsvor- schlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. 1) Anlage 3 Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 1. Juni 2006 zur Änderung des am 29. August 1989 unterzeichneten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steuern - Drucksachen 16/2708, 16/2956 - Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 16/3012 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({5}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/3031 Berichterstattung: Abgeordnete Otto Fricke Jochen-Konrad Fromme Carsten Schneider ({7}) Anja Hajduk Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Lothar Binding von der SPD-Fraktion das Wort. ({8})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Eigentlich müssten wir heute Abend gar nicht reden, weil das Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA vollständig ausgehandelt ist und wir heute keine Möglichkeit haben, etwas zu ändern. Und doch wollen wir reden und seit ich heute in die „Frankfurter Rundschau“ geschaut habe, ({0}) denke ich auch, dass es notwendig ist, zu reden; denn mich hat etwas ziemlich geärgert. Es funktioniert nach folgendem Prinzip. Denken Sie an ein Kochrezept. Ich gebe Ihnen jetzt einige Elemente: Steuerprivileg, Schlupflöcher, USA, Vereinigte Arabische Emirate, Bundesregierung, Steueroase und Steinbrück. Der darf nicht fehlen. Dann kommt etwa Folgendes heraus: Steinbrück hat eine Aktiengesellschaft in Dubai mit einer Tochter in den USA und einem Enkelunternehmen in Deutschland Lothar Binding ({1}) und nutzt ein Steuerprivileg, um 25 Millionen der Bundesregierung von der Lufthansa steuerfrei in Steueroasen der Vereinigten Arabischen Emirate bringen zu lassen. Ungefähr so lautet die Botschaft, mit der wir es heute zu tun hatten. ({2}) Der Kollege Schick meint dazu - das ist jetzt die Quintessenz -: Es könnte aber auch ein bisschen mehr sein. Dazu sage ich: Das ist nicht schick. ({3}) Ich will in diesem Zusammenhang noch eine Ableitung darstellen. Diese Botschaft enthält etwas, wie ich finde, sehr Falsches: Man kümmerte sich bei uns nicht um Steuerschlupflöcher; vielmehr - umgekehrt - eröffnete man den Unternehmen einen Weg, ihre Gewinne in Steueroasen zu transferieren. Das halte ich für grundfalsch. Ich will selbst einige Beispiele nennen, die der Kollege Schick vielleicht nicht mehr so im Kopf hat, weil es vor seiner Zeit im Bundestag war. Wir haben mit einer hohen Sensibilität versucht, Verlustzuweisungsmodelle zu vermeiden, und waren in vielen Fällen erfolgreich. ({4}) Ich will einfach einmal eine Liste anführen. Medienfonds: Der alte Weg ist verschlossen. Mehrkontenmodell: abgeschafft. Mehrmütterorganschaft: abgeschafft. Wir haben einen Mindesthebesatz eingeführt. Wir haben eine Mindestgewinnbesteuerung. Wir haben die Pflicht zur Bildung von Bewertungseinheiten in der Steuerbilanz. Wir haben Aufzeichnungspflichten bei Verrechnungspreisen deutlich verbessert. Wir haben Sonderausgabenabzüge, zum Beispiel für die Steuerberatung, abgeschafft. Wir haben Beschränkungen bei der Verlustverrechnung eingeführt. All das zwingt die Unternehmen, korrekt zu versteuern. ({5}) Die Botschaft, wir würden einen Weg in die falsche Richtung freimachen, ist wirklich sehr unehrlich. Die heutige Pressemitteilung hat mich daher sehr geärgert. ({6}) Dass wir mit den USA eine ganz besondere Beziehung haben und dass sie mit der mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, mit Dubai und mit vielen anderen nicht zu vergleichen ist, mögen nur ganz wenige Zahlen belegen. Unser Export in die USA hat eine Größenordnung von etwa 70 Milliarden Euro, der Import aus den USA hat eine Größenordnung von etwa 40 Milliarden Euro. Was die Direktinvestitionen angeht, investieren die US-amerikanischen Unternehmen in Deutschland etwa 80 Milliarden Euro, während deutsche Unternehmen in den USA etwa 140 Milliarden Euro investieren. Ich glaube, jeder erkennt unschwer, dass das eine Sonderstellung ausmacht. ({7}) Aber diese Sonderstellung ist gar nicht so ausgeprägt. Wir befinden uns mit vielen anderen Ländern in einem Konkurrenzverhältnis und deshalb müssen wir uns anstrengen, unsere Steuerpolitik so auszugestalten, dass unsere Unternehmen mit Unternehmen anderer Länder, in denen sie sich ansiedeln wollen, konkurrieren können. ({8}) Ich verweise auf Folgendes: Japan, Großbritannien, Holland, Mexiko, die skandinavischen Staaten und Australien haben die gleiche Regelung wie die USA, nämlich den Verzicht auf eine zusätzliche Steuerbelastung im internationalen Austauschverkehr. Von Steueroase ist also weit und breit keine Spur. Darum geht es heute auch überhaupt nicht. Wir müssen sehen, dass der Anlass für diese Reform, für dieses Doppelbesteuerungsabkommen, eine in der EU seit 1992 geltende Regelung ist, nämlich, keine Kapitalertragsteuern auf Ausschüttungen an Muttergesellschaften mehr zu erheben. Für die, die jetzt vielleicht nicht wissen, was ich meine - Gäste in diesem Saal könnte dies ebenfalls interessieren -, will ich wenigstens kurz die Mechanik, um die es geht, erläutern. Wenn eine Muttergesellschaft in Deutschland einen Gewinn erzielt, dann zahlt sie darauf Steuern, nämlich Körperschaftsteuern in Höhe von 25 Prozent. Wenn sie durch ein Tochterunternehmen in den USA einen zusätzlichen Gewinn erzielt, dann muss das Tochterunternehmen in den USA ebenfalls Körperschaftsteuern zahlen, im Zweifelsfall 35 Prozent. So kommen nur 65 Prozent des in den USA erzielten Gewinns in Deutschland an. Die Frage ist, ob man auf diese 65 Prozent in Deutschland ebenfalls eine Kapitalertragsteuer oder eine Körperschaftsteuer erhebt. Unsere Antwort lautet: Wir wollen das nicht; denn das wäre eine echte Doppelbelastung, die wir ausschließen wollen. Ich könnte noch die Feinmechanik erklären. ({9}) Meine Erläuterung war sehr grobschlächtig; aber immerhin ist klar, dass wir eine Doppelbesteuerung vermeiden wollen. Wir glauben, dass die Belastung durch eine zusätzliche Körperschaftsteuer nicht in Ordnung ist. Dieses Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA ist sehr gut, insbesondere weil es symmetrisch ist. Dieses Abkommen gilt nämlich nicht nur für Tochterfirmen deutscher Unternehmen in den USA, sondern auch umgekehrt. Aus Symmetriegründen glauben wir, dass es mit Blick auf die Konkurrenzfähigkeit unserer deutschen Unternehmen klug ist, dieses Abkommen zu schließen. Wir versprechen uns davon auch eine deutliche Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA und Deutschland. Ich glaube, dass wir damit auf dem richtigen Weg sind. Ich bitte Sie, diesem Abkommen zuzustimmen, mit dem Wissen, dass es vollständig und seriös ausgehandelt wurde. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele für die FDP-Fraktion. