Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/8/2003

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Die Kollegin Dr. Margrit Spielmann feierte am 29. April ihren 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich nachträglich sehr herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Situation im Hinblick auf das akute Atemwegssyndrom ({1}) in der Bundesrepublik ({2}) 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Opferrechte stärken und verbessern - Drucksache 15/936 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 27. August 2002 zum Abkommen vom 14. No- vember 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und Kanada über Soziale Sicherheit - Drucksa- che 15/881 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. September 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Slowakischen Republik über So- ziale Sicherheit - Drucksache 15/883 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft - Drucksache 15/882 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({5}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung von Legehennen ({6}) - Drucksache 15/905 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Götz-Peter Lohmann, Dagmar Freitag, Helga Kühn-Mengel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Petra Selg, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Durch Bewegung und Sport Gesundheit und Prävention fördern - Drucksache 15/931 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({7}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({8}) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Änderung des Zeitraumes für den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Auszahlungen und die Zusammenarbeit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit den Partnerorganisationen und den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Drucksache 15/938 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung, Praxistauglichkeit des Hartz-Konzeptes und Ausbaupläne des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union - Drucksache 15/918 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({9}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Redetext Präsident Wolfgang Thierse Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Bahr ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheitsund Verteidigungs-Union ({11}) über den Europäischen Verfassungskonvent vorantreiben - Drucksache 15/942 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({12}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Finanzplatz Deutschland weiter fördern - Drucksache 15/930 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, Volker Beck ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({15}), Cornelia Pieper, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ({16}) - Drucksache 15/935 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 10 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 15/879 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({17}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO 11 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung ({18}) - Drucksache 15/908 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({19}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralf Göbel, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ausschreibung des BOSDigitalfunks im Jahr 2003 einleiten - Drucksache 15/816 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({20}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Dr. Peter Paziorek, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Unterstützung für eine Bewerbung des Standortes Greifswald/Lubmin für den ITER ({21}) - Drucksache 15/929 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({22}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 14 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({23}) - Drucksachen 15/420, 15/522 - ({24}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern ({25}) - Drucksache 15/538 ({26}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({27}) - Drucksache 15/955 Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Dr. Michael Bürsch Hartmut Koschyk Erwin Marschewski ({28}) Josef Philip Winkler Dr. Max Stadler b) Bericht des Haushaltsausschusses ({29}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/951, 15/960 Berichterstattung: Abgeordnete Susanne Jaffke Klaus Hagemann Otto Fricke 15 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes - Drucksache 15/805 ({30}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({31}) - Drucksache 15/969 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz Thomas Strobl ({32}) Volker Beck ({33}) 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Ursula Heinen, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Missbrauch Präsident Wolfgang Thierse von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und umfassend bekämpfen - Drucksache 15/919 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({34}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 14 - europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwanderungspolitik - und den Tagesordnungspunkt 18 d - Gentechnikrecht - abzusetzen. Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam: Der in der 40. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung - Drucksache 15/800 überwiesen: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Der in der 41. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Abgeordneten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Jerzy Montag, HansChristian Ströbele, Volker Beck ({35}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung und zur Änderung anderer Gesetze - Drucksache 15/813 überwiesen: Rechtsausschuss ({36}) Innenausschuss Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne haben die Präsidentin der Nationalversammlung der Republik Ungarn, Dr. Katalin Szili, und ihre Delegation Platz genommen, die ich herzlich willkommen heiße. ({37}) Im September 1989 hat Ungarn mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs das Tor zur Wiedervereinigung Deutschlands und Europas aufgestoßen. Mit dem bevorstehenden Beitritt zur Europäischen Union vollendet sich für Ihr Land der Weg, der damals begonnen wurde. Sie können gewiss sein, dass wir Deutschen den Mut und die Freiheitsliebe, die Ungarn 1989 nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte bewiesen hat, nicht vergessen werden. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen in der Europäischen Union demnächst gemeinsam die Zukunft Europas gestalten zu können. Ich hoffe, dass Sie bei Ihren Gesprächen und Begegnungen die freundschaftliche Dankbarkeit spüren werden, die wir für Ihr Land empfinden. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Berlin. ({38}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung: Zukunft sichern - Globale Armut bekämpfen Es liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den Tag genau heute vor 58 Jahren haben die Vereinigten Staaten von Amerika mit anderen zusammen unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. Wir alle, auch ich ganz persönlich, danken dem amerikanischen Volk dafür. ({0}) Die USA haben die Zukunft Berlins in schwerer Zeit gesichert und die Vereinigung unseres Landes ermöglicht. Die engen Bindungen zu den USA und ihren Bürgern und Bürgerinnen werden deshalb immer fortbestehen und nicht durch Meinungsunterschiede - sollten diese auch in noch so wichtigen Fragen bestehen - berührt. In den letzten Monaten hat sich die ganze Welt mit der Einlösung der Resolution 1441 des UN-Sicherheitsrates befasst; jeder kannte diese Ziffer. Ich möchte, dass alle politisch Handelnden und die Weltöffentlichkeit mit der gleichen Leidenschaft auch für die Umsetzung der Resolution 55/2 der UN-Generalversammlung arbeiten, mit der die Staats- und Regierungschefs im September 2000 beschlossen haben, der Armut entgegenzutreten und sie drastisch zu reduzieren. Dies ist eine wichtige weltweite Aufgabe für die Zukunft. ({1}) Bis zum Jahr 2015 soll der Anteil der Menschen, die von weniger als 1 US-Dollar am Tag leben müssen, halbiert werden. Tatsächlich sind Taten notwendig: 1,2 Milliarden Menschen - ich sagte es - leben von weniger als 1 US-Dollar am Tag und sind damit extrem arm. 113 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter können nicht zur Schule gehen. Täglich sterben 6 000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Diese Zahlen müssen uns aufrütteln. Aber - auch das muss ich sagen - wir haben auf der Frühjahrstagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds vor gerade einem Monat einen Bericht zur Umsetzung dieser Ziele gehört. Dabei wurde festgestellt, dass sich die Rahmenbedingungen zur Erreichung dieser Ziele drastisch verschlechtert haben. Die Gründe liegen in der weltwirtschaftlichen Situation, den direkten und indirekten Auswirkungen des Irakkrieges, den mangelnden Fortschritten im Welthandel und dem drastischen Einbrechen bei den ausländischen Direktinvestitionen. Für einzelne Länder kommt dann noch die dramatische Belastung aufgrund der SARS-Epidemie hinzu. Bei der Fortschreibung der derzeitigen Trends - es ist wichtig, dass wir uns das vor Augen führen - bis zum Jahr 2015 wäre es zwar möglich, das Ziel, den Anteil der Armen weltweit zu halbieren, zu erreichen; aber die Umsetzung dieses Ziels hängt davon ab, ob Länder wie China und Indien besondere Erfolge erringen. Viele Länder in Afrika würden dieses Ziel jedoch verfehlen. Deshalb muss die Schlussfolgerung sein, sowohl die Anstrengungen zur Entwicklungsfinanzierung - nach Angaben der Weltbank brauchen wir weltweit zusätzlich 50 Milliarden US-Dollar -, besonders bezogen auf Afrika, zu verstärken als auch endlich Beschlüsse zur Beseitigung handelspolitischer Diskriminierungen der Entwicklungsländer zu erreichen. Wir sind entschlossen, diese Verpflichtungen auch umzusetzen. ({2}) Meine Sorge war und ist: Wenn Kriege wieder als normales Instrument von Politik betrachtet werden, besteht die extreme Gefahr einer Verschiebung der Gewichte auf der internationalen Tagesordnung. Schon seit dem Jahr 2000 sind die weltweiten Rüstungsausgaben wieder drastisch angestiegen. Ein neuer weltweiter Rüstungswettlauf muss vermieden werden; denn er würde Mittel und Aufmerksamkeit von der großen, zentralen Aufgabe der Armutsbekämpfung ablenken. Das dürfen wir nicht zulassen. ({3}) Wir müssen die Mittel auf den Kampf gegen Armut, Ungerechtigkeit, Hunger und Unwissenheit konzentrieren. Jenseits aller aktuellen Diskussion empfinde ich es als einen niemals hinzunehmenden Skandal, dass Mittel für Krieg in Milliardenhöhe schlagartig mobilisiert werden können, im Kampf gegen Armut und gegen das Sterben von Kindern aber um jeden Dollar und jeden Euro zusätzlich gerungen werden muss. ({4}) Allein der Nachtragshaushalt, den die amerikanische Regierung zum Irakkrieg vorgelegt hat - 80 Milliarden USDollar -, beträgt ungefähr das Anderthalbfache dessen, was alle Industriestaaten jährlich an Mitteln zur Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Im Jahre 2002 waren das 57 Milliarden US-Dollar. Prävention ist nicht nur menschenwürdiger, sondern auch billiger und verantwortungsbewusster. Wir alle spüren doch täglich, dass wir nicht auf einer Insel leben, dass uns global verursachte Umweltkatastrophen erreichen sowie Unsicherheit und Gewalt zunehmen. Deshalb möchte ich uns allen einprägen: Entwicklungszusammenarbeit ist die kostengünstigste Sicherheitspolitik. Das gilt auch für unsere eigene Sicherheit. Mit unserer Entwicklungszusammenarbeit leisten wir daher einen Beitrag zu unserer eigenen Sicherheit. ({5}) Die Mittel, die der Kollege Struck in seinem Bereich auch für die Prävention einsetzt, möchte ich dabei nicht gering schätzen. ({6}) - Offensichtlich hat dich meine letzte Bemerkung gefreut. ({7}) Deshalb arbeiten wir weltweit als Partner für Entwicklung und Frieden zusammen. In dieser globalen Partnerschaft für Entwicklung tragen übrigens alle Beteiligten Verantwortung: Die Entwicklungsländer müssen dafür sorgen, dass verantwortliche Regierungsführung praktiziert und Korruption bekämpft wird. Aufseiten der Industrieländer geht es um Investitionen, Kredite, Beratung, Technologietransfer, Marktöffnung und um die Schaffung gerechter internationaler Strukturen. Das von der Bundesregierung vorgelegte Aktionsprogramm 2015 formuliert das Armutsbekämpfungsziel für diesen Zeitraum und setzt dabei die Ziele in folgenden drei Ländergruppen um - ich bitte Sie, dies zu verstehen -: Erstens geht es um die Zusammenarbeit mit den Ländern, die eine besonders verantwortliche Regierungsführung zeigen. Dabei wollen wir zukünftig verstärkt auch die „Neue afrikanische Initiative“ erreichen und unterstützen. Zweitens geht es aber auch um die Zusammenarbeit in Krisenregionen und in politisch instabilen Ländern, um zur Lösung von Konflikten beizutragen und um rechtsstaatliche Institutionen und gesellschaftliche Offenheit zu fördern. Drittens geht es um Zusammenarbeit beim gesellschaftlichen und staatlichen Aufbau nach Krisen, KrieBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul gen oder Bürgerkriegen, wie etwa in Südosteuropa oder auch in Afghanistan. Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders enttäuscht zeigen sich die Entwicklungsländer weltweit davon, dass die Industrieländer ihre Ankündigungen bisher nicht eingelöst haben, aus der Doha-Handelsrunde eine Entwicklungsrunde zu machen. Sie sind zu Recht enttäuscht. Alle hehren Sprüche über die Segnungen des freien Handels und der Marktwirtschaft müssen für die Menschen in den Entwicklungsländern hohl klingen, solange nach wie vor die Praxis der Exportsubventionen im Agrarbereich fortgesetzt und den Entwicklungsländern damit unfaire Konkurrenz auf den Weltmärkten und in ihren eigenen Ländern gemacht wird. Das ist nicht hinnehmbar. ({8}) Sie werden sich auch so lange enttäuscht fühlen, wie ihnen die im Jahr 2001 zugesagte verbilligte Einfuhr von Arzneimitteln für die Bekämpfung von Epidemien nicht ermöglicht wird. Ich weise darauf hin, dass es ein Land gibt, das sich unter dem Einfluss seiner Pharmakonzerne einer solchen Regelung widersetzt hat. Ich fordere die Regierung dieses Landes und die internationale Gemeinschaft insgesamt auf, diese Regelung zur verbilligten Einfuhr von Medikamenten in Entwicklungsländer zur Bekämpfung von Epidemien umgehend umzusetzen und die Entwicklungsländer nicht weiter zu enttäuschen. ({9}) Wenn in diesem Bereich keine Veränderungen stattfinden, wird auch die Konferenz von Cancun im September keine Fortschritte erzielen. Wir setzen auf das Auslaufen der Agrarexportsubventionen generell und wir unterstützen den Vorschlag des französischen Präsidenten Chirac, der jetzt ein Moratorium bei den Exportsubventionen gegenüber den afrikanischen Ländern für die Dauer der WTO-Verhandlungen fordert. Wie gesagt, der Abbau dieser Exportsubventionen ist weltweit notwendig; aber es ist wichtig und gut, wenn - insbesondere auf Afrika bezogen - erst einmal mit einem solchen Schritt ein Signal gesetzt wird. Lassen Sie mich an ein paar Beispielen deutlich machen, wie wir versuchen, die Ziele bei der Bekämpfung der Armut umzusetzen, die sich die internationale Gemeinschaft im Jahr 2000 vorgenommen hat. So haben wir die Entschuldungsinitiative für die Entwicklungsländer beschlossen. Sie müssen seit dieser Zeit eigene Pläne zur Bekämpfung der Armut und der Arbeitslosigkeit in ihrem Land vorlegen. Daran müssen sie die Zivilgesellschaft beteiligen. Das können Sie sich vielleicht an folgendem Beispiel verdeutlichen: In einem Land wie Tansania kommen Finanzmittel aus der Entschuldung zum Beispiel den Schulen zugute, damit Kinder in die Schule gehen können. Nichtregierungsorganisationen unterstützen diese Schulen und die Kinder dabei und legen offen, welche Mittel aus der Entschuldung wirklich vor Ort angekommen sind und für Schulbücher, für Klassenräume usw. verwendet wurden. Das ist nicht nur ein Beitrag dazu, verstärkt Kontrolle auszuüben und die Wirksamkeit der Maßnahmen zu verstärken, sondern auch dazu, die Zivilgesellschaft und die Demokratie zu fördern sowie dafür zu sorgen, dass die Mittel aus der Armutsbekämpfung und der Entschuldung tatsächlich den Menschen vor Ort zugute kommen - ein gutes Beispiel, denke ich. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut verbinden wir - das muss man im Zusammenhang sehen - zum einen Ernährungssicherheit, zum anderen aber auch die Stärkung der Rechte der Frauen, Initiativen für eine Energiewende, für den Zugang zu sauberem Trinkwasser und für die Chance, dass alle Kinder vom siebten bis zum 14. Lebensjahr wenigstens die wichtigste Grundbildung erhalten. Lassen Sie mich mit der Bekämpfung des Hungers beginnen. Die deutsche Politik steht fest zu dem internationalen Ziel, das Recht auf Nahrung weltweit durchzusetzen. Es ist ein Skandal, dass immer noch fast 800 Millionen Menschen hungern, obwohl genug Nahrungsmittel für alle Menschen produziert werden. ({11}) Wichtigste Aufgabe unserer Politik ist deshalb, dazu beizutragen, dass der Zugang zu Land und Ressourcen in den Partnerländern gesichert wird und dass die EUAgrarpolitik geändert wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen übrigens - das ist wichtig - nicht nur die ärmsten Entwicklungsländer, sondern auch die Länder wie Brasilien, die selbst einen anderen Weg einschlagen wollen. Brasilien versucht mit seiner Aktion „Null Hunger“ - „Fome Zero“ -, dazu beizutragen, dass die armen Menschen in ihrem Land eine gute Perspektive haben. Das kann und muss ein ansteckendes Symbol für ganz Lateinamerika und für die Entwicklungsländer insgesamt sein. ({12}) Es geht uns um die Verbesserung der Grundbildung. Wir werden unsere Neuzusagen für Grundbildung inklusive beruflicher Bildung von 135 Millionen Euro im Jahr 2002 auf 150 Millionen Euro im Jahr 2003 steigern. Es geht uns um die Stärkung der Rolle der Frauen. Ich will auf den Arab Human Development Report der Vereinten Nationen hinweisen. Er führt die Tatsache, dass arabische Länder zum Teil in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurückbleiben, unter anderem darauf zurück, dass Frauen in diesen Ländern nicht ausreichend in die gesellschaftlichen und politischen Prozesse einbezogen sind. Deshalb ist die Stärkung der Rolle der Frauen eine wichtige Aufgabe im Interesse ihrer selbst, vor allen Dingen aber auch ein Beitrag zu Modernisierung, Reformfähigkeit und Aktivitäten im Sinne der wirtschaftlichen Entwicklung. Das zu stärken ist eine ganz wichtige, zentrale Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit. Es geht auch darum - das tun wir -, dafür zu sorgen, dass Frauen Zugang zu den Familienplanungsmöglichkeiten haben. Sie müssen ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wahrnehmen können. Sie müssen selbst entscheiden können, wie viele Kinder sie haben wollen. Sonst können sie ihre Möglichkeiten der Familienplanung überhaupt nicht nutzen und haben keine Chance. Liebe Kolleginnen und Kollegen, weltweit leben 42 Millionen Menschen mit HIV/Aids. Auch das ist ein Aktionsfeld im Bereich der Armutsbekämpfung. In unserer Regierungszeit haben wir den Kampf gegen HIV/ Aids jährlich - wir werden das auch im kommenden Jahr tun - mit 300 Millionen Euro bilateral, über die Weltbank, aber auch über die Europäische Union unterstützt. Was brauchen wir in Bezug auf eine neue Energiezukunft? Die Ausgangslage ist dramatisch: Die Industrieländer verbrauchen 75 Prozent der Energie, während 2,4 Milliarden Menschen, also 46 Prozent der Weltbevölkerung, keinen Zugang zu kommerzieller Energie haben. Wenn wir das Ziel der Armutsbekämpfung überhaupt erreichen wollen, dann müssen wir diesen Menschen Zugang zu Energie eröffnen. Dabei ist klar, dass das nicht nach den alten Mustern des Energieverbrauchs und der Energieerzeugung erfolgen kann. Sonst wäre der ökologische Kollaps programmiert. Wenn wir die Investitionen erreichen wollen, die in diesem Bereich notwendig sind, müssen wir Energieeffizienz und erneuerbare Energien fördern. ({13}) Da haben wir einen besonderen Schwerpunkt, der wichtig für die internationalen Beziehungen ist. Wir werden im nächsten Jahr eine Konferenz für erneuerbare Energien durchführen und dabei die globale Koalition für erneuerbare Energien stärken. Es geht darum, eine neue Energiezukunft für die Welt zu ermöglichen, eine Zukunft, die nachhaltig und partnerschaftlich ist und auch deshalb niemals das Mittel Militär zur Ressourcensicherung einsetzt. Dies ist die Perspektive, die für die europäischen Länder von Bedeutung ist. Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, dann müssen wir die Entwicklungsfinanzierung stärken. Ich weise darauf hin, dass zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 nach langen Jahren des Sinkens und der Stagnation der offiziellen Entwicklungshilfe die Ausgaben der Geberländer weltweit gestiegen sind, und zwar von 53 Milliarden US-Dollar auf 57 Milliarden US-Dollar. Das wird aber nicht ausreichen. Die deutschen Entwicklungshilfezahlungen sind zwar von 2001 auf 2002 um 369 Millionen US-Dollar auf 5,359 Milliarden US-Dollar gestiegen, was eine Steigerung um gut 7 Prozent ist. Aber der Anteil am Bruttonationaleinkommen ist bei 0,27 Prozent geblieben. Wir halten an dem Ziel fest - das werden wir umsetzen -, bis 2006 einen Anteil von 0,33 Prozent, wie zugesagt, zu erreichen - trotz aller Konsolidierungsbemühungen, die ich kenne. Aber wir müssen dieses Ziel einlösen, um das zu erreichen, was ich eben skizziert habe. ({14}) Insgesamt ist auch die Entschuldungsinitiative ein großer Fortschritt. 26 Länder haben bisher einen Schuldenerlass erhalten. Das entspricht einem Umfang von 41 Milliarden US-Dollar. Unter Hinzurechnung traditioneller und zusätzlicher freiwilliger Erlassmaßnahmen beträgt die Entlastung bisher circa 60 Milliarden USDollar. Das ist ein großer Schritt neben der Entwicklungsfinanzierung, die ich genannt habe. Uns alle - ich habe es zu Beginn angesprochen - hat in den letzten Monaten der Krieg im Irak umgetrieben, ein Krieg, den wir nicht gewollt haben und den wir wie Millionen von Menschen überall in der Welt bis zuletzt zu verhindern gesucht haben. Jetzt sagen manche, der Krieg sei doch ganz glimpflich verlaufen, und fragen, warum wir den Krieg kritisiert hätten. Aber ist es glimpflich, wenn Zehntausende Zivilisten und Soldaten ihr Leben verlieren, ({15}) wenn Tausende von Kindern körperlich und seelisch schwer verletzt und für ihr Leben geschädigt werden, wo doch die Perspektive der nicht militärischen Entwaffnung bestand? - Ich sage: Nein. ({16}) Der Krieg ist militärisch gewonnen. Saddam Hussein ist gestürzt und das ist gut. Aber der Frieden ist noch lange nicht erreicht. Das zeigen uns die Bilder täglich. Jetzt geht es darum, Frieden zu schaffen und dem irakischen Volk tatsächlich die Freiheit von Diktatur und Fremdherrschaft zu geben. Nur die Vereinten Nationen haben dafür die Legitimität. Die Menschen im Irak müssen allein über die Ölvorkommen und die Erlöse aus den Ölgeschäften verfügen und entscheiden dürfen. Dafür müssen die Vereinten Nationen sorgen. ({17}) Das wird im Übrigen bei der Beratung der anstehenden UN-Resolution deutlich werden und wird dann gemeinsam mit der Frage der Aufhebung der Sanktionen zu beschließen sein. Ich möchte zum Schluss auf die Hilfe hinweisen, die wir schon heute für die Menschen im Irak faktisch leisten. Die Bundesregierung hat sich im Irak mit 50 Millionen Euro direkt engagiert, um die unmittelbare Not der Menschen zu lindern. Mit diesem Geld unterstützen wir UN-Hilfsorganisationen, das Internationale Rote Kreuz und auch private und kirchliche Hilfsorganisationen. An dieser Stelle fordere ich noch einmal ausdrücklich: Alle Hilfsorganisationen müssen ungehinderten Zugang zu den leidenden Menschen haben, unabhängig von militärischer Kontrolle und militärischem Einfluss. ({18}) Mit unserer Finanzierung liefert das Welternährungsprogramm täglich 2 000 Tonnen Lebensmittel in den Irak. Das Internationale Rote Kreuz baut allmählich die Wasserversorgung im Irak mit auf und nimmt sich der Versorgung in den Krankenhäusern an. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen aber mitteilen - ich stehe sowohl mit dem zuständigen EUKommissar als auch mit Cap Anamur, die sich nach wie vor im Land aufhalten, in Kontakt -, dass die Lage besonders in den Slums von Bagdad nach wie vor dramatisch ist. Die Versorgung der Bevölkerung ist in keiner Weise gesichert. Deshalb war es wichtig, dass am 6. Mai der erste Hilfsflug der Europäischen Union medizinische Hilfsgüter im Wert von 10 Millionen Euro nach Bagdad gebracht hat. Wir unterstützen die Europäische Union im Umfang von 100 Millionen Euro für Nothilfe und Wiederaufbau. Deutschland ist damit zu rund einem Viertel an der Finanzierung beteiligt. Wir stehen in enger Verbindung mit dem Internationalen Roten Kreuz und anderen Organisationen wie dem Hammer Forum, die besonders schwer verletzte Kinder aus dem Irak zur Behandlung nach Deutschland holen wollen. Nachdem bisher nur US-Flugzeuge im Irak landen konnten, war die Möglichkeit, Kinder auszufliegen, nicht gegeben. Jetzt besteht diese Möglichkeit und wir werden sie zugunsten der verletzten Kinder nutzen. Wir freuen uns, dass das Hammer Forum bereits Zusagen für Betten in deutschen Krankenhäusern erhalten hat. ({19}) Die Weltbank selbst wird - auch aufgrund unserer Anregungen und mit unserer Unterstützung - mit einer eigenen Kommission im Land vertreten sein, um Empfehlungen für den Wiederaufbau zu geben. Finanzielle Darlehen kann sie aber erst dann vergeben, wenn eine legitimierte Regierung oder ein entsprechender Beschluss des UN-Sicherheitsrats sie dazu auffordert. Der Wiederaufbau wird - selbstverständlich unter der Autorität der Vereinten Nationen - so wichtige Bereiche wie den Aufbau des Gesundheitswesens und des Bildungswesens, den Aufbau des Landes und die notwendigen Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen umfassen müssen. Wir sind darauf vorbereitet, in diesem Rahmen weitere Hilfe zu leisten, und werden uns im Rahmen unserer Möglichkeiten engagieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fühle mich in unserer schwierigen, aber so notwendigen Arbeit immer wieder durch vielfältige Unterstützung und auch entsprechende Anregungen und Anerkennung ermutigt. Die Kirchen würdigen, dass wir Armutsbekämpfung als überwölbendes Ziel für alle Bereiche der deutschen Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen. Die Anerkennung ist nicht nur national, sondern auch international. Das Zentrum für globale Entwicklung in Washington hat einen Index entwickelt, der bewertet, wie sich die Politik der 21 wichtigsten Industrieländer auf die Entwicklungschancen der ärmsten Länder auswirkt. Ich möchte Ihnen mit großer Freude in Erinnerung rufen, dass die Bundesrepublik in diesem so genannten Development Friendliness Index an der Spitze der G-7Länder liegt. Ich denke, das ist eine wichtige Anerkennung der Politik, die wir zugunsten der Entwicklungsländer leisten. ({20}) Diese Anerkennung und Auszeichnung bestärkt uns darin, weiterhin entschlossen für eine progressive und starke Entwicklungspolitik einzutreten, die mit vielfältigen Partnerschaften und Allianzen mit allen gesellschaftlichen Gruppen arbeitet. Wir müssen es gemeinsam schaffen, die Ziele der Armutsbekämpfung zu erreichen. Dazu müssen und werden wir die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit, wie versprochen, ausweiten und uns auch durch aktuelle Krisen nicht ablenken lassen. Die Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch die Generationen, die nach uns kommen, werden uns danach bewerten, was wir getan haben, um globale Armut zu bekämpfen, Globalisierung gerecht zu gestalten, eine gerechte Weltordnung zu erreichen und den Frieden zu sichern. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist sich ihrer Verantwortung bewusst und sie nimmt ihre Verantwortung wahr. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Debatten über Entwicklungspolitik haben immer zwei Adressaten: die Menschen in den Zielländern, deren Entwicklung wir befördern wollen, und unsere eigenen Bürger und Steuerzahler in Deutschland, deren Unterstützung wir brauchen und um die wir werben. Die Botschaft an unsere eigenen Bürger lautet: Entwicklungspolitik macht Sinn; sie macht die Welt besser und sie sichert auch die Zukunft unseres Landes. Wir müssen deutlich machen: Es war auch die Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die dazu beigetragen hat, dass in der Tat viele Länder eine zum Teil phänomenale wirtschaftliche und soziale Entwicklung durchlaufen haben, dass vielerorts das Bevölkerungswachstum eingedämmt wurde, dass dafür Lebenserwartung und Alphabetisierungsrate gestiegen sind und dass es in Schwellen-, Entwicklungs- und Transformationsländern noch nie so viele Demokratien gegeben hat wie heute. Wir müssen unseren Bürgern aber auch sagen, dass wir unsere Anstrengungen verstärken müssen; denn trotz aller Erfolge sind die Probleme gewachsen und wachsen weiter. Die Einkommensschere zwischen Industrie- und Entwicklungsländern klafft weiter auseinander, ebenso wie die Chancenunterschiede in den Entwicklungsländern immer krasser werden. Korruption, schwache Strukturen, Misswirtschaft, Umweltzerstörung und gewalttätige Konflikte hemmen vielerorts eine weitere Entwicklung und lassen für viele Länder die Globalisierung eher zum Risiko als zur Chance werden. Gerade aber in Zeiten der Globalisierung lassen sich soziale Konflikte, aber auch Natur- und Gesundheitskatastrophen sowie Wirtschaftskrisen in der früher so genannten Dritten Welt weder von Europa - das gilt auch für Deutschland noch von den USA fern halten. Der 11. September 2001 ist dafür ein Menetekel. Deswegen müssen wir unseren eigenen Bürgern verdeutlichen: Trotz hoher Arbeitslosigkeit in Deutschland und eigener politischer Misswirtschaft - Entwicklungspolitik ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch Sicherung der eigenen Zukunft. ({0}) Sie ist kein politischer Luxus, sondern politische Hausaufgabe. Sie dient der Gefahrenabwehr, der Beseitigung ökologischer und sozialer Zeitbomben sowie der Sicherung von Zukunftsmärkten für unsere Wirtschaft. Um aber zu überzeugen und Widerstände zu überwinden, reichen Horrorvisionen und Appelle nicht aus. Wir brauchen auch überzeugende Konzepte. Das bedeutet auch in der Entwicklungspolitik klare Definition der Ziele und Interessen, durchdachte Schwerpunktsetzung und Wahl der Instrumente, effiziente Umsetzung sowie Bündelung der Kräfte. Von einer solchen schlüssigen entwicklungspolitischen Konzeption, die auch durchgesetzt wird, sind Sie, Frau Ministerin, und ist Rot-Grün - leider - weit entfernt. ({1}) Schon die Frage nach den Zielvorstellungen und Interessen ist schlichtweg ungenügend beantwortet. Sie, Frau Ministerin, kümmern sich in der Tat um jede Katastrophe und um jeden Krisenherd. Das bringt Schlagzeilen und internationale Anerkennung. Aber das birgt auch die Gefahr in sich, dass das Ministerium in die Ecke eines internationalen Katastrophen- und Sozialhilfeministeriums gerät. Dies ist eindeutig zu kurz gesprungen und wird auf Dauer den eigenständigen Aufgabenbereich des BMZ nicht rechtfertigen können. ({2}) Entwicklung zu befördern bedeutet weit mehr als das Lindern der Folgen von Katastrophen und Hilfe für Arme. Vorrangiges Ziel unseres Aufgabengebietes muss doch in der Tat der Aufbau und die Durchsetzung tragfähiger Strukturen für Entwicklung und die Beseitigung entwicklungshemmender Rahmenbedingungen sein. Dies ist die einzig nachhaltige Form von Armutsbekämpfung. Unser Streit über die Frage, wie wir uns im Irak engagieren sollten, macht doch deutlich, dass Sie, Frau Ministerin, trotz der Lippenbekenntnisse dieses Prinzip im Alltag nicht beherzigen. Jetzt, in diesen Wochen und Monaten, werden die Weichen für die Zukunft des Irak und der Region gestellt. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem es um den Aufbau des Staates und seiner Organe sowie von Verwaltungsstrukturen und Institutionen als Voraussetzung für Stabilität und nachhaltige Entwicklung geht. Das müsste jetzt angepackt werden. Das ist die originäre Aufgabe einer modernen Entwicklungspolitik. Jetzt wäre der Zeitpunkt, an dem unsere Entwicklungszusammenarbeit im Irak den Grundstein für die Prinzipien legen könnte, die unsere Interessen und unsere Wertvorstellungen widerspiegeln - wir müssen sie offensiv vertreten -, nämlich Demokratie, soziale Marktwirtschaft, die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Erhaltung der Schöpfung. ({3}) Aber Sie, Frau Ministerin, verharren trotz Ihrer freundlichen Eingangsformulierung nach wie vor in einer antiamerikanischen Ideologie und reden allenfalls von humanitärer Hilfe. Sie haben bisher auch keinen erkennbaren Einsatz dafür gezeigt, dass wenigstens das UN-Embargo gegen den Irak beendet wird. Das ist in unseren Augen ebenfalls ein Skandal. Aus unseren Interessen folgt das Ziel, strategische Kooperationen im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich einzugehen, die uns auch bei der Lösung unserer Probleme helfen. Ich denke dabei an die Zusammenarbeit mit indischen oder chinesischen Wissenschaftlern im Energiebereich und in der Luft- und Raumfahrt oder an die Sicherung wichtiger Zukunftsmärkte für unsere Wirtschaft. Entwicklungszusammenarbeit kann, wenn sie richtig konzipiert ist, Türöffner und Katalysator für die deutsche Wirtschaft sein. Dies liegt angesichts unserer eigenen Wirtschaftskrise auch im Interesse der Deutschen. Aber die Verfolgung genau dieser Ziele und die Wahrnehmung genau dieser Interessen sind aus unserer Sicht während Ihrer Amtszeit verkümmert, Frau Ministerin. Sie haben sie aus den Augen verloren oder sie sind Ihnen in Ihrem Hause entglitten. Auch das kostet Verbündete. Anstatt dass Sie klare politische Leitlinien umsetzen, droht der politische Alltag immer mehr zu einem Gemischtwarenladen zu werden, ({4}) in dem kein Thema ausgelassen wird: heute Kleinkaliberwaffen, morgen ziviler Friedensdienst, übermorgen Blutdiamanten. Sie springen auf jede internationale Aktion auf; die Fülle der Themen ist inzwischen selbst für Insider in Ihrem Hause nicht mehr zu überschauen. Deswegen ist von einer durchdachten Wahl der Schwerpunkte und Instrumente keine Rede mehr. Auch Ihr Konzentrationskonzept ist eigentlich zu einem Flop geworden. Der Rückzug aus der Zusammenarbeit mit wichtigen Schwellenländern ist strategisch falsch und schwächt das Ministerium. Die Aktion hat dazu geführt, dass gerade Schlüsselsektoren, wie der Bereich Bildung und Ausbildung, den Sie angesprochen haben, de facto auf dem Rückzug sind. Letztlich waren doch alle Bemühungen umsonst, da Ihnen eine wirkliche Konzentration nicht gelungen ist, weder in Bezug auf die Anzahl der Schwellenländer - sie ist von 70 auf 100 gestiegen - noch in Bezug auf die Sache. Ich nenne das Beispiel Indonesien: Sie sind vorsätzlich ausgerechnet aus dem Forstsektor ausgestiegen, Frau Ministerin; angeblich weil Sie sich auf vier andere Schwerpunkte konzentriert haben. Bei unserer Reise fanden wir allerdings eine beachtliche Zahl von so genannten Neben- und Sonderschwerpunkten. Fazit: Ihre Konzentrationsbemühungen enden damit, dass eine wirkliche Konzentration nicht stattfindet, während gleichzeitig Schlüsselthemen und Schlüsselländer aussortiert wurden. Dafür haben Sie nun auf Biegen und Brechen durchgesetzt, dass Fidel Castros Kuba neues Partnerland wird. Das Land wird von einem Regime geführt, das erst vor kurzem 78 Oppositionelle und Journalisten in Schnellprozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt hat. Eine solche Schwerpunktsetzung erweist der Glaubwürdigkeit unserer Entwicklungspolitik allerdings einen Bärendienst. ({5}) Sie haben in Ihrer Regierungserklärung das Thema Armutsbekämpfung fokussiert. Armutsbekämpfung ist natürlich auch für uns ein zentrales Thema. Die Frage ist nur, mit welchen Instrumenten wir wirklich einen wesentlichen Schritt vorankommen. Ein solches Instrument ist Empowerment, das in einigen Slums in Brasilien eingesetzt werden könnte; andere Instrumente sind eine Landreform und die Durchsetzung einer ordentlichen Bezahlung für Lehrer in Entwicklungsländern, damit wirklich jedes Kind eine Schule besuchen kann. Zwischen diesen Instrumenten und Schwerpunkten muss man eine Wahl treffen. Ihre Entschuldungsinitiative, die wir im Grundsatz unterstützt haben, hat erhebliche Schwächen und Mängel. Zum Beispiel hat Bolivien das Geld, das speziell zur Armutsbekämpfung bereitgestellt wurde, inzwischen im allgemeinen Haushalt verfrühstückt. Das Beispiel Uganda ist besonders grotesk. Auch dieses Land wurde entschuldet. Uganda ist jetzt der weltgrößte Goldexporteur - durch die Ausbeutung des überfallenden Nachbarlandes Kongo. Das war nicht Sinn unseres gemeinsamen Anliegens der HIPC-Initiative. ({6}) Ihre neueste Überschrift „Umsetzung des Milleniumgipfelziels“, Halbierung der extremen Armut in den nächsten 15 Jahren, ist ebenfalls heroisch. Auf der Frühjahrstagung der Weltbank hieß es dazu, dass die konkrete Ausgestaltung eines entsprechenden Programms noch nicht absehbar ist. Das gilt erst recht für die Bundesregierung, die uns seit zwei Jahren einen Umsetzungsplan für dieses Ziel verspricht. Wenn aber auch von den Ankündigungen eines äußerst ehrgeizigen Ziels nur heiße Luft bleibt, Frau Ministerin, dann treiben Sie die deutsche Entwicklungspolitik in ein massives Glaubwürdigkeitsdilemma. Ich glaube nicht, dass Sie richtig beraten sind, beim Thema Armutsbekämpfung und anderen Themen Ihr Heil in internationalen Organisationen zu suchen. Damit bin ich bei dem Stichwort „Effizienz und Bündelung der Kräfte“. Wenn sich in der Entwicklungspolitik wirklich etwas bewegen soll, müssen alle wichtigen Einrichtungen an einem Strang und in eine Richtung ziehen. Hier gilt ganz konkret: Das UN-System leidet vielerorts unter fehlender Koordinierung und Schlagkraft. Auf andere, effizientere und wichtigere Organisationen wie die Weltbank nehmen wir weniger Einfluss, als uns zusteht. Auch Sie, Frau Ministerin, haben es bisher nicht geschafft, eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen der deutschen und der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zu initiieren. Das bedeutet natürlich Reibungsverluste. Das Gleiche gilt für Ihr eigenes Haus. Die Umorganisation des Ministeriums vom 7. April ist nicht nur sachlich kaum begründbar; sie hat auch dermaßen hinter dem Rücken der Mitarbeiter stattgefunden, dass deren Motivation völlig daniederliegt - und das in einer Zeit, in der auf immer weniger Personal immer mehr Arbeit zukommt. Dieser Vorgang ist unseres Erachtens ein eklatantes Beispiel von Führungsschwäche, die Ihrem Haus noch jahrelang zu schaffen machen wird. Auch das führt natürlich zu Reibungsverlusten. Die größten Reibungsverluste aber entstehen im Kabinett. Inzwischen macht offensichtlich fast jedes Ressort Entwicklungspolitik, ohne dass die eine Hand weiß, was die andere tut. In Indonesien zum Beispiel sind wir durch Zufall über ein sehr großes und auch sehr gutes Entwicklungsprojekt des Bundesforschungsministeriums gestolpert. Auch das Entwicklungsministerium hat dies nur durch Zufall erfahren - weil man eben nicht miteinander spricht. Solange sich die Spitze des Außenministeriums für weite Teile dieser Welt nicht interessiert, geschweige denn engagiert entwicklungspolitische Ziele unterstützt - gegenüber korrupten und gewalttätigen Regimen und Politikern, zum Beispiel im Kongo; dazu wird Kollege Fischer noch eindringliche Worte an uns richten -, bleibt uns oft nicht mehr übrig, als zuzusehen, wie jahrelange Aufbauarbeit brachliegt oder zerstört wird. Das ist politische Ineffizienz. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau Ministerin, trotz großer Worte ist das Gewicht der Entwicklungspolitik in Deutschland fachlich und politisch in den letzten Jahren gesunken. In der Entwicklungspolitik hat man den berühmten roten Faden und den langen Atem verloren. Das gilt auch für die finanzielle Qualität. Ich will mit Ihnen nicht wieder über einzelne Millionen streiten, aber Tatsache ist eindeutig, dass Sie im Jahr 2002 in Ihrem Haushalt 283 Millionen Euro weniger zur Verfügung hatten als 1998 bei Regierungsübernahme. Wir möchten die Zahlen, die Sie immer nennen, so nicht im Raum stehen lassen. Zum Schluss Folgendes: Mit unserem Entschließungsantrag haben wir den Versuch unternommen, Vorstellungen zu einer Trendumkehr zu entwickeln - mit wichtigen Elementen wie der Reform der Abläufe in der Entwicklungszusammenarbeit, der Verstärkung der Einflussnahme und Koordination im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit, der stärkeren Verzahnung zwischen Außenpolitik, Entwicklungspolitik und Verteidigungspolitik und einer Konzentration unserer Hilfe zur Entwicklung auf die Länder, in denen etwas bewegt werden kann, und zwar mit Instrumenten, die etwas bewegen, und in Sektoren, die den Schlüssel zur Entwicklung darstellen. Dies ist ein sehr konkreter Maßnahmenkatalog. Er kann natürlich kritisiert werden. Es ist ein Angebot zur Diskussion. Dieses Angebot ist ernst gemeint. Wir alle ringen ja um den besten Weg zur Armutsbekämpfung. Aber wie in allen Politikbereichen muss diese Bundesregierung auch in der Entwicklungspolitik einen neuen Anlauf nehmen. Dazu fordern wir Sie nachdrücklich auf. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Gernot Erler, SPDFraktion.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Regierungserklärung hat uns Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul eine klare Botschaft vermittelt. Sie lautet: Das wichtigste Ziel der internationalen Politik Deutschlands und der Entwicklungszusammenarbeit ist die Bekämpfung der globalen Armut. Dieses ist nicht nur ein allgemeines generelles Ziel, sondern dahinter steht der sehr konkrete Ehrgeiz, eine Halbierung der Armut bis zum Jahre 2015 zu erreichen. Da bleiben, Herr Kollege Ruck, nur noch zwölf Jahre. Dieses Ziel überwölbt alle Politikbereiche; dahinter steht ein strategisches Konzept, das viele Einzelpolitiken einschließt: So müssen die Anstrengungen, im Bereich der Finanzierung von Entwicklungspolitik voranzukommen, verdoppelt werden. Im Zusammenhang damit steht die Verringerung von Ausgaben für andere Dinge wie für militärische Interventionen und Aufrüstungsvorhaben. An deren Stelle muss Prävention treten. Zu diesen Einzelpolitiken gehört der Kampf für fairere Austauschbeziehungen. Dieser Bereich ist vom Volumen her sogar größer als der der Entwicklungszusammenarbeit; denn hier geht es um den Abbau von Exportsubventionen, ganz besonders im Agrarsektor, um den Abbau von Schutzzöllen, eben um eine Umsetzung der Marktöffnung, von der die Industrienationen bisher immer nur reden, und um eine Verdopplung von fairem Handel. All das sieht die Bundesregierung vor. Ein wichtiger Bestandteil ist auch die Bekämpfung von Seuchen wie Aids, Malaria und Tuberkulose, die ganze Regionen entvölkern und damit eine erfolgreiche Bekämpfung der Armut völlig unmöglich machen. Wir ahnen, was es bedeuten würde, wenn etwa SARS in von Armut geprägte Regionen vordringen würde, wo es keine Möglichkeiten zur Bekämpfung dieser Krankheit gibt. Daran erkennt man, wie wichtig dieses Ziel ist. Zu diesen Einzelpolitiken - das hat die Frau Bundesministerin dargestellt - gehört auch der Kampf für mehr Grundbildung und Gleichberechtigung von Frauen. Ohne diese beiden Elemente ist nämlich eine Bekämpfung der Armut unmöglich bzw. chancenlos; sie sind nämlich Voraussetzung für eine Steuerung der Bevölkerungsentwicklung. Dazu gehört auch ein energischer Einsatz für eine globale Energiewende. Es muss die skandalöse Situation beendet werden, dass 20 Prozent der Bevölkerung drei Viertel aller Energieressourcen für sich beanspruchen. Dies ist egoistisch, da diese Ressourcen nicht wieder herstellbar sind. Schließlich gehört dazu auch die von Deutschland ausgegangene Entschuldungsinitiative. Hier wurden zwar schon mehr als 40 Milliarden Dollar bewegt, aber wenn man sich die Deformation des Weltwirtschaftssystems anschaut, muss man leider feststellen, dass diese Erfolge durch globale Entwicklungen immer wieder konterkariert werden. Meine Damen und Herren, so sehen die Umrisse eines Gesamtkonzeptes aus. Die Konzentration auf die Armutsbekämpfung, in die 80 Prozent der Ressourcen Deutschlands für finanzielle und technische Zusammenarbeit fließen, zeigt Wirkung. Das wird auch national und international anerkannt. Es ist ja erst wenige Tage her, dass die Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul eine sehr hohe Auszeichnung für ihren Einsatz bei der Armutsbekämpfung erhalten hat - vom Center for Global Development in Washington zusammen mit der Zeitschrift „Foreign Policy“ -, wörtlich „für ihren Einsatz, ihre Vision und ihre Vorreiterrolle zur Verringerung von weltweiter Armut und Ungleichheit“ im Rahmen ihres Engagements in der so genannten Utstein-Gruppe, in der sie gemeinsam mit den Fachministerinnen von Großbritannien, Norwegen und den Niederlanden gearbeitet hat. Frau Wieczorek-Zeul, ich möchte Ihnen herzlich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion zu dieser hohen Auszeichnung