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es macht immer Freude, im Bundestag vor einem fachkundigen Publikum zu diesem Thema sprechen zu dürfen. Da die Reihen nicht ganz gefüllt sind, sind im Wesentlichen Fachkundige anwesend. Die FDP-Fraktion begrüßt, dass heute das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika vom Deutschen Bundestag die erforderliche Zustimmung erhalten wird. Insofern, Herr Kollege Binding, stimme ich Ihren Ausführungen zu. ({0}) Das derzeit gültige Doppelbesteuerungsabkommen stammt noch aus der Zeit vor der deutschen Einheit. Es ist nämlich am 29. August 1989 geschlossen worden. Zwischenzeitlich sind viele Rechtsänderungen eingetreten, die eine Änderung dieses Doppelbesteuerungsabkommens erforderlich machen. Insbesondere in der Frage der Besteuerung von Alterseinkünften wurden in den letzten Jahren Eingaben von deutschen Bürgern, die in Amerika leben, an den Deutschen Bundestag gerichtet. Es ist gut, dass auch diese Probleme mit dem Doppelbesteuerungsabkommen nicht nur angesprochen, sondern überwiegend auch gelöst werden. ({1}) Die Vereinigten Staaten sind für Deutschland der wichtigste Handelspartner außerhalb der Europäischen Union. Sie sind Hauptanlageland für deutsche Investitionen. Umgekehrt sind die Vereinigten Staaten der bedeutendste ausländische Investor in Deutschland. Die Direktinvestitionen der USA betrugen Ende 2003 rund 80 Milliarden Euro, die Direktinvestitionen Deutschlands in den USA betrugen zu dieser Zeit 140 Milliarden Euro. Bezüglich des Handels ist festzustellen, dass Deutschland aus den USA in einer Größenordnung von 40 Milliarden Euro pro Jahr importiert. Vor allem aber ist wichtig, dass Deutschland in die USA in einer Größenordnung von 70 Milliarden Euro exportiert, und das Jahr für Jahr. Dies schafft und sichert Arbeitsplätze in Deutschland. Wir wollen, dass weiterhin Arbeitsplätze in Deutschland entstehen und gesichert werden. ({2}) Insofern - erlauben Sie mir, dies zu sagen, da Herr Schick von den Grünen noch sprechen wird - habe ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass seitens der Linkspartei und der Grünen ausschließlich verkürzt fiskalisch argumentiert wird. Eine solche Sichtweise greift wirklich viel zu kurz. ({3}) Zunächst wird übersehen, dass Steuern erst dann entstehen können, wenn Investitionen getätigt werden und aufgrund der Investitionen Gewinne erzielt werden. ({4}) Das musste einmal gesagt werden. Ich bedanke mich sehr für den Beifall seitens der FDP-Fraktion. ({5}) Deutschland hat ein originäres Interesse daran, dass deutsche Firmen auch in den Vereinigten Staaten investieren. Denn die dort anfallenden Erträge stehen den deutschen Firmen nach Steuern zur Verfügung und stärken den Ertrag sowie die Wettbewerbsfähigkeit dieser Firmen. Im Gegenzug hat Deutschland ein großes Interesse daran, dass aus den Vereinigten Staaten in Deutschland investiert wird. Jede Investition schafft Arbeitsplätze, jede Investition schafft Beschäftigung. Insofern freue ich mich, dass die Mehrheit im Deutschen Bundestag mit der Zustimmung zu diesem Doppelbesteuerungsabkommen der Aufforderung des Bundespräsidenten Horst Köhler nachkommt: Mit diesem Besteuerungsabkommen schaffen wir weitere Voraussetzungen dafür, dass zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland entstehen können und die bestehenden Arbeitsplätze in Deutschland sicherer sein werden. ({6}) Zu einem Punkt, nämlich zur Absenkung der Quellensteuer in Höhe von 5 Prozent auf Null, muss man feststellen, dass sich einiges geändert hat. Die Vereinigten Staaten haben inzwischen mit wichtigen Handelspartnern, mit Großbritannien, mit den Niederlanden, den skandinavischen Staaten, aber auch mit Mexiko, Japan und Australien, Nullsätze vereinbart. Innerhalb der Europäischen Union gilt das ohnehin. Wenn Deutschland an dieser Stelle nicht ebenso handelt, läuft Deutschland Gefahr, dass Investitionen amerikanischer Unternehmen nicht in Deutschland, sondern in anderen Ländern getätigt werden. Das wäre zum Schaden Deutschlands. Diesen Schaden wollen wir auch als FDPFraktion vermeiden. ({7}) Wir wollen, dass die Amerikaner in Deutschland investieren. Als FDP haben wir uns immer zu einer kritisch-konstruktiven Oppositionsrolle bekannt. Bei der Ablehnung dieses Doppelbesteuerungsabkommens durch die Linkspartei und die Grünen kann der Eindruck einer latenten amerikafeindlichen Handlung entstehen. Das wollen wir nicht. Wir bekennen uns zu der Partnerschaft mit Amerika und deshalb stimmen wir als FDP dem Doppelbesteuerungsabkommen auch zu. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte als Erstes die Suppe, die Herr Binding gerührt hat, aufklaren. Es geht um drei unterschiedliche Abkommen, die ich immer klar getrennt habe. Sie zusammenzurühren, ergibt keinen Sinn. Es ging zum einen um die Verlängerung des Doppelbesteuerungsabkommens mit den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dieses Abkommen stellt insofern eine Ausnahme dar, als aufgrund der Kombination der Tatsache, dass es in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit der Ausnahme der Besteuerung bei Öl- und Gasförderungen keine Einkommen- und Körperschaftsteuer gibt, mit der Anwendung der Freistellungsmethode Gewinne aus Dubai und anderen Orten der Emirate praktisch steuerfrei nach Deutschland transferiert werden können. Dieses Abkommen zu verlängern, halten wir für falsch. Denn das Abkommen stellt einen wichtigen Baustein eines schiefen und unfairen Steuerwettbewerbs dar, den wir beklagen. Ich glaube daher, dass man die Existenz eines solchen Abkommens durchaus kritisieren kann. ({0}) Bei dem Abkommen mit dem Jemen geht es um etwas anderes. Es bezog sich nur auf Luftfahrtgesellschaften und es hatte anders als sonstige Abkommen keine kurze Rückwirkung von zwei oder drei Jahren, sondern eine 24-jährige Rückwirkung. Von der Bundesregierung ist uns gesagt worden, dass das spezifisch für deutsche im Jemen tätige Luftfahrtunternehmen gilt. Dass diese extreme Form der Rückwirkung eine Sonderbehandlung und damit ein Privileg ist, werden auch Sie, Herr Binding, nicht abstreiten wollen. Das und nichts anderes habe ich angesprochen. ({1}) Kommen wir nun zu dem Abkommen, um das es heute geht, zum Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich stimme Ihnen zu: Das ist das wichtigste Abkommen für Deutschland; denn die USA sind unser wichtigster Handelspartner. Gerade weil das Abkommen so wichtig ist, schauen wir es uns ganz genau an; das hat nichts mit Amerikafeindlichkeit zu tun. Wir argumentieren auch nicht nur „verkürzt fiskalisch“. Ich möchte Ihnen sagen, was aus unserer Sicht die Plus- und Minuspunkte sind. Ich finde es insofern ein gutes Abkommen, als mit der Switch-Over-Klausel die Möglichkeit zum Übergang zum Anrechnungsverfahren offen gehalten ist. Das ist sinnvoll und das begrüßen wir ausdrücklich. Wir begrüßen auch ausdrücklich das obligatorische Schiedsverfahren, das behandelt worden ist. Das ist eine gute Klausel, weil sie Rechtssicherheit auch dann ermöglicht, wenn bei Anpassungen von Transfer-Pricing-Verfahren ein Abgleich notwendig ist. Für die Unternehmen ist es wichtig, dass sie sich darauf verlassen können, dass es das Schiedsverfahren auch wirklich geben wird und dass sie nicht zwischen die Mühlen zweier Staaten geraten. Ich finde auch die Regelung über die Alterseinkünfte richtig; es wurde auf neue Entwicklungen Bezug genommen. Wir haben aber auch drei Kritikpunkte. Der erste Kritikpunkt ist, dass es tatsächlich zu Steuerausfällen kommt. In einer Situation, in der wir die Mehrwertsteuer anheben und den Bürgern andere Belastungen zumuten, müssen wir Steuerausfälle immer besonders genau beleuchten. Ich finde, das ist berechtigt und kann nicht als „verkürzt fiskalisch“ abgetan werden. ({2}) Der zweite Kritikpunkt ist ein wirtschaftspolitischer. Wenn wir auf die Quellenbesteuerung bei der Kapitalertragsbesteuerung verzichten, dann hat das eine Auswirkung auf das Ausschüttungsverhalten von Unternehmen. Außerdem geht es - insofern muss man der Analyse von Herrn Binding noch etwas hinzufügen - nicht nur um das, was US-Töchter in Deutschland tun. Sie wissen ja, wie das Netz aus Doppelbesteuerungsabkommen wirkt. Es wirkt als Netz, in dem das, was in Deutschland stattfindet, häufig genutzt wird, um über andere Länder Gewinne günstig in die USA zu transferieren. Der zentrale Punkt, der uns dazu gebracht hat, es abzulehnen, ist folgender: Wir sollten bei dem multilateralen Ansatz auf Basis des OECD-Musterabkommens bleiben. Die bilateralen Verhandlungen, die die USA in den letzten Jahren geführt haben - ich komme damit zum Schluss -, halten wir nicht für den richtigen Ansatz, weil es gerade in diesem Netz von Doppelbesteuerungsabkommen extrem wichtig ist, dass die OECD-Staaten zusammenhalten, um das Treaty-Shopping, das von einigen Steueroasen ganz gezielt genutzt wird, gemeinsam unterbinden zu können. Die OECD hat dazu vieles vorgeschlagen. Es wäre falsch, dies nun durch bilaterale Abkommen zu unterlaufen. Die multilateralen Abkommen sind unseres Erachtens die einzig sinnvolle Vorgehensweise gegen das, was wir als unfairen, schiefen Steuerwettbewerb bezeichnen würden. Danke schön. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Kollege Dr. Axel Troost von der Fraktion Die Linke hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit hat als nächster Redner das Wort der Kollege Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Es ist gut, dass wir dieses Doppelbesteue- rungsabkommen mit den USA heute einmal im Plenum des Deutschen Bundestages debattieren. Dabei ist schon der Begriff Doppelbesteuerungsabkommen irreführend. 1) Anlage 4 Es geht ja nicht um eine doppelte Besteuerung; es geht um die Vermeidung der Doppelbesteuerung. Wir in Deutschland sind Exportweltmeister. Wir müssen ein besonderes Interesse daran haben, dass bei internationaler Wirtschaftstätigkeit eine Doppelbesteuerung entfällt, Herr Schick, und zwar im Hinblick auf unsere Arbeitsplätze. Deshalb haben wir immer ein prinzipielles Interesse an Doppelbesteuerungsabkommen. ({0}) Das Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA ist wahrscheinlich das wichtigste, das wir als Bundesrepublik Deutschland schließen, da die USA - das ist schon verschiedentlich gesagt worden - unser wichtigster Handelspartner außerhalb der EU sind und wir für die USA der wichtigste Handelspartner in Europa sind. Die amerikanischen Direktinvestitionen in Deutschland betrugen bis Ende 2003 81 Milliarden Euro, unsere Direktinvestitionen in den USA 140 Milliarden Euro. Unmittelbarer Anlass für die Änderung des Doppelbesteuerungsabkommens war die von Ihnen kritisierte Dividendenbesteuerung, Herr Kollege Schick. Auf Dividenden, die Tochtergesellschaften an Muttergesellschaften ausschütten, wird beiderseits des Atlantiks nach dem alten Doppelbesteuerungsabkommen eine Kapitalertragsteuer in Höhe von 5 Prozent gezahlt. Dazu kommt noch die Körperschaftsteuer in den USA - bis zu 34 Prozent für die deutsche Tochter dort - oder für die amerikanische Tochter hier Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer in Höhe von bis zu 39 Prozent. Dies führt zu Mehrbelastungen dieser Tochtergesellschaften etwa gegenüber inländischen Gesellschaften. Diesen Wettbewerbsnachteil deutscher Tochtergesellschaften in den USA und amerikanischer Tochtergesellschaften in Deutschland wollen wir abbauen. Das ist nicht amerikanischer Unilateralismus, den Sie hier irgendwie wahrzunehmen scheinen; das ist seit 1992 innerhalb der EU Usus. So verfahren wir mit allen unseren europäischen Nachbarländern. So verfahren auch die USA mit einer Reihe ausgewählter Handelspartner. Es ist gut, dass wir als Bundesrepublik Deutschland es geschafft haben, in diesen Kreis zu kommen. ({1}) Dieser Nullsatz für deutsche Töchter in den USA liegt gerade im deutschen Interesse, Herr Schick. Sie haben sich das vielleicht genau angeschaut, aber dann eben nicht genau genug. Ich sage Ihnen jetzt einmal drei Gründe, die dafür sprechen, dass Sie es sich nicht genau genug angeschaut haben: Erstens. Die deutschen Direktinvestitionen in den USA - rund 140 Milliarden Euro - sind fast doppelt so hoch wie die amerikanischen Direktinvestitionen in Deutschland. Wir haben dort mehr Töchter, als die Amerikaner hier haben. Die Nullbesteuerung liegt also eher im Interesse Deutschlands als im Interesse der USA. So haben wir als Bundesrepublik Deutschland mit vielen ausländischen Direktinvestitionen generell ein Interesse an der Nullbesteuerung. Zweitens. Wenn die deutschen Unternehmen im Schnitt stärker entlastet werden als die amerikanischen, dann spiegelt sich das auch beim Fiskus wider. Ich vermute einmal, dass der amerikanische Fiskus durch die Nullbesteuerung höhere Einbußen hat als der deutsche Fiskus. Das ist dann zumindest kein Schritt zum Nachteil der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Drittens. Ihre Argumentation ist auch falsch, was das Anrechnungsverfahren betrifft. Sie sagen, das deutsche Steuersubstrat werde dadurch geschädigt, dass es beim Doppelbesteuerungsverfahren einen unterschiedlichen Mechanismus gibt: Wir haben das Freistellungsverfahren, die USA haben das Anrechnungsverfahren. Das ist schlicht und ergreifend in diesem Fall nicht zutreffend. Es ist zwar richtig, die USA benutzen das Anrechnungsverfahren