gratulieren. Sie zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. ({0}) Ich bin eigentlich froh, dass auch Sie, Herr Ruck, in gewisser Weise der Ministerin Anerkennung zollen. Sie haben nämlich ganz vergessen, in Ihren eigenen Antrag hineinzuschauen, den Sie zu dieser Debatte vorgelegt haben. Da finde ich den Satz: Deutsche Entwicklungspolitik hat sich den Ruf erworben, selbstkritisch, seriös und frei von kurzsichtigem Eigeninteresse zu sein. ({1}) Das ist eine ganz gute Bewertung: Wenn ich das mit dem vergleiche, was Sie früher zur Entwicklungspolitik gesagt haben, grenzt das beinahe an positiven Enthusiasmus. Dass Sie hier als Pflichtübung ein paar kritische Anmerkungen emotionslos vorgetragen haben, gehört zu einer parlamentarischen Debatte dazu. Aber ich denke, es überwiegen die konsensfähigen Passagen auch in Ihrem Antrag. Das ist im Grunde genommen eine gute Basis für künftige gemeinsame Zusammenarbeit. Meine Damen und Herren, „Zukunft sichern - Armut bekämpfen“, das ist ein anspruchsvolles Ziel, das ein Land alleine nicht leisten kann. Das kann nur eine handlungsfähige Weltgemeinschaft leisten. An dieser Stelle müssen wir uns intensiv mit der Frage befassen, inwieweit eigentlich die Ereignisse der letzten Wochen, inwieweit der Irakkrieg zu einer solchen Handlungsfähigkeit der Weltgemeinschaft beigetragen hat. Ich will noch einmal festhalten: Jede militärische Intervention begrenzt die Möglichkeit anderen Handelns, weil Entscheidungen über die Nutzung begrenzter Ressourcen getroffen werden. Wenn man die Kosten zusammenzählt - die Kriegskosten selber, die Kosten für die Wiederherstellung des durch Kriegsschäden beeinträchtigten Landes und die Kosten für die nachhaltigen Sicherungssysteme, die anschließend geschaffen werden müssen -, steht schon heute fest, dass der Irakkrieg ein Mehrfaches von dem, was die Weltgemeinschaft im Jahr für Entwicklungshilfe ausgibt, verbraucht hat und verbrauchen wird. Das ist eine Katastrophe. Ebenso wissen wir, dass durch die langfristigen Sicherungssysteme auf dem Balkan, in Afghanistan und nun künftig auch im Irak auf Dauer enorme Ressourcen gebunden werden, die wir eigentlich dringend für die Armutsbekämpfung brauchen. Deswegen ist es sehr bedeutsam, sich an dieser Stelle darüber auseinander zu setzen, ob es eine Alternative zu diesem Krieg gegeben hat, ob er vermeidbar war. Wir beharren darauf, dass er vermeidbar war, und wir werden uns mit Ihnen weiter darüber auseinander setzen. Ich mache hier deutlich, Herr Kollege Schäuble: Wir halten Ihre Feststellungen in dem Papier, das Sie am 28. April als Beschluss Ihrer Partei vorgestellt haben, für nicht akzeptabel. Sie versuchen damit, die Verbindlichkeit der Prinzipien der staatlichen Souveränität und der territorialen Integrität sowie das völkerrechtliche Interventionsverbot herabzusetzen. Genau das Gegenteil ist notwendig, wenn die weltweite Armut bekämpft werden soll. ({2}) Wenn wir es nicht schaffen - das ist zwar eine andere Ebene, hat aber mit unserem heutigen Thema zu tun -, von dem Prinzip nachträglicher Reparatur durch Stabilitätsregime, durch Stabilitätspakte, also von militärischen Interventionen, wegzukommen und es nicht endlich hinbekommen, Stabilitätspakte, Stabilitätsregime vorher, zur Kriegsverhinderung, einzusetzen, wenn wir es nicht schaffen, die auf diese Weise verbrauchten Ressourcen für die globale Armutsverringerung einzusetzen, dann haben wir keine Chance, das Ziel der Halbierung der globalen Armut bis zum Jahr 2015 zu erreichen. Das wird - ich glaube, da sind wir uns einig - nicht nur eine moralische, sondern auch eine sicherheitspolitische Niederlage sein, die wir alle teuer, sehr teuer, zu teuer bezahlen werden müssen. Deswegen werden wir diese Auseinandersetzung auf jeden Fall hier in diesem Parlament und auch anderswo fortsetzen müssen. Aber ich freue mich, dass die Gemeinsamkeiten und die Unterstützung der Konzentration auf Armutsbekämpfung in Bezug auf die Politik der Bundesregierung überwiegen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Markus Löning, FDP-Fraktion, das Wort.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin, wenn Sie mir die Vorbemerkung erlauben: Sie haben zu Beginn Ihrer Rede ein gewisses Bekenntnis zur deutsch-amerikanischen Freundschaft abgegeben; aber im Laufe der Rede kam doch der eine oder andere antiamerikanische Reflex zum Vorschein. ({0}) Wir hatten das Thema gestern im Ausschuss. Ich fordere Sie von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich auf: Unterstützen Sie unsere amerikanischen Freunde bei dem Ziel, das Embargo gegen den Irak so schnell wie möglich aufzuheben. ({1}) Dieses Embargo war immer gegen Saddam Hussein und nie gegen die Bevölkerung gerichtet. Wenn wir einen erfolgreichen Aufbau im Irak wollen, dann ist es wichtig, dass das Embargo möglichst schnell verschwindet. Wir reden heute über das Thema Armut. Sie haben die entsprechenden Zahlen schon genannt. Etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung ist von Armut betroffen. Auf lange Sicht gesehen stellt das eine Verbesserung dar; denn noch vor 50 Jahren war mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung von absoluter Armut betroffen. Wir sollten absolute Armut aber nicht nur unter materiellen Gesichtspunkten sehen, sondern wir sollten auch klarstellen: Armut beschränkt und raubt Lebenschancen, führt zu Krankheit und zu weniger Bildungschancen; Armut verhindert ein Leben in Würde. Deswegen ist für uns Liberale die Armutsbekämpfung ein zentraler Bestandteil der Entwicklungspolitik. ({2}) Lassen Sie mich auf drei Aspekte kurz eingehen. Sie haben das Thema Entschuldung angesprochen. Ich sage wie der Kollege Ruck: Wir brauchen eine Entschuldung der ärmsten Länder - im Prinzip. Sie führen in diesem Zusammenhang das Beispiel Tansania an. Warum führen Sie aber nicht das Beispiel Bolivien an? Ich erwarte von der Bundesregierung, dass kritisch hingeschaut wird, wenn es nicht funktioniert hat, wenn der Partner die versprochenen und erhaltenen Mittel nicht so einsetzt, wie es vereinbart wurde. Bolivien setzt die Mittel nicht zur Armutsbekämpfung ein. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie hier tätig wird und dass sie gegenüber den bolivianischen Partnern klar macht: So geht das nicht! ({3}) Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen: Korruptionsbekämpfung. Wenn wir Armut effektiv bekämpfen wollen, brauchen wir Wohlstand. Die Menschen müssen in die Lage versetzt werden, ihren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Kleine und große Unternehmen müssen sich entwickeln können. Das kann nur geschehen, wenn wir eine funktionierende Marktwirtschaft haben. Für eine funktionierende Marktwirtschaft brauchen wir effektive Gesetze und eine verlässliche Verwaltung. Korruption steht dem entgegen. Korruption ist ein Erzübel in der Entwicklungspolitik. ({4}) Korruption behindert Unternehmen beim Wachstum; sie behindert gerade kleine Unternehmen, die den Schritt vom informellen in den formellen Sektor tun wollen, die kreditwürdig sein wollen, die Genehmigungen brauchen und die Arbeitsplätze schaffen wollen. Korruption behindert das aufs Schwerste und verhindert die Entstehung von Wohlstand. Die Korruptionsbekämpfung muss daher ein ganz zentraler Teil jeder Entwicklungspolitik sein. Korruption behindert auch Direktinvestitionen. Ausländische Direktinvestitionen werden dringend benötigt, um in den Entwicklungsländern Arbeitsplätze zu schaffen. Sie wird es aber nicht geben, solange dort korrupte Verwaltungen existieren, die abkassieren, die die Gewinne abschöpfen, die behindern, wo sie nur können, und die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Korruption muss mit allem Nachdruck bekämpft werden. ({5}) Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen, der von Ihrer Seite oft sehr kritisch beleuchtet wird. Ich glaube, wir müssen in der Globalisierungsdiskussion sehr viel stärker darauf dringen, dass die Chancen der Globalisierung bei der Bekämpfung von Armut gesehen werden. Wenn wir uns anschauen, welche Länder in den letzten 50 Jahren in der Armutsbekämpfung erfolgreich gewesen sind, dann müssen wir sagen, dass es die Länder gewesen sind, die ihre Märkte geöffnet haben, die sich vom Staatsdirigismus abgewandt haben, die ihren Bürgern und ihren Unternehmen Freiräume gegeben haben, sich zu entfalten. Es sind vor allem die Länder, die Handel ermöglicht haben, die Subventionen, Zollschranken und andere Handelshemmnisse abgebaut haben. Aus Handel entsteht Wohlstand, Handel bekämpft die Armut. Zahlen aus Asien belegen das. Dort lebte noch vor 25 Jahren weit mehr als die Hälfte der Menschen in absoluter Armut. Inzwischen liegt dieser Anteil bei ungefähr 20 Prozent. Das ist immer noch viel zu viel, zeigt aber deutlich, dass es eine Entwicklung in die richtige Richtung gibt. ({6}) Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Reden Sie nicht so schlecht über die Globalisierung, sondern reden Sie über die darin liegenden Chancen für die Ärmsten der Armen, die Armut zu bekämpfen! ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir einen kurzen religiösen Einstieg: Als Christ darf ich eigentlich nicht an die Reinkarnation glauben. Dennoch hänge ich manchmal der Frage nach, wie es wäre, wieder geboren zu werden - das nächste Mal aber auf der anderen Seite des Globus, auf der Verliererseite, in den Elendsvierteln von Lima oder Kalkutta. Eine solche Vorstellung könnte uns noch stärker motivieren, die Überwindung von extremer Armut als etwas anzusehen, was uns selber betrifft. Aber auch ohne die Vorstellung der Reinkarnation gibt es sehr viele gute Gründe, den notwendigen Nord-Süd-Ausgleich als Weltinnenpolitik zu verstehen. ({0}) Die ungeheuren Herausforderungen sind von der Ministerin ausführlich beschrieben worden. Sie gipfeln darin, dass trotz aller Bemühungen und Fortschritte die Zahl der Hungernden noch erschreckend hoch ist. Rund 25 000 Menschen verlieren jeden Tag den Kampf um das Überleben; sie sterben den Hungertod. Dies ist ein ungeheurer Skandal deshalb, weil dieses - ich kann es nicht anders ausdrücken - Massensterben vermeidbar ist. Zahlen sind Zahlen. Doch dahinter stehen Menschen. Wer den vom Hungertod gekennzeichneten Menschen schon einmal hautnah begegnet ist, den wird die Frage nicht mehr loslassen: Warum? Warum gibt es dieses Hungerleid, obwohl auf der Welt genügend Nahrungsmittel für alle angebaut werden? Ich möchte bei den Erklärungsmustern vor zwei Fallen warnen: Falle Nummer eins ist der Versuch, die Ursachen für das Hungerelend nur in den Ländern zu suchen, die davon betroffen sind: Naturkatastrophen, Bevölkerungsexplosion, schlechte Regierungsführung, primitive Anbaumethoden, Korruption, Bürgerkrieg könnten beispielhaft genannt werden. Falle Nummer zwei ist der Versuch, die Menschen in der so genannten Dritten Welt allesamt nur als unschuldige Opfer anzusehen und die Ursachen allein im Kolonialismus und seinen Folgen, allein in den ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft auszumachen. Nur beide Erklärungsversuche zusammen, in Kombination, führen weiter. Hunger ist kein Schicksal; Hunger ist gemacht. Hunger ist oft eine Folge verfehlter Regierungspolitik, einer Bad Governance. Die Regierung von Simbabwe ist ein besonders krasses Beispiel dafür. ({1}) Aber es gibt auch Regierungen im Süden - das sind viele, die meisten -, denen es wirklich um die Menschen geht. Warum sind so viele ernst gemeinte Bemühungen von Regierungen gescheitert, die wirklich Good Governance praktizieren? Wer bereit ist, genau hinzusehen, wird zu dem Ergebnis kommen, dass auch Strukturanpassungsmaßnahmen des Weltwährungsfonds das Elend im Süden vergrößert haben. Devisenspekulation, der Verfall der Rohstoffpreise - besonders krass zurzeit auf dem Kaffeemarkt und die Zerstörung vieler Märkte im Süden durch Agrarexportsubventionen der USA und Europas, all das sind äußere Faktoren - kaum beeinflussbar von den Entwicklungsländern -, die Armut und Hungerelend verschärfen. Beides, Missstände in einigen Entwicklungsländern und ungerechte Strukturen der Weltwirtschaft, ist dafür verantwortlich, dass mehr als 800 Millionen Menschen hungern. Der Entschließungsantrag der CDU/ CSU, der heute vorgelegt worden ist, hat die Tendenz, in die Falle Nummer eins zu tappen und den zweiten Bereich, den internationalen, zu vernachlässigen. Es ist deshalb richtig und - im wahrsten Sinne des Wortes: „Not wendend“ - notwendig, dass die Entwicklungspolitik seit 1998 nicht nur als Entwicklungshilfe, sondern auch als globale Strukturpolitik verstanden wird. Die Richtung stimmt. Ob das Tempo stimmt, darüber kann man - auch innerhalb der Koalition - geteilter Meinung sein. Ich hoffe, dass es gelingt, auch den Finanzminister und die Haushälter davon zu überzeugen, dass wir 2004 mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit brauchen. ({2}) Auch die Bemühungen um eine grundlegende Reform des IWF und der Weltbank, die Schaffung eines internationalen Insolvenzrechts im Sinne eines fairen und transparenten Schiedsverfahrens und die Einführung einer internationalen Devisenspekulationssteuer müssen innerhalb des gesamten Kabinetts verstärkt werden. Doch dass es in diesen Bereichen auf der Frühjahrstagung von IWF und Weltbank keine nennenswerten Fortschritte gegeben hat, lag nicht an der Bundesregierung, sondern an der Blockadehaltung der USA. Welche fatalen Folgen für die Entwicklungsländer die gegenwärtige Agrarpolitik der EU - besonders die Agrarexportsubventionen - hat, hat Frau WieczorekZeul schon ausführlich benannt. Das wird in einem Koalitionsantrag deutlich, der sich noch in den Ausschussberatungen befindet. Deutschland nimmt bei den Bemühungen um die Durchsetzung des Rechts auf Nahrung und beim Ringen um eine andere Haltung der EU gegenüber den Entwicklungsländern eine Vorreiterrolle ein. Renate Künast allein kann es aber nicht richten, sie braucht Bündnispartnerinnen und Bündnispartner innerhalb der EU. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass Heidemarie Wieczorek-Zeul, Renate Künast und Jürgen Trittin jetzt gemeinsam für fair gehandelte Produkte aus den Ländern des Südens Werbung machen. Sie appellieren dabei an die Bevölkerung, nicht nur auf die billigsten Waren zurückzugreifen, sondern auch der Frage nachzugehen: Wo kommen diese Produkte eigentlich her und wer hat sie unter welchen Bedingungen produziert? Ein solcher Gerechtigkeits- und Ökoaufschlag wie überhaupt jede Form von Entwicklungshilfe seien ein Luxus für bessere Zeiten, wenn es uns selber schlecht gehe, hätten wir weniger abzugeben, meinen manche. In Zeiten der enger zu schnallenden Gürtel sei Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr trendy, sagte mir kürzlich ein Kollege. Hoffentlich ist das nur eine Einzelstimme. Ich wünsche mir sehr - darüber gibt es Gemeinsamkeiten auch in den Redebeiträgen -, dass wir gemeinsam erklären: Bei der Entwicklungszusammenarbeit geht es nicht um Almosen; es geht um Partnerschaft und darum, dass wir unsere Politik dort korrigieren, wo sie zur Vergrößerung des Elends mit beiträgt. Ich nenne nur das Stichwort: Agrarexportsubventionen. ({3}) Eine neue Partnerschaft mit den Ländern des Südens und ein stärkeres Engagement für Gerechtigkeit sind Investitionen in die Zukunft und in die gemeinsame Sicherheit. Langfristig gesehen ist es auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten vernünftiger, auf einen gerechten Ausgleich zwischen Nord und Süd hinzuwirken als ein weiteres Auseinanderklaffen hinzunehmen. Mehr Gerechtigkeit und Solidarität sind zwar nicht zum Nulltarif möglich, aber so, dass alle gewinnen können: Zukunftsperspektiven, Lebensqualität, Sicherheit und Würde. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz, CDU/CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir brauchen den Gedanken an eine Reinkarnation, den der Kollege Hoppe gerade erwähnt hat, nicht, um uns bei dieser Angelegenheit in unserer Haut nicht allzu wohl zu fühlen. Das beginnt bereits damit, dass wir gelegentlich dazu neigen, das Thema Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte an die Peripherie unserer Plenartage zu setzen, also erst am späten Abend zu verhandeln. Frau Bundesministerin, ich bin der Bundesregierung dankbar, dass wir es heute geschafft haben, zu diesem Thema in der Kernzeit zu diskutieren. ({0}) Ich denke, alle heute hier Anwesenden finden es gut, und ich bedauere, dass der Saal nicht etwas voller ist; denn das Thema hätte es wirklich verdient. ({1}) Der Kollege Ruck hat es bereits richtig ausgeführt: Der Gedanke an die Notwendigkeit von Entwicklungshilfe muss natürlich zuallererst bei den Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland präsent gemacht werden. Das ist nicht möglich, wenn der Eindruck entsteht, wir würden uns nur halbherzig darum kümmern. Deshalb werben wir für die Entwicklungspolitik und versuchen, dafür die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Demzufolge will ich anerkennen, Frau Ministerin, dass es Ihnen vergleichsweise oft gelingt, die Entwicklungszusammenarbeit und damit natürlich auch Ihre Person in den Medien zu platzieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Winfried Nachtwei ({2}) Mit Pressearbeit allein ist es aber nicht getan. Entwicklungspolitik braucht Inhalte, sie braucht Strategien, Ressourcen und die richtigen Instrumente. Ihre Mängel hat Ihnen der Kollege Ruck bereits eindrucksvoll erklärt, ich muss das nicht wiederholen. Ich will aber an die Adresse des Kollegen Erler ergänzend sagen: Sie haben unseren Antrag als Lob für Ihre Entwicklungshilfepolitik aufgefasst. Sie hätten auch das Recht, dies so aufzufassen, wenn Sie die Bundesrepublik Deutschland seit 50 Jahren regieren würden. Entwicklungspolitik muss aber kontinuierlich betrieben werden. Es ist auch nicht so, dass wir, wenn wir mit einer Reihe von Maßnahmen der Bundesregierung nicht einverstanden sind, gleich über die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland schimpfen; denn bei der Entwicklungspolitik geht es nicht nur um die Regierung, sondern auch um viele selbstlose Entwicklungshelfer, die in den betreffenden Ländern ihren Dienst tun und es verdient haben, dass wir uns hinter sie stellen. ({3}) Mittelfristig ist die Qualität, in der diese Aufgabe gelöst wird, nicht allein für die betroffenen Menschen elementar, sondern sie auch elementar in Bezug auf unsere Zukunft hier in den gesamten hoch entwickelten Ländern; denn wenn wir die Not nicht lindern, schlägt das auch auf uns zurück. Deshalb kann Entwicklungszusammenarbeit nur langfristig angelegt sein. Um das zu erreichen, muss man dafür sorgen, dass Hilfe wirklich helfen kann. Das setzt Rahmenbedingungen in den Adressatenländern voraus, die es ermöglichen, dass die zugedachte Hilfe an dem Punkt wirkt, für den sie gedacht ist. Dass das Interesse der Bundesregierung eindeutig auch darauf zielt, diese Rahmenbedingungen entwickeln zu helfen, daran habe ich meine Zweifel. Ich nenne dazu ein Beispiel: Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass sich das öffentliche Interesse in den letzten Monaten sehr stark auf den Irak konzentriert hat. Wir in diesem Saal sind uns darüber einig, dass es im Irak diese Rahmenbedingungen für eine sinnvolle Entwicklung eben nicht gab. Dort herrschte - auch darüber sind wir uns einig - ein grausamer Diktator. Es gehört zu den großen Fehlleistungen unserer amerikanischen Freunde - das will ich durchaus einräumen -, dass sie diesen Menschen anfangs zu unkritisch bewertet und unterstützt haben. Aber solche Fehlleistungen sind kein amerikanisches Privileg. Ich nenne nur das Beispiel Mugabe, auf das ich später noch zu sprechen kommen werde. ({4}) Ich komme zurück zu Saddam Hussein. Wir ahnen heute, dass die genaue oder zumindest ungefähre Zahl seiner Opfer - wenn überhaupt - wohl erst in den nächsten Monaten oder Jahren korrekt eingeschätzt werden kann. Er und seine Paladine haben dieses Land geplündert, wie es sich ein Mitteleuropäer auch unter Aufbietung all seiner Phantasie kaum vorstellen kann. Es wird berichtet - Sie haben das alle gelesen -, dass er noch kurz vor seinem Sturz versucht hat, mit Traktoren Dollarnoten aus dem Irak zu bringen. Allein dass eine solche Nachricht glaubhaft ist, sagt über diesen Menschen mehr aus als tausend Worte. ({5}) Dabei ist dieses Land eines der erdölreichsten Länder der Welt, ein Land, das sich unter geeigneten Rahmenbedingungen wie kein anderes Land selbst helfen könnte. Der Irak hat ein Vielfaches der Rohstoffe von Deutschland. Als der Irakkrieg begann, ist die deutsche Bundesregierung in dem Glauben, gegen dieses Land werde ein ungerechter Krieg geführt, so weit gegangen, die engsten Beziehungen zu unserem wichtigsten transatlantischen Partner nachhaltig zu beschädigen und ihm in den Arm zu fallen. Meine Damen und Herren von der Koalition, im Erstellen der Krisenszenarien haben Sie sich gegenseitig überboten. Sie sollten dazu einmal den Beitrag von Hans Magnus Enzensberger, der vor einiger Zeit im Feuilleton der „FAZ“ erschienen ist, lesen. ({6}) Dort wird ein Album der rot-grünen Untergangsorgiastik ausgebreitet: So erwartete Herr Trittin etwa Hunderttausende Opfer und Frau Beer hatte die Vision, der ganze mittlere Osten würde in die Luft fliegen. Aus all diesem geht hervor: Die Amerikaner waren Ihnen ein viel größerer Stein des Anstoßes als dieser Diktator, der Berichten zufolge ({7}) seine Fedajin zu Kannibalen abgerichtet hat. Das ist die Realität in der Bundesrepublik Deutschland und das ist beschämend. ({8}) Die tollsten Stilblüten, Frau Ministerin WieczorekZeul, haben Sie abgeliefert. Sie meinten, eine deutsche Beteiligung beim Wiederaufbau müsse rundweg abgelehnt werden. Sie meinten, wer bombt, habe zu zahlen. Deshalb halte ich es für besonders wichtig, dass Sie heute allmählich Zeichen senden, dass die Bundesregierung in dieser Frage umdenkt. Dass das schließlich geschehen ist, schreibe ich auch dem beharrlichen Druck unserer Unionsfraktion zu. ({9}) Was ich aber für dreist halte, das ist die hier immer wieder unkritisch vorgetragene Meinung, es habe eine Chance auf eine friedliche Entwaffnung bestanden. ({10}) Das ist eine ungeheuerliche Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Lage in diesem Land. Denn was steckt hinter dieser Haltung? - Sie sagen damit, dass Sie bereit gewesen wären, die Aufgabe, diesen Diktator zu beseitigen, dem unterdrückten, geknechteten, geknebelten und bedrohten irakischen Volk zuzumuten und zuzusehen, wie es bei dem Versuch zugrunde geht. Das ist zynisch und unwürdig. Diesen Standpunkt können wir nicht teilen. ({11}) Frau Wieczorek-Zeul, es wäre besser gewesen, wenn Sie die Energie, die Sie in Ihre antiamerikanischen Attacken investiert haben, ({12}) ansatzweise dazu benutzt hätten, dieses Regime anzugreifen, das zwei vernichtende Kriege geführt hat und unzählige Menschen das Leben gekostet hat. ({13}) Jetzt ist der Diktator weg. Jedes Kind versteht, dass sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht auf die platte Formel reduzieren lässt: Wer bombt soll zahlen. Es geht im Irak um die Wiederherstellung von Stabilität, Menschenrechten, Minderheitenrechten und Frauenrechten. Dabei hilft diese Ideologie nicht; vielmehr sind Realismus und Pragmatismus gefragt. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, zusammen mit unseren europäischen Partnerstaaten umgehend ein gemeinsames und überzeugendes Konzept für den Neubeginn im Irak zu erarbeiten. Wenn Sie ein Konzept haben, dann fordere ich Sie auf, sich dafür einzusetzen, dass es - im Gegensatz zu der Situation der letzten Monate, als es verschiedene Vorstellungen gab - von den EU-Staaten einmütig vertreten wird und dass versucht wird, es in Kooperation mit und nicht gegen die Vereinigten Staaten von Amerika umzusetzen. Es ist nämlich ganz offensichtlich ein Ausdruck von Hilflosigkeit, wenn Sie Ihre Kräfte für immer neue Achsenkonstruktionen und Sondergruppierungen in der Europäischen Union verwenden. Wir hätten von Ihnen zum Beispiel gerne gehört, wie Sie inhaltlich zu den polnischen Vorschlägen über eine Beteiligung der Bundeswehr bei der Stabilisierung der Nachkriegsordnung im Irak stehen. Das wäre, auch für die Öffentlichkeit, wichtig gewesen. Bisher haben Sie dazu aber nur Proben von gekränkter Eitelkeit abgegeben, mehr nicht. ({14}) Erst wenn diese Fragen geklärt sind, können im Irak erstmalig die politischen Rahmenbedingungen für eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung hergestellt werden. Um die Herstellung der Rahmenbedingungen muss es bei einer entwicklungspolitischen Debatte gehen. Helfen Sie dabei und beginnen Sie sofort mit den Vorplanungen. Ich finde es beunruhigend, dass die Bundesregierung die Aufmerksamkeit, die sie dem Irakkonflikt intensiv - das war aber politisch destruktiv - hat zukommen lassen, in dieser Zeit anderen Krisenherden in der Welt, vor allen Dingen den Entwicklungsländern, verweigert hat. In nenne als Beispiel Afrika. Die CDU/CSU-Fraktion hat heute einen Antrag die Demokratische Republik Kongo betreffend eingebracht; Kollege Hartwig Fischer wird sich gleich damit befassen. Demzufolge kann ich zu einem anderen regionalen Konflikt sprechen, und zwar zu dem in Simbabwe. Welche Hoffnungen hatte die Welt vor 30 Jahren in Robert Mugabe gesetzt! In der Zwischenzeit hat er sich zu einem erbarmungslosen und korrupten Diktator entwickelt, der dieses Land mit seinen als Landreform titulierten Massenenteignungen weißer Farmer in ein wirtschaftliches und humanitäres Desaster gestürzt hat. Inzwischen ist der größte Teil der 4 500 kommerziellen Farmen unter Begleiterscheinungen wie Folter, Vandalismus und Mord zwangsgeräumt worden. Nicht nur die weißen Farmer sind die Leidtragenden; insgesamt 900 000 Menschen, vor allem schwarze Farmarbeiter, befinden sich auf der Flucht, es liegen riesige Ackerflächen brach, Ernten wurden gezielt vernichtet. Für 9 Millionen Menschen bahnt sich eine Katastrophe an. Man hat den Eindruck, diese Katastrophe sei gewollt, das dortige Regime wünsche sie sich zum Machterhalt. Seit Beginn der Terrorkampagne hat die CDU/CSUFraktion viele Appelle für ein konsequentes Einschreiten an die Bundesregierung und an die internationale Staatengemeinschaft gerichtet. Sie sind entweder gar nicht oder viel zu spät und zu halbherzig beachtet worden. Deshalb ist es zu begrüßen, dass unsere Fraktion mit ihrer letzten Simbabwe-Initiative nun offenbar doch endlich einen Stein ins Rollen gebracht hat. Wir begrüßen es, dass die südafrikanische Regierung, von deren Goodwill Mugabes Regime ein Stück weit abhängt, inzwischen sogar zu einer grundsätzlichen Überprüfung ihrer Position bereit ist. Solange die Bundesregierung und die anderen demokratischen Regierungen der Welt ihren Blick nur halbherzig auf diese Region richten, so lange besteht die Gefahr, dass aus dem Ungeist der Mugabe-Diktatur eine Kettenreaktion entsteht, die eines Tages die gesamte Region erfassen könnte. Wenn Sie die Äußerungen von Sam Nujoma in Namibia ernst nehmen, dann wissen Sie, dass auch dort nichts Gutes zu erwarten ist. Eine ähnliche Situation steht also auch dort bevor. Deutschland ist der größte Entwicklungshilfegeber Namibias. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul: Wenden Sie sich an dieses Land und senden Sie die unmissverständliche Warnung, dass die Dinge, die sich in Simbabwe zugetragen haben, in Namibia auf keinen Fall von der deutschen Entwicklungshilfe geduldet werden. ({15}) Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel sagen, aber meine Redezeit geht leider zu Ende. Auf ein Land im südlichen Afrika möchte ich aber noch ganz kurz zu sprechen kommen, die Republik Südafrika. Die Republik Südafrika verliert im Augenblick pro Monat mehr Spezialisten als Russland. Dort ist momentan ein unglaublich starker Wegzug von weißen Spezialisten und Experten, die einen großen Teil der Wirtschaftsinfrastruktur bilden, zu verzeichnen. Wenn dieser Prozess so weitergeht, dann wird die Republik Südafrika nicht mehr die Lokomotive einer afrikanischen Hoffnung sein. Demzufolge bitte ich Sie: Lösen Sie sich von Ihrer alten Antiapartheidromantik und nehmen Sie zur Kenntnis, dass sich einige Symbolfiguren des Antiapartheidkampfs bei aller berechtigten Ehre, die man ihnen bisher erwiesen hat, mittlerweile Auffassungen angeeignet haben, die denen ihrer ehemaligen Widerparts ähnlicher sind als denen von Demokraten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Vaatz, Sie müssen bitte zum Ende kommen, da Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschritten haben.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Geißeln Sie das mit der erforderlichen Schärfe! Ich meine, damit können Sie mehr für eine gedeihliche Entwicklung tun als durch den Einsatz von mehreren Millionen Euro. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Karin Kortmann, SPD-Fraktion, das Wort.