dafür, das irgendwo erzielte Welteinkommen von US-Gesellschaften eventuell auf amerikanisches Niveau hochzuschleusen. Nur, in diesem Fall gibt es überhaupt nichts mehr hochzuschleusen. Die deutsche Körperschaftsteuer liegt bei 25 Prozent, die deutsche Gewerbesteuer bei 14 Prozent, das sind zusammen schon 39 Prozent; hinzu kommen noch 3,75 Prozent durch die Dividendenbesteuerung. Das liegt über dem höchsten Körperschaftsteuerniveau von 35 Prozent in den USA. Das deutsche Steuersubstrat ist also nicht geschädigt. Ihre Argumentation geht da wirklich völlig in die Irre. Wir von der CDU/CSU können nicht nachvollziehen, dass Sie aus diesem Grunde das Doppelbesteuerungsabkommen ablehnen. Das ist mir auch deshalb unbegreiflich, weil dieses Doppelbesteuerungsabkommen natürlich noch eine ganze Reihe weiterer Maßnahmen enthält, die im Interesse des gegenseitigen Austauschs und im Interesse der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen dringend notwendig sind. Ich nenne hierzu abschließend drei Punkte. Erstens. Durch die zunehmende internationale Verflechtung - die wir begrüßen - kommt es zu einer vermehrten Entsendung deutscher Arbeitnehmer. Wir wissen, dass heute die Altersversorgung nicht mehr allein staatlicherseits geleistet werden kann; wir setzen auch auf eine betriebliche Altersversorgung. Diese betriebliche Altersversorgung wird in Deutschland steuerlich unterstützt und gefördert. Das war bisher aber nicht im Ausland möglich. Ein deutscher Arbeitnehmer, der fünf Jahre in den USA verbringt, kann den Aufbau seiner deutschen Altersversorgung dort nicht steuerlich geltend machen. Das wird jetzt anders. Ich halte das für einen ganz großen Erfolg im Interesse des wechselseitigen Austauschs. ({3}) Zweitens: Das obligatorische Schiedsverfahren. Die USA tun sich manchmal ein bisschen schwer, sich obligatorischen Schiedsverfahren zu unterwerfen. Hier ist das gelungen. ({4}) - Sie haben das auch gewürdigt, aber ich verstehe dann nicht, wie Sie das Doppelbesteuerungsverfahren ablehnen können. Drittens nenne ich einen Punkt, der uns in den nächsten Jahren hin und wieder Sorge machen wird: Das ist die Besteuerung der Alterseinkünfte. Nach dem gegenwärtigen DBA besteuert - abgesehen von den Pensionen des öffentlichen Dienstes - der Wohnsitzstaat die Alterseinkünfte. Das ist ein Problem für Länder wie die Bundesrepublik Deutschland, da zahlreiche deutsche Ruheständler ({5}) - Mallorca lässt grüßen, Florida auch - ihren Lebensabend woanders verbringen. Es gibt 130 000 deutsche Rentenempfänger, die ihren Lebensabend in den USA verbringen. Umgekehrt tun das nur 30 000 US-Amerikaner in Deutschland. Wir haben also ein Interesse an einer anderen Regelung. Die USA haben jetzt akzeptiert, dass in gewissen Grenzen das Besteuerungsrecht bei Alterseinkünften auf den Quellenstaat übergeht, der ja während des Erwerbslebens dies steuerlich gefördert hat. Das ist in einer gemeinsamen Erklärung zum Doppelbesteuerungsabkommen festgehalten worden. Wegen der langen Übergangsfristen im Alterseinkünftegesetz wird hier eine Regelung nicht vor 2015 in Kraft treten; das muss sie aber auch nicht. 2013 treten wir dazu in Verhandlung. Ich glaube, auch das ist ein großer Erfolg. Alles in allem, Frau Staatssekretärin Hendricks, kann man den Verhandlungsführern zu diesem Ergebnis gratulieren. Es verbessert die Wettbewerbssituation deutscher Tochterunternehmen in den USA und verschlechtert keinesfalls die Lage des deutschen Fiskus. Die Ausführungen, in denen dies behauptet wurde, habe ich nicht nachvollziehen können. Die CDU/CSU begrüßt deshalb das Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA und wird ihm hier zustimmen. Danke schön. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort der Kollege Lothar Binding. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte noch eine kurze Bemerkung machen. Die Rede des Kollegen Schick klang schon sehr viel fairer als die Botschaften, die in dem entsprechenden Artikel in einer ganz speziellen Weise zusammengemixt wurden. In der Rede wurde eine getrennte Betrachtung vorgenommen. Denn das DBA mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und das DBA mit dem Jemen, über die man sicher reden kann, sind etwas ganz anderes als das DBA mit den USA. Ich habe aber nicht verstanden, warum Sie das Schiedsverfahren kritisiert haben. ({0}) - Kritik ist immer Lob und Tadel. In diesem Falle haben Sie das Schiedsverfahren gelobt. Sie haben den Nullsatz für Altersvorsorgeeinrichtungen bei den Vertragsstaaten und für Kapitalanlagen in dem jeweils anderen Staat gelobt. Sie haben außerdem die Vorschriften zur Bekämpfung des Abkommensmissbrauchs gelobt. Gleichwohl sagen Sie, Sie lehnen das Abkommen mit den USA ab. Das habe ich nicht verstanden. Ich glaube, die wenigstens von uns können dies nachvollziehen. Herr Kolbe hat es vorhin versucht. Das muss sicherlich im Nachgang noch einmal erläutert werden. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe nun die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Abkommens mit den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steuern. Das sind die Drucksachen 16/2708 und 16/2956. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/3012, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPFraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Neuregelung des Hochschulzugangs und der Hochschulabschlüsse als Impuls zur Hochschulöffnung und Qualitätsentwicklung nutzen - Drucksache 16/2796 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann, Anette Hübinger, Uwe Barth, Cornelia Hirsch und Kai Gehring haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Damit entfällt die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2796 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Regelungen über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten - Drucksache 16/2922 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Die Kolleginnen und Kollegen Michael Hennrich, Anette Kramme, Heinz-Peter Haustein, Werner Dreibus, Matthias Berninger und der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres haben ihre Reden zu Pro- tokoll gegeben.2) Damit können wir auf die Aussprache verzichten. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2922 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Priska Hinz ({3}), Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für Ausbildung, Qualifizierung und ProgressivModell verwenden - Drucksache 16/2509 Überweisungsvorschlag: Ausschuss fürArbeit und Soziales ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Die Kolleginnen und Kollegen Peter Rauen, Wolfgang Grotthaus, Dirk Niebel, Kornelia Möller, Brigitte Pothmer und der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres haben ihre Reden zu Pro- tokoll gegeben.3) Damit findet keine Aussprache statt. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf 1) Anlage 5 2) Anlage 6 3) Anlage 7 Drucksache 16/2509 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu kei- nen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenpro- dukte - Drucksache 16/2755 - Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Peter Jahr, Dr. Wilhelm Priesmeier, Hans-Michael Goldmann, Eva Bulling-Schröter und Cornelia Behm haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.4) Damit gibt es keine Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2755 mit dem Titel „Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie den Zusatzpunkt 11 auf: 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({5}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Umfassenden Feldversuch über die Vor- und Nachteile von 60-Tonnen-Lkw starten - Drucksache 16/2683 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Keine 60-Tonnen-Lkw auf deutschen Straßen - Drucksache 16/2990 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Patrick Döring von der FDP-Fraktion das Wort. ({8}) 4) Anlage 8

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser späten Stunde reden wir heute das Plenum leer. ({0}) - Ja, Herr Tauss, das war eine Drohung. Sie können sich aber auch, wie die meisten Ihrer Kollegen, anderen Dingen widmen. ({1}) In den letzten Tagen haben wir in Deutschland eine interessante Diskussion zum Thema 60-Tonner erlebt. Da gibt es zum einen die Bundesregierung, die dem Land Niedersachsen bezüglich des laufenden Feldversuches vorwirft, dieser Feldversuch sei rechtswidrig. Im Gegenzug teilt uns der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages mit, dass die Rechtsauffassung des Bundesverkehrsministeriums nicht zutreffend sei und nicht der Rechtslage entspreche. ({2}) Zum anderen wird jetzt auch in Baden-Württemberg ein Feldversuch zu diesem Thema durchgeführt. ({3}) - Ja, Herr Hermann, das ist auch eine ordentliche Regierung! Gleichzeitig schreibt aber das Bundesverkehrsministerium in seiner Begründung, der Feldversuch in Niedersachsen sei deshalb nicht zu befürworten, weil die teilnehmenden drei Speditionen, unter anderem die Firma Boll aus Meppen, und die drei Referenzstrecken, auf denen das stattfindet, nicht repräsentativ seien. Zwei Fragen später wird uns dann mitgeteilt, einen umfassenden Feldversuch, wie ihn die FDP einfordert, soll es auch nicht geben, weil die Bundesregierung schon weiß, was dabei rauskommt. ({4}) Eins von beiden kann nur stimmen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sind dafür, dass wir uns erst einmal eine Meinung bilden. ({5}) Die Grünen haben dankenswerterweise und erwartungsgemäß ihren Antrag eingebracht und ({6}) gesagt: Das darf es auf deutschen Straßen niemals geben, das ist alles des Teufels. ({7}) Das findet allerdings jeden Tag statt, und zwar nicht von deutschen Spediteuren, sondern - wie Sie wissen von anderen europäischen Nachbarn, die diese LKW längst einsetzen und auch über deutsche Straßen fahren. Ich persönlich kann überhaupt nicht begreifen - und ich bin dankbar, dass der Kollege Beckmeyer da ist, denn er hat sich dazu mehrfach öffentlich geäußert -, ({8}) wie man dagegen sein kann, dass wir jetzt erst einmal ermitteln, wo man diese Art von LKW einsetzen kann und ob es tatsächlich zu Schäden kommt oder nicht. ({9}) - Nein, Sie wissen das eben auch nicht, Herr Tauss! Wir erleben, dass diese Verkehre seit vielen Wochen auf den drei Strecken in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen hervorragend funktionieren, dass es weder zu Schäden baulicher Art ({10}) noch zu Verkehrsunfällen mit diesen Fahrzeugen kommt, sondern dass schlicht und einfach die Anzahl von Fahrten und der CO2-Ausstoß verringert wird, weil diese Fahrzeuge mehr Ladung mitnehmen können. ({11}) Das ist doch der Zweck der Übung. ({12}) Wir alle wissen, dass der Güterverkehr in unserem Land insgesamt zunehmen wird. Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass diejenigen, die hier gleich wieder streng schienengläubig argumentieren werden, sagen: Es müssen mehr Güter auf die Schiene. Das wird mit Sicherheit passieren. Dafür kämpfen wir an anderer Stelle gemeinsam. Güter werden aber auch vermehrt auf der Straße transportiert werden. Wenn wir es schaffen können, auf bestimmten Strecken mit bestimmten Fahrzeugen mehr Güter mit weniger CO2-Ausstoß von A nach B zu transportieren, dann ist das - so glaube ich - der Mühe eines Feldversuchs wert. ({13}) Vonseiten des Deutschen Städtetages gab es zahlreiche Bemerkungen, warum das alles nicht geht. Dazu kann ich als jemand, der lange Jahre kommunalpolitisch tätig war, sagen: Die lehnen etwas ab, was keiner fordert. Niemand will, dass diese Fahrzeuge in Innenstädte fahren. Niemand will, dass diese Fahrzeuge an irgendwelchen Stadteinfall- oder Stadtausfallstraßen stehen und weder wenden noch nach links oder rechts abbiegen können. Auch die beteiligten Speditionen wollen das nicht. Die Firma Boll teilt das ausdrücklich mit.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit habe ich eine ganz kurze Frage: Wären Sie bereit, die Straße, in der Sie wohnen, als Teststrecke einzubeziehen?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Kollegin Bulling-Schröter, niemand will - das sagte ich gerade bereits -, dass Innenstadtstraßen von diesen Fahrzeugen befahren werden. Es geht um den Transport von Logistikzentrum zu Logistikzentrum, von Industriegebiet zu Industriegebiet. Wenn Sie sich zum Beispiel die Strecke von Emden zum VWWerk in Hannover, das in meinem Wahlkreis liegt, anschauen, dann stellen Sie fest, dass der Transport ausschließlich auf der Autobahn stattfindet. Da ich nicht an einer Autobahn wohne, stellt sich diese Frage für mich nicht. ({0}) Selbst diejenigen, die diese LKWs wollen, sagen: Dieser Verkehr findet auf Bundesstraßen und Autobahnen und nicht in Innenstädten statt. Darüber sind sich diejenigen, die diesen Feldversuch fordern, einig. Ich kann nicht begreifen, dass man sich dagegen wehrt, zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen. ({1}) Einige Mitglieder des Verkehrsausschusses hatten die große Freude, ein Land, das zugegebenermaßen weniger dicht besiedelt ist als die Bundesrepublik Deutschland, zu besichtigen. ({2}) Dort haben sie sich auch Informationen über 50 Meter lange LKW, die 166 Tonnen schwer sind, geben lassen. ({3}) Keines dieser Modelle wird in Deutschland jemals eingeführt. Darüber sind wir uns völlig einig, lieber Kollege Beckmeyer. ({4}) Dass man aber versucht, eine technische Innovation, eine Antwort auf die vermehrten Gütertransporte in unserem Land von vornherein abzuwürgen, indem man flächendeckende Feldversuche ablehnt, ist aus meiner Sicht völlig unbegreiflich. Deshalb werben wir, auch in der Ausschussberatung, dafür, dass wir zumindest auf den dafür infrage kommenden Strecken einen Feldversuch durchführen. Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Kollege Hubert Deittert von der CDU/CSU-Frak- tion hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit hat als nächste Rednerin die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-Fraktion, das Wort. ({0})

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir reden heute über extra lange und extra schwere LKWs. Die Bezeichnungen für diese Art neuer Nutzfahrzeuge reichen von „Monstertrucks“ bis zu „Eco-Kombis“. ({0}) Diese beiden Namen verdeutlichen die Bandbreite der Befürchtungen und Verheißungen, die mit dem Einsatz von 60-Tonnen-LKWs verbunden sind. Auf der einen Seite stehen die Risiken für die Verkehrssicherheit und die Verkehrsinfrastruktur, auf der anderen Seite Aspekte des Umweltschutzes. ({1}) Wenn ein PKW-Fahrer auf der Autobahn einen 60-Tonner überholt, muss er an 25,25 Meter vorbei. Der Überholvorgang dauert entsprechend länger. Unsicher und langsam fahrende Fahrer würde die unerwartet lange Dauer irritieren. ({2}) - Herr Döring, nicht alle fahren Porsche. - Was passiert, wenn 60 Tonnen auf andere Autos auffahren, kann man sich lebhaft vorstellen. Ob Leitplanken ein derartiges Gewicht auffangen könnten, ist ungewiss. Welche Auswirkungen das Befahren von Brücken mit so genannten Gigalinern auf Zustand und Stabilität hat, ist noch lange nicht untersucht. ({3}) Dass die Autobahnauffahrten und Kreisverkehre umgebaut werden müssten, damit die XXL-Trucks überhaupt um die Kurve kommen, ist sehr wahrscheinlich. ({4}) Im Bereich Verkehrssicherheit hat man gerade erst versucht, die große Zahl an Opfern unter den Radfahrern durch den toten Winkel der LKWs - wir haben diese Woche im Ausschuss darüber gesprochen - durch eine verbesserte Spiegeltechnik zu verringern. 1) Anlage 9 ({5}) Mit noch größerer Abmessung der Fahrzeuge droht dieser Sicherheitsgewinn wieder verloren zu gehen. ({6}) Viele Fragen zum Einsatz von 60-Tonnen-LKWs sind offen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat mehrere Untersuchungsaufträge zu diesem Thema an die Bundesanstalt für Straßenwesen erteilt. In einem ersten Schritt wurden bislang die straßenund fahrzeugseitigen Auswirkungen dieser Fahrzeugkonzepte, welche durch die neue Geometrie in sicherheits- und verkehrstechnischer Hinsicht zu erwarten sind, aufgezeigt und analysiert. Ebenso werden die Auswirkungen einer möglichen Erhöhung des Gesamtgewichts auf 60 Tonnen geprüft. In einem zweiten Schritt werden die möglichen Veränderungen bei der Verteilung der Güterverkehre - hören Sie gut zu, Herr Döring - sowie die möglichen Auswirkungen auf den kombinierten Verkehr ermittelt. Dass bei der Zulassung neuer Fahrzeugtypen das verkehrspolitische Ziel „Mehr Güter auf die Schiene“ - ich habe immer gedacht, dass wir uns da einig sind ({7}) nicht aus den Augen gelassen werden darf, ist wohl selbstverständlich. ({8}) Der Einsatz von Gigalinern führt aber genau zum Gegenteil, nämlich zu mehr Gütern auf der Straße. ({9}) Die Firma Kombiverkehr hat ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die Auswirkungen des Fahrzeugkonzepts von Gigaliner-LKWs auf den kombinierten Verkehr untersuchen sollte.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Döring?

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, es ist schon so spät. Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, dass 56 Prozent des derzeitigen Transportaufkommens in Höhe von etwa 50 Millionen Tonnen im kombinierten Verkehr in Deutschland durch einen Gigalinereinsatz gefährdet wären. Dies bedeutet ein Rückverlagerungspotenzial von 1,3 Millionen LKW-Fahrten auf das Fernstraßennetz. Der kombinierte Verkehr Schiene/Straße hätte mit Ladungsrückgängen von über einem Drittel zu rechnen. Moderne Verkehrspolitik umfasst alle Arten von Verkehrsträgern: Straßen, Schienenwege, Wasserwege und den Luftverkehr. Ziel der Bundesregierung ist es, dass alle Verkehrsträger zusammen ein leistungsfähiges und modernes Gesamtverkehrssystem bilden. ({0}) Investitionen im Schienenverkehr sind bedroht, wie aus der Branche berichtet wird. Schon heute führt das Vorpreschen der niedersächsischen Landesregierung zur Verschiebung von Investitionsentscheidungen beim kombinierten Verkehr, weil bei einer Nutzungsdauer der Eisenbahnwaggons von mindestens 15 Jahren durch die jetzt entstandene Planungsunsicherheit keine verlässlichen Geschäftsprognosen mehr möglich sind. Der Ausbau der LKW-Verladung auf die Schiene kommt also ins Stocken. Da aber Einigkeit in der Verkehrspolitik besteht, das deutsche Straßennetz nicht noch weiter mit LKWs zu belasten, muss dieser Irrweg beendet werden. ({1}) Ein Argument, das für die Einführung der Gigaliner angeführt wird, ist die Wachstumsprognose für den Güterverkehr. Der Güter- und übrigens auch der Personenverkehr sollen in den nächsten 15 Jahren um 45 bis 60 Prozent zunehmen. Um diese Perspektive zu bewältigen, bedarf es kreativer Lösungen, ({2}) die die Effizienz jedes Verkehrsträgers stärken. Aber eine grundsätzliche Offenheit für Innovationen im Nutzfahrzeugbereich bedeutet nicht, dass die Prüfung der Auswirkungen und Risiken nicht in gebotener Gründlichkeit durchgeführt wird. Das Bundesverkehrsministerium hat diesen Prüfauftrag angenommen und wird die Ergebnisse, sobald sie vorliegen, an den Bundestag weiterleiten. Nach Ansicht des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels ist es falsch, dass der Bund den bundesweiten Test nur aufgrund haltloser Ängste ablehnt. Der Euro-Kombi sei in den Niederlanden, Schweden und Finnland sicher. Der Praxistest werde zeigen, dass er auch in Deutschland sicher sei, meint Gerhard Riemann, Vorsitzender des BGA-Verkehrsausschusses. ({3}) - Hören Sie gut zu. Erfahrungen mit Gigalinern gibt es in Schweden und Finnland. ({4}) In diesen beiden skandinavischen Ländern dürfen Nutzfahrzeugkombinationen, welche mit 16,50 Metern bei Sattelschleppern und 18,75 Metern bei Gliederzügen die europäischen Längenbegrenzungen überschreiten, bereits seit längerem ohne Sondergenehmigungen auf öffentlichen Straßen bewegt werden. Das zulässige Zuggesamtgewicht darf nicht höher als 60 Tonnen sein. Bedingung ist, dass diese Fahrzeugkombinationen mit speziellen Sicherheitstechniken wie ABS ausgerüstet sind. Der Deutsche Städtetag vertritt meiner Meinung nach zu Recht die Ansicht, dass die in diesen Ländern gemachten Erfahrungen