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, dass ich auch Dr. Ruth Pfau hier begrüße, die sich seit vielen Jahrzehnten für Lepra- und Tuberkulosekranke einsetzt und heute im Gesundheitsministerium in Pakistan arbeitet. Sie wohnt dieser Debatte bei und zeigt damit, wie wichtig es ist, dass eine solche Regierungserklärung, die vor zwei Jahren zum ersten Mal gehalten wurde, in einem wiederkehrenden Rhythmus abgegeben wird. Ein Kollege der Union fragte gestern, ob wir keine anderen Themen haben, sodass es zu dieser Debatte heute kommt. Dazu muss ich sagen: Es handelt sich für uns um eine der wichtigsten Zukunftsdebatten. Sie macht den Stellenwert deutlich, den dieses Thema im Gegensatz zur Union - diesen Eindruck habe ich durch den Beitrag von Herrn Vaatz gewonnen - innerhalb der SPD hat. ({0}) Ich möchte betonen, dass es für uns alle erleichternd war, in der vergangenen Woche die Worte des amerikanischen Präsidenten zu hören, wonach der Krieg im Irak weitgehend beendet sei. Wir leben in einer umkämpften Welt, in der es um den Zugang zu Ressourcen geht. Es geht um den Zugang zu Wasser, Energie, Öl und - beispielsweise in Angola - auch um den Zugang zu und die Herrschaft über Tropenhölzer und Diamanten. Wir werden auch heute nicht müde, zu bekräftigen, dass die globalen Probleme nicht durch Kriege, sondern nur durch nichtmilitärische Sicherheit zu lösen sind. ({1}) Die Roadmap - oder besser gesagt: der vorgelegte Friedensplan - für Israel und die palästinensischen Gebiete könnte ein Beispiel für diese neue Sicherheitspartnerschaft werden und zur Befriedung einer ganzen Region beitragen. Dieser Zusammenschluss wird von den Vereinten Nationen, der EU, Russland und den Vereinigten Staaten gefördert. Er verdient unsere Unterstützung. ({2}) Die Bundesregierung, Herr Vaatz, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, hat überhaupt keinen Grund, sich angesichts ihrer humanitären Hilfeleistungen für den Irak zu verstecken oder das Büßergewand überzustreifen. Ich will Ihnen Folgendes deutlich machen: Wir haben 6 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm, 3 Millionen Euro für den UNHCR, 4 Millionen Euro für das IKRK, 500 000 Euro für UNICEF und 200 000 Euro für die Caritas zur Verfügung gestellt. Zurzeit wird geprüft, inwieweit für CARE weitere Mittel bereitgestellt werden können, damit die Trinkwasserversorgung gewährleistet werden kann. Während des Krieges besaßen Sie die Unverfrorenheit, bereits einen Stabilitätspakt für den Irak vorzulegen, aber Sie haben nicht ausgeführt, wie der humanitären Katastrophe begegnet werden kann. Ihnen ging es schon sehr früh um eine Nachkriegsordnung, nicht um die Frage, wie der leidenden Bevölkerung in der aktuellen Situation geholfen werden kann. ({3}) Ich bin froh darüber, dass unsere Ministerin in der Lage ist, auf aktuelle Notlagen schnell zu reagieren und Instrumente zur Krisenprävention und -bewältigung zur Verfügung zu stellen. Wo wären wir denn heute, wenn wir damals beim Hurrikan „Mitch“ nicht schnell hätten Hilfe leisten können? Welche Hilfeleistungen hätten die Menschen in Mosambik zu erwarten gehabt? Ähnliches gilt für die Erdbebenkatastrophen. In der Politik des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist der rote Faden erkennbar. ({4}) Heidemarie Wieczorek-Zeul hat allen Grund, auf diese Arbeit stolz zu sein, die viel Respekt und Unterstützung verdient. ({5}) Die Bundesregierung bietet - das habe ich bereits erwähnt - unterschiedliche, sich ergänzende Instrumentarien an, um die Ursachen von Krieg und Vertreibung einzudämmen. Damit auch für Sie klar ist, worum es geht: Es geht um die wirtschaftliche Dynamik und die aktive Teilhabe der Armen und darum, diese zu erhöhen. Es geht um das Recht auf eine eigenständige Nahrungssicherung und um faire Handelschancen für die Entwicklungsländer. Es geht darum, Verschuldung abzubauen und Entwicklung zu finanzieren. Es geht darum, soziale Grunddienste zu gewährleisten und den Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen zu sichern und vor allem eine intakte Umwelt zu fördern. Es geht darum, Menschenrechte zu garantieren und Kernarbeitsnormen zu respektieren sowie die Beteiligung der Armen zu sichern und verantwortungsvolle Regierungsführung zu stärken. Das ist ein bunter, aber kein in sich gegensätzlicher Strauß; es sind Zielkriterien, die aufeinander aufbauen und sich gegenseitig bedingen. Für uns kommt es darauf an, Entwicklung und Frieden im Zeichen der Globalisierung neu zu definieren und eine Politik zur Gestaltung dieser Ziele international zu vereinbaren, die den Ländern des Südens und des Ostens Entwicklungs- und Teilhabechancen ermöglicht, die denen der Länder des Nordens und des Westens vergleichbar sind. Eine Aufteilung in die erste, zweite, dritte oder gar vierte Welt ist nicht nur ethisch verwerflich und ökonomisch gefährlich, sondern bietet auch sozialen Sprengstoff, der nicht mehr zu steuern ist. ({6}) Insofern hat der Satz von Willy Brandt - das zeigt den roten Faden innerhalb der SPD - heute mehr denn je seine Berechtigung: „Wo Hunger herrscht, kann Friede nicht Bestand haben.“ ({7}) Kollegen und Kolleginnen der Opposition, Sie haben einen Antrag vorgelegt, der in seiner Analyse sehr wohl nachvollzieht, dass wir uns in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in einer Umbruchphase befinden. Von den Beziehungen zwischen Geber- und Empfängerländern, von der Art und Weise, wie Hilfe geleistet wird, und von den Rahmenbedingungen für die Entschuldung der ärmsten Länder ist darin die Rede. Viele der alten, sich heute nicht mehr bewährenden Formen der entwicklungspolitischen Hilfe werden schrittweise durch neue, vor allem auch wirkungsvollere ersetzt. Was ich aber bei Ihnen vermisst habe, ist, dass dies zum großen Teil durch die erneut bekräftigte Verpflichtung der internationalen Staatengemeinschaft zur Bekämpfung der weltweiten Armut begründet ist. Drei wichtige Etappen haben in den letzten zweieinhalb Jahren zu diesem Erfolg geführt: Es sind das die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen im Jahre 2000, der Monterrey-Konsens, bei dem es um die Frage der Entwicklungsfinanzierung ging, und die UNKonferenz in Johannesburg und die dortige Verständigung auf einen breitenwirksamen Aktionsplan. Von Ihnen kam dazu kein einziges Wort, weil Sie diese Ereignisse anscheinend nicht realisiert haben. Die Halbierung der Armut bis zum Jahr 2015 ist deswegen für diese Bundesregierung zur größten Herausforderung, zum überwölbenden Ziel der internationalen Staatengemeinschaft erklärt worden. Die Millennium Development Goals sind Teil eines in den letzten Jahren entstandenen internationalen entwicklungspolitischen Weltkonsenses. Sie sind Ausdruck für diese neue globale Partnerschaft zwischen Nord und Süd. Damit wird ein neuer Ansatz verfolgt, der von der bisherigen Projektförderung weggeht und stärker in Programmen, in Sektoren und in Regionalkonzepten denkt. Ich glaube, gestern im Ausschuss haben wir alle verstanden, dass der Stabilitätspakt für Südosteuropa ein lebendiges Beispiel für diesen Ansatz ist. Er leistet länderübergreifend schnelle, unbürokratische und effektive Hilfe für eine ganze Region und fördert dadurch den Dialog und das Miteinander sich ehemals bekämpfender Gruppen. Ich bitte die Bundesregierung dringendst, sich dafür einzusetzen, dass dieser Stabilitätspakt fortgesetzt werden kann, weil Frieden und Entwicklung sowie hohe Zuwachsraten im Außenhandel Deutschlands mit den Staaten des Stabilitätspaktes nach Darstellung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und der KfW gerade das Ergebnis dieser neuen Entwicklungskooperation sind. Die Zeiten, Kolleginnen und Kollegen der Opposition, in denen Nationalstaaten glaubten, Entwicklungsprobleme allein lösen zu können, wie es beispielsweise jahrelang durch den bilateralen Schuldenerlass versucht wurde, sind passé. Internationale Problemstellungen erfordern auch internationale Lösungen und die Suche nach einer globalen Ordnungspolitik, die sich an den Zielen einer zukunftsfähigen, menschenwürdigen und ökologisch nachhaltigen kohärenten Politik ausrichten. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Fragestellungen auch aufgreifen. Daher unterstütze ich die Politik der Bundesregierung - nicht weil ich eine gute Sozialdemokratin bin, sondern weil ich finde, dass die Bundesministerin einen richtigen Ansatz verfolgt, wenn sie für eine Stärkung der Vereinten Nationen eintritt, wenn sie sich für eine beteiligungsfreundlichere Ausrichtung von IWF und Weltbank einsetzt, auch wenn die Bundesregierung mit den Ergebnissen der Frühjahrstagung nicht ganz einverstanden ist; sie will, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen in den Politikdialog einbezogen werden und ihr Konsultativstatus in den internationalen Gremien Unterstützung findet. Ich merke jetzt, dass meine Redezeit leider abläuft, und wiederhole zum Schluss: Hören Sie auf mit der Drehtürpolitik! Sie reden hier im Parlament darüber, die Entwicklungspolitik mit Kuba einzustellen. Gleichzeitig wird aber beim Präsidenten der Reisekostenantrag eingereicht, um an der UN-Konferenz gegen Wüstenbildung in Havanna teilzunehmen. Es ist schön, wenn viele von Ihnen nach Kuba reisen. Wir wollen doch einen Wandel durch Annäherung. Was wäre in seinem Interesse besser, als diese vor zwei Jahren hier begonnene Politik zu stabilisieren? Sie können nicht auf der einen Seite für einen rechtsstaatlichen Dialog mit China sein und auf der anderen Seite, weil es Ihnen nicht passt, die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba auflösen. Das passt nicht zusammen. ({8}) Ihr Antrag ist ein Sammelsurium, ein Bauchladen von Ansätzen, in dem der rote Faden, Herr Ruck, den Sie so nachdrücklich gefordert haben, nicht erkennbar ist. ({9}) Lesen Sie ein wenig mehr in den Papieren aus dem BMZ; das würde auch Ihnen helfen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Entwicklungspolitik ist echte Partnerschaft der Grundsatz unserer Zusammenarbeit; die Bundesministerin hat dies sehr deutlich dargelegt. Die afrikanischen Reformpolitiker haben sogar ihrer neuen Entwicklungsstrategie diesen Namen gegeben und sprechen von der „neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung“. Woran aber zeigt sich, ob wir die Menschen in der Dritten Welt auf gleicher Augenhöhe als echte Partner und gleichberechtigte Gegenüber akzeptieren? Es zeigt sich darin, dass alle Seiten, also auch wir, ihre eigenen Interessen klar und offen formulieren. Eine solche Offenheit nützt allen, nicht nur wegen eines ehrlichen Umgangs miteinander; vielmehr ist sie auch notwendig, damit sich die Entwicklungsländer auf die Anforderungen der Globalisierungsprozesse einstellen können. Nur wenn entsprechende Anpassungsleistungen und Reformen erbracht werden, dann können sich diese Länder stärker in die internationale Wirtschaftsdynamik integrieren. Weil sie das selber wollen, um die Lebensbedingungen in ihren Ländern zu verbessern, unterstützen wir sie darin. Ich glaube, die Ministerin hat sehr deutlich die Schritte aufgezeigt, wie wir sie unterstützen. In meiner Aufgabe als Afrika-Beauftragte des Bundeskanzlers erlebe ich, wie viele afrikanische Politiker bestrebt sind, nachhaltige Armutsbekämpfung durch wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Sie wissen, dass die Vorbedingung für Wirtschaftswachstum ein der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft förderliches Umfeld ist. Herr Löning, das müssen wir ihnen nicht sagen; das wissen sie selber. Dieses förderliche Umfeld ist notwendig, damit Unternehmen wieder mehr wirtschaftliches Interesse an Afrika haben. Entsprechend versuchen Regierungen wie zum Beispiel in Ghana, in Mosambik, in Südafrika oder in Kenia, Afrika wieder zu einem attraktiveren Standort für wirtschaftliche Investitionen zu machen. Dabei geht es aber in erster Linie nicht um Investitionen aus dem Ausland, sondern um inländische Investitionen. Es muss deshalb alles getan werden, um die Kapitalflucht aus Afrika zu beenden. Dazu sind zwei Punkte wichtig. Zum einen müssen die Rahmenbedingungen wirtschaftsfreundlicher gestaltet werden: Rechtsstaatlichkeit, Vertragssicherheit, geregelte Eigentumsrechte, ein funktionierendes Bankensystem und selbstverständlich Kampf gegen Korruption. Das ist gar keine Frage; da sind wir uns alle hier im Hause einig. Unternehmen aus Europa und Afrika brauchen beide verlässliche und transparente Rahmenbedingungen, um langfristige Investitionen tätigen zu können. Wir sind bereit, in unserer Entwicklungskooperation einen wesentlichen Beitrag zur Formulierung der notwendigen Reformen für wirtschaftliche Entwicklung zu leisten. Auch bieten wir Beratung für kleine und mittelständische Unternehmen an, damit diese auf den Exportmärkten wie zum Beispiel der Europäischen Union konkurrenzfähig werden. Es war notwendig, dass wir uns auf Initiative der Bundesministerin das Ziel gesetzt haben, dass die ärmsten Länder bei uns alles außer Waffen verkaufen können. Aber eine reine Marktöffnung nützt nichts, wenn die Länder noch nicht konkurrenzfähig sind. Damit sie das werden, unterstützen wir sie in unserer Entwicklungskooperation. Zum Zweiten spielt die regionale Integration eine überragende Rolle. Meist ist die Kaufkraft in einzelnen Ländern viel zu klein, als dass sich umfangreiche Investitionen lohnen würden. Daher fördern wir zum Beispiel die regionale Integration im südlichen Afrika, in der SADC-Region, oder in Ostafrika, in der Ostafrikanischen Union. Der Ausbau des innerafrikanischen Handels ist der erste Schritt, um auch international wettbewerbsfähig zu werden. Entsprechend ist die Förderung der regionalen Integration ein Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit mit Afrika. Für Afrika ist die WTO-Konferenz in Cancun von größter Bedeutung. Die laufende WTO-Runde muss eine Entwicklungsrunde sein; das haben alle Länder einvernehmlich beschlossen. Aber wir wissen, dass wir diesen Anspruch bisher noch nicht erfüllen konnten. Wir brauchen einen Durchbruch in den Agrarverhandlungen; sonst wird man die WTO-Runden nicht als Erfolg werten können. Afrika braucht mehr Zugang zu unseren Agrarmärkten. Europa darf seine Überschüsse nicht zu Dumping-Preisen auf die afrikanischen Märkte drücken. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen aber auch, dass die traditionelle Handelspolitik in einer Welt global vernetzter Produktionsstrukturen durch neue Kooperationsformen ergänzt werden muss. Deshalb fördern wir so genannte strategische Partnerschaften und arbeiten mit Unternehmen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zusammen. Lassen Sie mich das für den Bereich Bekleidung illustrieren. Hier sind mehrere große Handelsketten auf uns zugekommen, um bei ihren Zulieferern weltweit die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards durchzusetzen. Wir beteiligen uns daran, indem wir den Unternehmen in den Entwicklungsländern helfen, sich auf die Anforderungen von deutschen Verbrauchern und Unternehmen einzustellen. Dadurch sichern wir nicht nur langfristig die Handelsbeziehungen. Wenn wir mit dem Projekt erfolgreich sind, haben wir über einer Million Beschäftigten in Entwicklungsländern geholfen, unter besseren Bedingungen zu arbeiten. Auch dem deutschen Einzelhandel ist durch diese Partnerschaft geholfen. Denn er wird durch transparente MonitoringVerfahren wieder ein Stück Vertrauen der Verbraucher zurückgewinnen. So können wir eine klassische Situation erreichen, bei der alle Seiten nur gewinnen können. Einen ähnlichen Ansatz starten wir für die Kaffeewirtschaft in der nächsten Woche in London. Dort wird auf Initiative des BMZ mit den großen Kaffeekonzernen, der Internationalen Kaffeeorganisation, mit Gewerkschaften und internationalen Nichtregierungsorganisationen ein Verhaltenskodex für die Produktion und die Vermarktung von Kaffee entwickelt. Sie sehen, wir gehen neue Wege in der Handels- und Entwicklungspolitik. Wir brauchen solche neuen Partnerschaften mit der Wirtschaft und allen gesellschaftlichen Gruppen, damit wir das Ziel der Bundesregierung erreichen, einen relevanten Beitrag zur Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 zu leisten. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, wurde dadurch unter Beweis gestellt, dass die Ministerin in den USA für diese Politik ausgezeichnet worden ist. Frau Ministerin, ich möchte Ihnen von hier aus dazu ganz herzlich gratulieren. Das gibt uns allen Mut, gemeinsam auf diesem Weg weiter zu schreiten. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Heinrich, FDPFraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Armutsbekämpfung sind das Ziel unserer Entwicklungspolitik. Wir bekennen uns ausdrücklich zum Millenniumsziel der Halbierung der Armut. Bezüglich der Frage, wie treffsicher wir allerdings bei dieser Arbeit sind und wie viele Erfolge wir aufzuweisen haben, möchte ich eine kurze nüchterne Bilanz ziehen. Wenn wir mit den Institutionen über die Evaluierung ihrer Projekte reden, bekommen wir fast überall die Antwort, etwa 75 Prozent der Projekte seien erfolgreich. Das zieht sich so ungefähr durch alle Bereiche. Ist das nun gut oder schlecht? Sind die Angaben auch bei einer nachhaltigen Betrachtungsweise noch haltbar? Ich für meinen Teil habe erhebliche Zweifel. Es gibt auch nicht wenige sachkundige Beobachter der Entwicklungszusammenarbeit, die zu anderen Ergebnissen kommen, nämlich dass nach vielen Jahrzehnten gut gemeinter, häufig auch sehr teurer Entwicklungspolitik die Bilanz eher mager aussieht. Das ist nicht nur auf bundesrepublikanischer Ebene, sondern weltweit festzustellen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam darangehen, effizienter zu werden, um mit dem vorhandenen Geld mehr zu erreichen und nicht dauernd nach mehr Geld zu rufen. Denn auf absehbare Zeit wird nicht mehr in der Kasse sein. Da können wir uns einig sein. Knappe Kassen müs3502 sen Kreativität und Innovationen auslösen. Was müssen wir verändern, um zu besseren Ergebnissen zu kommen? Die Vorgehensweise in den einzelnen Ländern muss nach meiner Meinung strategischer geplant werden. Vorbild könnte hier der Stabilitätspakt für Südosteuropa sein. Hier wurde wirklich strategisch geplant, hier hat man runde Tische gebildet und war in kurzer Zeit erfolgreicher als angenommen. ({0}) Wir brauchen eine bessere Kooperation der Geberländer untereinander, um durch Verfahrensvereinfachungen Duplizitäten auszuschließen. Die Geberländer dürfen sich von den Empfängerländern nicht gegenseitig ausspielen lassen. Wenn ein Wettlauf der Geberländer vor Ort stattfindet, dann ist das unproduktiv, sinnlos und eine Verschwendung von Ressourcen. ({1}) Wenn Sie sehen, dass in einem durchschnittlichen afrikanischen Staat gleichzeitig etwa 600 Entwicklungsprojekte laufen und darüber 2 400 Quartalsberichte geschrieben werden müssen, dann werden Sie verstehen, was ich meine, wenn ich sage: Teure, ineffiziente Bürokratie muss dringend abgebaut werden. Wenn wir uns hier einig sind und uns gegenseitig loben, dann verändern wir nichts an der Produktivität und der Effektivität unserer eingesetzten Mittel. ({2}) In die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss stärker die Zivilgesellschaft einbezogen werden. Unser Schwerpunkt liegt immer noch in der Zusammenarbeit mit den Regierungen, die häufig korrupt sind. In diesen Fällen ist das Ergebnis der Zusammenarbeit negativ. Wir müssen die Zivilgesellschaften stärker mit einbinden, damit sie sich selber emanzipieren können. Die Emanzipation der Bürger ist notwendig, damit sie lernen, politisch mitzubestimmen. ({3}) Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss stärker vom Verhalten der Regierungen der Empfängerländer abhängig gemacht werden. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Stichwort „Good Governance“. Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist nicht vorstellbar, wenn im Partnerland Korruption und Rechtschaos vorherrschen und keine einigermaßen zuverlässigen Strukturen vorhanden sind. Rechtschaos und ein überbetriebener Bürokratismus stellen in Entwicklungsländern häufig ein Hemmnis für wirtschaftliche Aktivitäten dar. Wo überbetriebener Bürokratismus herrscht, kann eine nachhaltige Entwicklung nicht gedeihen, und zwar unabhängig von dem von uns geleisteten Input. Die Empfängerländer müssen ihrerseits die Bereitschaft erkennen lassen, Eigentum zu respektieren, und sie müssen die gesetzlichen Voraussetzungen für das vorhandene inoffizielle Vermögen - alles, was sie besitzen und mit dem sie tagtäglich überleben - schaffen, damit mit diesem Vermögen aktiv Kapital geschöpft werden kann und es sich als aktiver Kapitalwert niederschlägt. Derjenige, der nichts vorzuweisen hat, ist nicht in der Lage, Kredite aufzunehmen, was eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliches Tätigwerden ist. Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken ausführen, Herr Präsident. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Initiative der KfW im Bereich der Einführung des Microbanking in Südosteuropa ausdrücklich loben. Diese Erfahrungen sollten auch für andere Bereiche eine Richtschnur bieten. Es ist nämlich erstaunlicherweise festgestellt worden, dass von kleinen Banken nicht nur Kredite in Anspruch genommen werden, sondern dass auch beträchtliche Einzahlungen erfolgen. Viele haben ihr Geld unter der Matratze im Sparstrumpf aufbewahrt und bringen es nun zur Bank, wodurch sie kreditwürdig werden. Wir müssen stärker an den harten Faktoren arbeiten und dementsprechend die notwendigen Voraussetzungen zur Verbesserung der Infrastruktur schaffen. Ein Drittel der gesamten Menschheit hat keinen Zugang zu Elektrizität. Das sollte uns zu denken geben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Heinrich, Sie müssen jetzt zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon fast verdoppelt. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, dann war nicht mehr viel übrig. Ich möchte nur noch etwas dazu anmerken, wie wir unser eigenes Handeln kritisch betrachten können, um zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen. Wir sollten das, was erfolgreich war, fortsetzen, aber in Bereichen, in denen wir nicht erfolgreich waren, schnellstens umsteuern. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Weil es in der Diskussion angesprochen wurde - auch der Kollege Heinrich ist darauf eingegangen -, möchte ich auf von uns in Gang gesetzte Änderungen hinweisen, die auch entsprechende Auswirkungen mit sich gebracht haben, zum Beispiel in den Bemühungen um mehr Effizienz. Es ist zwar richtig, dass zusätzliche Finanzmittel notwendig sind, aber diese vorhandenen Mittel müssen auch effizient genutzt werden. Eine der von uns erreichten Effizienzsteigerungen hat sich daraus ergeben, dass wir frühzeitig die völlig unterschiedlichen Praktiken bei der Berichterstattung für die Entwicklungsländer wie auch bei anderen Themen - DeHeidemarie Wieczorek-Zeul legationen, unterschiedliche Verfahrensweisen - kritisiert haben, für die übrigens die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zu Zeiten der früheren Bundesregierung mitverantwortlich war. Wir haben dafür gesorgt, dass es einen internationalen Plan gibt, der gemeinschaftliche Kriterien für das Verhalten der Geberländer festlegt, sodass sich die Entwicklungsländer mit ihrer Entwicklung und mit wirtschaftlichen Chancen befassen können und sich nicht mit Entwicklungsbürokratie auseinander setzen müssen. Mein Ministerium hat ebenfalls einen entsprechenden Aktionsplan vorgelegt, weil wir genau diese hier angesprochenen Punkte ausräumen wollen. Ich möchte, wenn ich darf, noch auf einen anderen Punkt zurückkommen - Stichwort „Bolivien“ -, der in der vorangegangenen Diskussion angesprochen worden ist. Bolivien ist von den Auswirkungen der weltwirtschaftlichen Entwicklung besonders betroffen. Es stimmt, dass diesmal im bolivianischen Haushalt Mittel zur Entschuldung eingestellt worden sind. Das heißt aber nicht, dass sie zweckentfremdet worden sind. Sie sind vielmehr zur Armutsbekämpfung verwendet worden; denn der für die Armutsbekämpfung relevante Teil des bolivianischen Haushalts ist von 10,6 auf 12,9 Prozent gestiegen. Die bolivianische Regierung - das kritisieren auch wir; aber wir haben keine Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen - hat in der Tat ihre Zusage, die entsprechenden Mittel den Gemeinden zur Verfügung zu stellen, nicht eingehalten. Aber mit Verlaub, auch die ärmsten, hoch verschuldeten Entwicklungsländer sind weder Protektorate noch können und wollen wir sie so behandeln. Wir können einem Land nicht vorschreiben, wie es konkret die Mittel zur Armutsbekämpfung in seiner Gesellschaft verwendet. Aber dass die Länder die bereitgestellten Mittel zur Armutsbekämpfung verwenden müssen, schreiben wir vor und darauf achten wir sehr genau. Das wollte ich nur klarstellen, weil damit die Frage nach der Entschuldungsinitiative verbunden ist. Danke sehr. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Heinrich, wollen Sie kurz erwidern? - Das ist der Fall. Bitte sehr.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Frau Ministerin, ich freue mich sehr darüber, dass Sie das, was ich angemahnt habe - es geht um die Frage, wie wir die zur Verfügung stehenden Mittel effektiver einsetzen können -, aufnehmen wollen. ({0}) - Sie behaupten, dass Sie es gemacht hätten. Mein Resümee ist, dass hier bisher eine viel zu kurze Strecke zurückgelegt worden ist, dass noch allzu viele Mittel nicht effizient eingesetzt werden und dass hier - wenn es nicht stimmen würde, hätte ich es vorhin nicht angesprochen - sehr viel mehr getan werden muss. ({1}) Wenn Sie davon überzeugt gewesen wären, dass Sie auf dem richtigen Weg sind, dann wäre es Ihnen unbenommen gewesen, in Ihrer 20-minütigen Regierungserklärung auf den wichtigen Faktor des effizienten Einsatzes der Gelder entsprechend hinzuweisen. Ich bedanke mich. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nunmehr Kollege Dr. Hermann Scheer, SPD-Fraktion.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Entwicklungshilfe - das ist von der Bundesministerin gerade vorgetragen worden und darauf ist auch schon in den letzten Jahren wiederholt hingewiesen worden - soll verstärkt auf die energetische Frage, insbesondere auf die Erneuerbaren Energien, ausgerichtet werden. Dieser Schwerpunktwechsel verdient eine nähere Betrachtung; denn ich halte diesen Wechsel für eine der entwicklungspolitischen Schlüsselfragen. Ich finde, dass es ein jahrzehntelanges Versäumnis der bisherigen Entwicklungspolitik ist, dieses Problem nicht erkannt zu haben. ({0}) Man muss dieses Versäumnis gar nicht parteipolitisch bewerten; denn es handelt sich um ein internationales Versäumnis, das bis zu den Verhandlungen über die Agenda 21 in Rio de Janeiro reichte, ohne dass es damals aufgefallen wäre. Daran kann man sehen, dass es diesbezüglich an Bewusstsein mangelte. Es ist jetzt ziemlich genau 30 Jahre her, als, durch den Jom-Kippur-Krieg ausgelöst, die erste große Weltölkrise begann. Sie dauerte mit einer kurzen Unterbrechung neun Jahre. Wir haben damals zwar viel über die weltwirtschaftlichen, aber sehr wenig über die Folgen für die Dritte Welt diskutiert. 1973, also bevor diese Krise begann, betrug die Gesamtverschuldung der Dritten Welt ungefähr 200 Milliarden Dollar. Neun Jahre später, also als diese Krise zu Ende war, betrug die Gesamtverschuldung der Dritten Welt das Sechsfache: 1,2 Billionen Dollar. Diese Versechsfachung geht selbstverständlich in allererster Linie auf die Ölkrise zurück. Die Länder der Dritten Welt, die im Wesentlichen dieselben Energiequellen wie wir haben - sie nutzen auch Biomasse; allerdings sorgen sie größtenteils nicht für Erneuerung; das hat ebenfalls verheerende Wirkung -, müssen auf den Weltmärkten, sofern sie nicht selbst Produzent sind, also eigene Quellen haben, dieselben Preise wie wir zahlen. Da das Pro-Kopf-Einkommen in diesen Ländern aber nur ein Zehntel oder noch weniger des ProKopf-Einkommens bei uns ausmacht, zahlen diese Länder für Energie gemessen an ihrer Kaufkraft das Zehnfache. Dies wirkt wie eine Daumenschraube. Die falsche Ausrichtung der Energiepolitik - das hängt mit der Quellenlage zusammen; ich sage das völlig unabhängig davon, dass diese Politik gravierende Umweltprobleme hervorruft, die wir alle kennen - hat dazu geführt, dass die Verschuldung auch nach 1982, als die Ölkrise beendet war, trotz aller Entschuldungsinitiativen im Grunde genommen nicht mehr gesenkt werden konnte, sondern dass höchstens die Geschwindigkeit des Wachstums durch entsprechende Entschuldungsinitiativen verlangsamt werden konnte. 1973 mussten die afrikanischen Staaten ohne eigene Ölquellen noch ungefähr 5 bis 10 Prozent ihrer Exporteinnahmen für den Import von Erdöl ausgeben; heutzutage müssen sie fast alle 100 Prozent und mehr dafür ausgeben. Das heißt, sie sind, solange Erdöl ihre Energiebasis ist, ökonomisch chancenlos. Einer der Mythen in der internationalen Energiedebatte ist, dass die Umstellung der Länder der Dritten Welt auf die Nutzung erneuerbarer Energien - auch bei uns ist diese Umstellung nötig - eine ökonomische Last darstelle. Diese Umstellung ist die einzige elementare wirtschaftliche Chance dieser Länder, ihre wirtschaftliche Entwicklung entscheidend voranzubringen. ({1}) Hinzu kommt ein weiterer Faktor. Ein grundlegender Fehler der Entwicklungspolitik in den letzten Jahrzehnten war die Auffassung - ich denke dabei insbesondere an die großen kontinentalen Entwicklungsbanken und an die Weltbank, die diesen Fehler zwar erkannt, daraus aber noch längst nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hat -, man könne unser Energiesystem in die Länder der Dritten Welt transferieren. Unser Energiesystem hat sich im Laufe eines Jahrhunderts allmählich von einem System dezentraler Versorgung hin zu einem System zentraler Versorgung entwickelt. Wir wissen inzwischen, dass das eine Fehlentwicklung war. Man hat in den letzten 30 bis 40 Jahren in den Ländern der Dritten Welt - deren Struktur war zuvor total dezentralisiert; bis heute leben dort noch immer 60 bis 90 Prozent der Bevölkerung in ländlichen Räumen - eine zentralisierte Energieversorgungsstruktur eingeführt, unter anderem durch entsprechende Investitionen und Vergabe von Krediten. Die unmittelbare Folge war das Einsetzen der Landflucht, weil man nur in den Städten Strom bekam. Das Leben in den Städten wurde immer überlasteter. Damit einher ging die Slumbildung, die wir alle kennen, und die zunehmende Verarmung der Menschen in den ländlichen Räumen, wo sehr viele bis heute noch nicht einmal Energie für kleine Maschinen haben, weil sie das gar nicht bezahlen können oder weil die Infrastruktur dazu nicht ausreicht. Selbst wenn die Infrastruktur - sie ist am kostspieligsten - in den ländlichen Räumen besser würde - ich denke an den Ausbau großer Leitungsnetze usw. -, dann nützte das nichts mehr, weil die herkömmlichen Energieversorgungsquellen bis dahin wahrscheinlich schon längst erschöpft sind. Das heißt, wir haben hier den elementarsten entwicklungspolitischen Änderungsbedarf weltweit. Die Weltbank gibt bis heute nicht mehr als 10 Prozent ihrer Energiekredite für alternative Energien; es müssten längst 100 Prozent sein. Die Entwicklungsbanken in Afrika und Asien haben das noch nicht einmal intellektuell, konzeptionell erkannt, was bei der Weltbank mittlerweile