allein aufgrund der geografischen Gegebenheiten überhaupt nicht auf Deutschland übertragbar sind. Ebenso teile ich seine Auffassung, dass deutsche Städte völlig anders als US-amerikanische Städte, in denen auch Riesentrucks Durchfahrt finden, aufgebaut und strukturiert sind. ({5}) - Genau. ({6}) Die Spitze der Längengigantomiebewegung sitzt wohl in Australien. ({7}) Dass auch in den Niederlanden im Rahmen eines Großversuchs mit 300 Fahrzeugen Gigaliner getestet werden, ({8}) sieht die Europäische Kommission mit Skepsis. ({9}) Auch die EU-Kommission hat erkennen lassen, dass sie dem niederländischen Wunsch nach einer Öffnung des grenzüberschreitenden Verkehrs für Fahrzeuge mit einem zulässigen Gesamtgewicht von bis zu 60 Tonnen nicht nachkommen will. ({10}) Angeblich freut sich die Transportwirtschaft schon, durch die Umstellung auf 60-Tonnen-LKWs Mautkosten zu sparen. Es wäre ja wohl der totale Hohn, wenn sich die Transportunternehmen durch den Einsatz von Fahrzeugen, die unsere Infrastruktur in stärkerem Maße belasten, teilweise vor der Nutzerfinanzierung der Autobahnen drücken könnten. ({11}) Die entsprechende gesetzliche Regelung wäre in logischer Konsequenz schnell zu ändern. Mit einem Nutzfahrzeug mit einer Länge von 25,25 Metern und einem Gewicht von 60 Tonnen würde man gegenüber einem 40-Tonnen-Nutzfahrzeug 15 Prozent Kraftstoff und Emissionen pro Tonnenkilometer sparen - so die Berechnungen. ({12}) Dieser erfreuliche Umweltaspekt wäre allerdings dem vom Kombiverkehr prognostizierten Rückverlagerungspotenzial von der Schiene auf die Straße gegenzurechnen. Dass die Länder Baden-Württemberg und Niedersachsen unter dem Druck der Wirtschaft Sondergenehmigungen erteilt haben, halte ich für verantwortungslos. ({13}) Das Bundesverkehrsministerium hat die Länder aufgefordert, bereits erteilte rechtswidrige Ausnahmegenehmigungen zurückzunehmen. ({14}) Die gemeinsame Konferenz der Leiter der Abteilungen für Straßenbau und Verkehr sowie die Verkehrsministerkonferenz haben beschlossen, dass, bevor diese Fahrzeugkombinationen zugelassen werden, die gegenwärtig laufenden Untersuchungen abgewartet werden. Die nächste Verkehrsministerkonferenz findet im November dieses Jahres statt. Die FDP-Fraktion hat die sofortige Durchführung eines bundesweiten Feldversuchs über die Vor- und Nachteile von 60-Tonnen-LKWs gefordert. Allerdings ist schon bald mit einem neuen Antrag von Ihnen zu rechnen. Nachdem Sie sich für ein Sonderprogramm „Kommunale Brückenbauwerke“ eingesetzt haben, werden Sie sicherlich auch noch ein Bundesprogramm mit folgendem Titel fordern: „Alle Brücken Deutschlands umbauen, damit der Gigaliner darüber brettern kann.“ Die Frage, wie ein Vorhaben finanziert werden kann, stellt sich die FDPFraktion sowieso nicht. Der Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen wiederum trieft vor lauter Innovationsskeptizismus. ({15}) Wieso warten wir nicht die Ergebnisse der in Auftrag gegebenen Gutachten ab ({16}) und wägen dann auf wissenschaftlicher Basis die Vorund Nachteile ab, bevor wir eine totale Nichtzulassung beschließen oder gleich eine deutschlandweite Versuchsphase einläuten?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam machen.

Rita Schwarzelühr-Sutter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003847, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sofort fertig. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich sage nur eines: Sie haben schnell geschossen, aber nicht getroffen. Wenn ich die Ergebnisse der BASt-Studien in den Händen halte, diskutiere ich gerne mit Ihnen weiter. Danke. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Dorothée Menzner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Einsatz von 60-TonnenGigalinern soll der Wahnsinn wohl endgültig Vorfahrt erhalten. ({0}) Gleich zu Beginn sage ich: Die Linke im Bundestag lehnt den Vorschlag der FDP, einen Feldversuch mit solchen LKWs durchzuführen, ab. ({1}) Mit Ihrem Vorschlag verfolgen Sie nicht etwa das Ziel, überlastete Bundesfernstraßen zu entlasten. Es geht darum, Tulpen aus Amsterdam oder Zitronen aus Spanien zu transportieren. Diese Transporte, die auf unseren Autobahnen schon heute für endlose LKW-Schlangen verantwortlich sind, sollen billiger werden. ({2}) Es ist ziemlich egal, ob man 120 Tonnen in drei LKWs à 40 Tonnen oder in zwei LKWs à 60 Tonnen verteilt. ({3}) Summa summarum ist kaum ein Meter weniger Fahrzeug auf dem Asphalt. Aber diese Monster von 25 Metern Länge werfen eine Menge Probleme auf: ({4}) Wie fühlen Sie sich als Autofahrer, wenn Sie sich in einer Ausfahrt zwischen zwei solche LKWs quetschen müssen? Wie wollen Sie so ein langes Gefährt gefahrlos überholen, erst recht, wenn Sie ein nicht ganz so schnelles Auto fahren? Was passiert, wenn ein solcher LKW in enge Stadtstraßen abbiegen muss, um vielleicht zu dem Gewerbegebiet zu gelangen, wo er hin muss? ({5}) Wie will der Lenker Radfahrer oder Kinder im Blick behalten, wenn schon ein Erwachsener im Rückspiegel eines normalen LKW kaum auszumachen ist? Nicht zuletzt sind die Parkplätze auf unseren Raststätten nicht auf 25-Meter-Gespanne ausgelegt; gar nicht zu reden von den 37 000 Brücken in unserem Land. Allein in Sachsen-Anhalt gilt jede fünfte Brücke als zu schwach für diese 60-Tonner. Auch mir ist bekannt, dass diese langen Lastzüge in Finnland und Schweden mit Erfolg verkehren. Wir kennen auch die Roadtrains aus Australien. Aber diese dünn besiedelten Länder kann man nicht mit dem dicht besiedelten Mitteleuropa vergleichen. ({6}) Wir haben keine endlosen, einsamen Landstraßen in wüstenhaften Gegenden, ({7}) in denen kaum eine Menschenseele wohnt. ({8}) Uns fehlt es auch nicht an Schienensträngen. Im Gegenteil, wir haben ein engmaschiges Eisenbahnnetz. Und das Ziel der Bahnreform, für die wir alle uns immer wieder ausgesprochen haben, war es, mehr Güter auf die Schiene zu verlagern. ({9}) Im letzten Jahr schafften es die Bahnen, 95 Milliarden Tonnenkilometer auf die Schiene zu bringen. Die Straße erreichte kaum mehr das Dreifache: 310 Milliarden Tonnenkilometer. Wollen wir diese ersten, zaghaften Erfolge jetzt konterkarieren? Nicht umsonst wird erwähnt, dass die 60-Tonner weniger Sprit verbrauchen. Doch dies rechtfertigt keine schön klingenden Namen wie „Eco-Kombi“ oder „Ökolaster“. Denn ökologisch sind diese Monster-LKWs nicht. Sie passen nämlich nicht auf unsere Straßen. Diese 60-Tonner sind große Sattelschlepper mit Anhänger; das muss man sich bildlich vorstellen. ({10}) Sie schlagen vor, dass diese Lastzüge nur bis an die Stadtgrenzen fahren und die Anhänger separat in die Stadt gebracht werden. Ein zweiter Fahrer wird also nur in der Stadt gebraucht, während auf der Autobahn ein Fahrer genügt. ({11}) Die 60-Tonner sollen also die Personalkosten senken. Ich sage: Sie sollen Arbeitsplätze vernichten. ({12}) Die Nutzfahrzeugindustrie ist im Übrigen auch nicht begeistert: Sie befürchtet, weniger Zugmaschinen abzusetzen, sie befürchtet, sehr viel differenziertere Fahrzeuge anbieten zu müssen, und, nicht zuletzt, Arbeitsplätze abbauen zu müssen. Kolleginnen und Kollegen, unsere Entscheidungen müssen nachhaltig sein, nicht nur ökologisch, sondern auch sozial. Deswegen sagen wir klar Nein zu diesen LKWs. Danke. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Winfried Hermann, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. ({0})

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich dafür, dass ich heute das Schlusswort bekomme. Ich freue mich, dass es heute eine neue Allianz gibt, eine Allianz ({0}) gegen die Gigaliner, gegen die Monstertrucks auf der Straße. Die FDP sagt: Lasst uns einen umfassenden Feldversuch machen! Denen, die sagen, das brauchen wir nicht, hält sie vor, nicht offen zu sein. Aber eigentlich sind auch Sie schon festgelegt; das haben Sie deutlich gemacht. Nichts gegen Versuche, aber wenn die Folgen bestimmter Maßnahmen schon offenkundig sind, dann kann man sich den Versuch sparen. ({1}) Einige Folgen dieser Monstertrucks liegen so offenkundig auf der Hand, ({2}) dass man keine langen Versuche machen muss. Interessant ist ferner, wer solche Versuche machen will und wo sie gemacht werden: Daimler hat in Stuttgart sein neues Produkt Gigaliner einführt für den Verkehr zwischen zwei Werken, auf einer Strecke, die mit Schienen bedient werden kann, zum Transport von Material, das sich originär für den Schienentransport eignet. Da wird doch klar, worum es geht: Dieser Versuch ist kein offener Versuch, sondern es geht darum, den ersten Schritt zu unternehmen, ein neues Produkt am Markt anzubringen. ({3}) Das ist der Grund, weshalb wir sagen: Nein, wir wollen keine Monstertrucks auf deutschen Autobahnen. Es gibt inzwischen auch längst Versuche dazu. Bei der Einführung des 40-Tonners gab es in der Schweiz eine sehr genaue Untersuchung, in der nachgewiesen wurde - auch hier hätte man übrigens sehr ökologisch argumentieren und sagen können, dass man durch die Erhöhung von 28 auf 40 Tonnen einige LKWs einspart -, ({4}) dass als Folge davon deutlich mehr Verkehr auf die Straße kam, wodurch der Schienenverkehr, der in der Summe deutlich ökologischer ist, geschwächt wurde. Nun sagen Sie, dass das doch ein ökologisches Argument ist. Dem will ich mich gerne stellen. Es ist schon interessant - das will ich Ihnen jetzt nicht unterstellen -, wenn ausgerechnet Leute aus der Automobilindustrie, denen die Ökologie gemeinhin sozusagen irgendwo vorbeigeht, plötzlich ökologisch argumentieren. Dann werden wir natürlich hellhörig. Es ist einfach eine Rosstäuscherei, zu behaupten, durch die Umstellung auf größere Trucks würde die Belastung um 50 Prozent verringert. Auf dieses Ergebnis kommt man nur, wenn man ganz einfach rechnet. Wenn am Schluss in der Summe aber mehr LKWs fahren und weniger Verkehr auf die Schiene geleitet wird, dann ist die gesamtökologische Bilanz natürlich erheblich schlechter. ({5}) Das wird durch Ihre einfache und billige Ökologierechnung nicht deutlich und damit blenden Sie sich selber. ({6}) Sie merken nicht, dass dies eigentlich ein neues Produkt ist, um die Fahrt zur nächsten Fabrik zu verbilligen. Das bedeutet im Wesentlichen kein Einsparen von CO2Emissionen, sondern nur von Kosten, was zu einer Besserstellung des LKW-Verkehrs im Vergleich zum Schienenverkehr führt. Wir befürchten, dass es letztendlich darum geht. Das ist der große Schaden. Die anderen Probleme, die angesprochen worden sind, will ich nur noch einmal kurz erwähnen, weil die Rednerinnen und Redner vor mir das auch schon deutlich gesagt haben. Man kann jetzt natürlich sagen, dass man mit den langen LKWs gar nicht in die Städte und Zentren hinein will. Dahin werden sie auch nie kommen. Natürlich werden sie aber auch nicht nur auf wenigen Autobahnen fahren, sondern man wird die Industriegebiete einschließen. So kommen dann nach und nach mehr Städte, die diese LKWs auch zulassen wollen. Schließlich wird der Effekt erzielt, dass der Nutzen weniger Transporteure, die mit größeren LKWs kostengünstiger transportieren können, von der Allgemeinheit zu bezahlen ist, indem anschließend die Brücken nachgebaut, die Kreisverkehre vergrößert und die Straßen deutlich häufiger saniert werden müssen. Ich sage: Hier wird privater Nutzen am Schluss durch die Allgemeinheit bezahlt. Ich komme zum Schluss, weil die Lampe am Pult leuchtet: Wir sind klar und eindeutig gegen die Einführung dieser Monstertrucks. Das wird zulasten der Schiene und letztlich auch zulasten der Umwelt gehen. Die Argumente, die Sie bringen, sind pseudoökologisch. ({7}) Ich sage Ihnen eines: Wir Grüne sind für deutlich mehr und längere Lastzüge, aber bitte schön auf der Schiene. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/2683 und 16/2990 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/2683 zu Tagesordnungspunkt 20 soll zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen damit zum Zusatzpunkt 12: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze bei innergemeinschaftlichen Verstößen - Drucksache 16/2930 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Die Kolleginnen und Kollegen Julia Klöckner, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Michael Goldmann, Dr. Kirsten Tackmann und Ulrike Höfken haben ihre Reden zu Pro- tokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich eine Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2930 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Markus Kurth, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 10 Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes - Drucksache 16/1171 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Jürgen Gehb, Dr. Carl-Christian Dressel, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Ulla Jelpke und Volker Beck haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Damit verzichten wir auf die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/1171 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Doha-Runde wieder beleben - WTO-Generaldirektor als Schlichter einsetzen - Drucksache 16/2658 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Kolleginnen und Kollegen Erich Fritz, Dr. Ditmar Staffelt, Gudrun Kopp, Ulla Lötzer und Margareta Wolf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/2658 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. Oktober 2006, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.