der Fall ist. In der Konferenz von Rio wurde seitens der OPECLänder, der Vereinigten Staaten von Amerika und einiger anderer Länder erfolgreich versucht, diesen Zusammenhang systematisch aus allen Dokumenten herauszuhalten. Es wurde über Wichtiges, aber nicht über diese Schlüsselfrage diskutiert. Es ist eine Schlüsselfrage, weil ohne Energie nichts, aber auch überhaupt nichts möglich ist, weil sie am Anfang jedweder Entwicklung und jedweder wirtschaftlichen Aktivität steht. ({2}) Wenn man das noch weiter verfolgt, so kann man feststellen, dass der Einfluss der OPEC-Länder auf große Teile der Gruppe der 77, die immer noch besteht, jedenfalls bei internationalen Konferenzen, bis kurz vor Johannesburg sogar noch so weit reichte, dass erneut der Versuch unternommen wurde, das Thema herauszuhalten, was aber schließlich nicht gelang, weil unsere Regierung und der UN-Generalsekretär dagegen votierten und diese Thematik erfolgreich in das Zentrum der Konferenz von Johannesburg gehoben haben. Wir stehen hier vor der Situation, dass ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten - damals gab es die grüne Revolution, um den Hunger in den Dritte-Welt-Ländern zu überwinden; sie hat teilweise Erfolg gehabt, teilweise auch nicht, wegen einer falsch verstandenen Landwirtschaftspolitik - eine große und konzentrierte Anstrengung erfolgen muss, nämlich für eine Initiative hin zur Veränderung und zur Umorientierung der Energieversorgungsstrukturen auf die heimischen Energien der Länder, also die Erneuerbaren Energien. Dort steht der entwicklungspolitische Aspekt, der wirtschaftliche Entwicklungsaspekt, noch sehr viel mehr im Vordergrund als der Umweltaspekt, der bei uns die Schlüsselfrage darstellt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Scheer, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Hermann Scheer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001950, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin beim letzten Satz. - Deswegen hat alles, was von der Regierung in dieser Richtung gemacht wird, was von ihr zum Schwerpunktwechsel auf diesem Gebiet versucht wird - bei eigenen Maßnahmen und darüber hinaus; das geht bis hin zu der vorgesehenen Gründung einer internationalen Agentur für Erneuerbaren Energien -, eine Türöffnerfunktion für das, was an neuer entwicklungspolitischer Philosophie in der eben angegebenen Richtung notwendig ist. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, fraktionslos.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Hitler-Faschismus. Sie, Frau Ministerin, sind eingangs Ihrer Rede mit folgendem Satz auf diesen Tag eingegangen: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben mit anderen zusammen unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. Ich bin über die partielle Betrachtung der Realität sehr verwundert. Wir befinden uns hier im Reichstag in Berlin. Berlin wurde von der Roten Armee befreit. Wer es aus dem Geschichtsbuch nicht weiß, kann es zumindest an den Inschriften in diesem Gebäude ablesen. ({0}) Die Völker der Sowjetunion haben in diesem Krieg einen Blutzoll von 20 Millionen Toten bezahlt und Sie, Frau Ministerin, gehen mit einem sehr eingeschränkten Blickwinkel an diesen Tag heran. ({1}) Wir von der PDS im Bundestag erneuern unseren Vorschlag, den 8. Mai zum offiziellen Gedenktag, zum Tag der Befreiung, zu erheben. ({2}) Frau Bundesministerin, Sie sind sicherlich bemüht, alles zu tun, um die Armut in den Entwicklungsländern zu bekämpfen. Sie haben viele Projekte auf den Weg gebracht und partiell können diese Projekte sicherlich helfen. Aber die Wurzeln des Problems Armut können sie nicht beseitigen. 1,2 Milliarden Menschen in der Dritten Welt sind von extremer Armut betroffen. Die Einkommensdifferenz, die zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern besteht, betrug im Jahr 1960 das 37fache; heute beträgt sie das 74fache. Die drei reichsten Personen der Welt besitzen ein Vermögen, das ebenso hoch ist wie zusammengenommen das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder. Im Jahr 2001 waren es 826 Millionen Menschen, die Hunger litten. Die Zahl der erwachsenen Analphabeten betrug 854 Millionen. 300 Millionen Kinder bleiben der Schule fern. 2 Milliarden Menschen brauchen lebenswichtige Medikamente zu niedrigen Preisen, haben sie aber nicht. Jährlich sterben mindestens 11 Millionen Kinder unter fünf Jahren infolge vermeidbarer Ursachen. 500 000 Menschen erblinden aufgrund von Mangel an Vitamin A. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, ehemaliger stellvertretender Chef der Weltbank, benennt die wirklichen Gründe für die zunehmende Armut in den Entwicklungsländern. Eine Aufgabe der Weltbank ist die Bekämpfung der Armut. Mit der stärkeren Verkopplung von Weltbank und IWF, dem Internationalen Währungsfonds, in den 80er-Jahren trat die Bekämpfung der Armut in den Hintergrund. Der IWF verbindet mit der Gewährung von Krediten politische und ökonomische Forderungen, die die Souveränität der Länder drastisch einschränken. Nun kann man sagen: Wer das Geld gibt, kann auch sagen, was damit passiert. Doch die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass der IWF mit seiner Politik nicht zur Krisenbewältigung beigetragen hat. Ganz im Gegenteil. Er verschärft vielmehr die Krisen und hinterlässt Chaos und Armut. Die Asienkrise etwa hat in den vergangenen Jahren den Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, beispielsweise in Ländern wie Indonesien, dramatisch ansteigen lassen. Gerade die Länder, die den Mut hatten, sich nicht an die Vorgaben des IWF zu halten, sind schneller aus der Wirtschaftskrise herausgekommen als die Länder, die den Vorschlägen des IWF folgten. Wir brauchen also ein Konkursrecht für Entwicklungsländer. Jetzt ist der Internationale Währungsfonds Konkursrichter und Gläubiger zugleich. Die Kreditrückzahlung ist für den IWF oft wichtiger als die Sicherung der wirtschaftlichen Basis des jeweiligen Landes. Seine Auflagen führen in der Regel zum Sozialabbau und auch zum Konkurs von bis dato gesunden Unternehmen. Die Forderung nach Liberalisierung der Märkte ohne Regeln und Rechtsordnungen führt immer wieder in schwere Krisen. Russland ist nur ein schlimmes Beispiel. Mithilfe forscher Berater aus den USA und auch aus der Bundesrepublik wurde es praktisch in die Dritte Welt katapultiert. Die Liberalisierung der russischen Märkte ohne klare Rechtsnormen hat zu einer gigantischen Vernichtung gesellschaftlichen Vermögens, zu Korruption und Armut geführt. Ich will mich hier gar nicht über das magere Budget der Entwicklungsministerin auslassen. Ich will mich auch nicht darüber auslassen, dass die 0,8 Prozent des BIP, zu denen man sich selbst verpflichtet hatte, nicht aufgebracht werden. Ich denke, das zentrale Problem besteht darin, dass die Armutsbekämpfung nicht auf der Agenda des Kanzlers und des Außenministers steht. Die Bundesrepublik hätte nämlich die Macht, in der Weltbank und im IWF etwas zu ändern. ({3}) Doch davon ist nichts zu hören. Es wäre auch dringend notwendig, in der EU über die Abschaffung von Handelsrestriktionen zu sprechen. Warum führt zum Beispiel der Bundeskanzler nicht mit seinem französischen Amtskollegen eine Allianz gegen die Armut an? Ich finde, man sollte den Entwicklungsländern eine würdige Chance geben, indem ihnen die Möglichkeit eröffnet wird, ihre Produkte auf dem europäischen Markt zu fairen Preisen zu verkaufen. Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich darauf verweisen, dass der brutalste Produzent von Armut der Krieg ist. Die Kriege der Ersten Welt gegen die Dritte Welt werden jetzt schon als Entwicklungshilfe deklariert. Es wird gebombt und dann wird aufgebaut. Das ist besonders perfide. Hier kann ich Frau WieczorekZeul nur beipflichten, die sich über diese Art der Entwicklungshilfe zu Recht empört hat. Sie wurde von ängstlichen Kollegen zurückgepfiffen, denn diese hoffen offenbar immer noch, Bush würde deutsche Unternehmen am Wiederaufbau des Irak beteiligen. Doch so, meine Damen und Herren, kann Entwicklungshilfe nicht funktionieren. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt, SPD-Fraktion.

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, es käme kein Wasser aus Ihrem Wasserhahn und die nächste Wasserstelle wäre 10 Kilometer weit weg. Das ist wohl für jeden von uns unvorstellbar, und erst recht aus der Perspektive einer Frau. Als Mann haben Sie nach traditioneller Arbeitsteilung in vielen Gesellschaften eine Frau, die das allernötigste Wasser beschafft. Als Frau dagegen stehen Sie in der Pflicht, Tag für Tag vorsorgend für die Familie die dürftige, dennoch schwere Menge heranzutragen. Laut Weltgesundheitsorganisation liegt der Mindestbedarf eines Menschen an Wasser bei 20 Litern pro Tag. Viele Menschen müssen jedoch mit 2 Litern verschmutztem Wasser auskommen. Wir dagegen verbrauchen siebenmal so viel - 140 Liter pro Kopf und Tag. Das heißt, an jenen Verhältnissen gemessen hätten wir seit Ende Februar unseren statistischen Jahresmittelwert bereits verbraucht. Ein Bewusstsein für diese ungerechte Verteilung führt nicht zwingend zu Konflikten und Krisen; aber eine latente Gefahr ist dieser Gerechtigkeitsfrage immanent. Während im Irak die ersten Bomben fielen, trafen auf dem dritten Weltwasserforum in Kioto mehr als 10 000 Teilnehmer aus 165 Ländern zusammen, um über Maßnahmen zur Lösung der globalen Wasserprobleme zu diskutieren. Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg hat sich die Weltgemeinschaft ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, nämlich den Anteil der Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu sanitären Einrichtungen bis 2015 zu halbieren. Die Weltkommission für Dämme verdient es, dass ihrer verantwortungsvollen Arbeit Beispiele folgen. Unsere Regierung gehört bei alledem zu den treibenden Kräften. Sie hat den Wassersektor seit Jahren konsequent zu einem Schwerpunkt ausgebaut. Wir sind auf diesem Gebiet mit rund 350 Millionen Euro jährlich der größte bilaterale Geber in Europa. Vor allem in Afrika brauchen die Armen sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen. Lassen Sie uns im Internationalen Jahr des Süßwassers gemeinsam mit Kofi Annan die Rettungsleine für das Überleben der Menschen im 21. Jahrhundert auswerfen. Wir wollen und müssen dafür zusätzliche finanzielle Ressourcen erschließen. Ohne privates Engagement können wir die weltweit notwendigen Investitionen im Wasserbereich nicht finanzieren. Eine Privatisierung des Wassersektors auf Kosten der Armen und Schwachen dagegen wird es mit uns nicht geben. ({0}) Wasser ist ein öffentliches Gut. Regierungen müssen das Recht auf Wasser gewährleisten. Im Aufbau der dafür notwendigen Institutionen unterstützen wir unsere Partnerländer. Wenn es nicht gelingt, den Zugang zu den und die Nutzung der knappen Wasserressourcen gerecht zu regeln, werden sich die Wasserkrisen von heute zu bedrohlichen Konflikten von morgen verschärfen. Das Gebot der Stunde lautet, eine neue Friedenspolitik zu verwirklichen, deren Ziel die globale Zukunftssicherung für uns und die kommenden Generationen ist. Man spricht hier auch von Nachhaltigkeit. Damit sind die angeblich „weichen“ Themen der Entwicklungspolitik längst „harte“ Themen der Außen- und Sicherheitspolitik geworden. Sicherheitsfragen auf das Militärische zu verengen ist fatal. Entwicklungspolitik ist mehr als nur ein Nischenthema oder Reparaturbetrieb. ({1}) Meine Damen und Herren von der Opposition, nehmen Sie Entwicklungspolitik endlich als selbstständigen Bestandteil einer umfassenden Friedenspolitik, einer globalen Strukturpolitik zur Kenntnis. Wir verfolgen seit 1998 konsequent eine Politik der Krisenprävention und friedlichen Konfliktbeilegung. Das heißt, strukturelle Ursachen von Gewalt und Konflikten abbauen, gewaltfreie Konfliktbearbeitung fördern, regionale Kooperationen unterstützen, und das heißt auch, nach gewaltsamen Auseinandersetzungen partizipatorische Strukturen etablieren. Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, nicht ohne Stolz einige unserer Initiativen nennen: Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat seit 1999 Sitz und Stimme im Bundessicherheitsrat. Seit dem Jahr 2000 legt die Bundesregierung jährlich einen Rüstungsexportbericht vor. Unsere Rüstungsexportpolitik folgt verbindlichen restriktiven Grundsätzen. Mit dem auf drei Jahre angelegten Projekt der GTZ zur Kleinwaffenkontrolle nimmt Deutschland weltweit eine Vorreiterrolle ein. ({2}) Wir haben das Instrument des Zivilen Friedensdienstes ins Leben gerufen und werden es in den kommenden Jahren weiter ausbauen. Wissenschaftliche und institutionelle Friedensforschung wie durch die Gruppe FrieDagmar Schmidt ({3}) densentwicklung hat bei uns ihren begründeten Rückhalt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder eine unilaterale Weltordnung noch Präventivkriege lösen die Probleme dieser Welt. Wenn wir die Zukunft unserer Kinder sichern wollen, müssen wir in globaler Verantwortung die Armut bekämpfen sowie das multilaterale Krisenmanagement und partizipatorische Dialogfähigkeiten stärken. Das tut unsere Regierung. Wie schön wäre es, wenn sich Journalisten gerade für diese verantwortungsvolle Aufgabe einbetten ließen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entwicklungen der vergangenen Monate in Afghanistan und im Irak haben die Krisenherde und die Brennpunkte in anderen Teilen der Welt in den Hintergrund gedrängt. Beispielhaft möchte ich hier das Gebiet der Großen Seen und der Demokratischen Republik Kongo nennen. Hier fand und findet tagtäglich eine der schlimmsten menschlichen Tragödien statt, die seit 1998 bis heute weit mehr als 3 Millionen Tote fordert - die meisten Toten in einem Krieg auf dieser Welt seit dem Zweiten Weltkrieg. Einige indigene Volksgruppen wie die Pygmäen stehen unter Umständen sogar vor der Ausrottung. Wo ist hier die Stimme der Bundesregierung im Sicherheitsrat? Nach dem Tod von fast 1 Million Menschen 1994 im Ruanda-Konflikt, dem die UNO weitgehend tatenlos zugesehen hat, erleben wir jetzt, dass im Kongo nach dem Pretoria-I- und dem Pretoria-II-Abkommen und trotz mehrerer UN-Resolutionen kaum eine Verbesserung der Lage eintritt. Die freiwillige Entwaffnung und Demobilisierung der bewaffneten in- und ausländischen Kämpfer im Ostkongo durch die Peace-Keeping-Mission MONUC findet nur schleppend statt. Die Bundesregierung schaut tatenlos zu, wie immer noch bis zu 30 000 Menschen jeden Monat durch Kriegshandlungen, durch Massaker und durch sich infolge des Krieges dramatisch verschlechternde Lebensbedingungen zu Tode kommen. Das Sterben in Afrika, das Sterben im Gebiet der Großen Seen und im Kongo findet weitestgehend ohne öffentliche Kenntnisnahme, ohne Medien statt, anders als im Irak. Übrigens: Vor dem Krieg im Irak fand das Sterben unter Saddam auch weitgehend ohne öffentliche Kenntnisnahme statt. Allein in den ersten Aprilwochen 2003 sind bei Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der Volksgruppen der Hema und Lendu mehrere hundert Menschen bei einem Gemetzel in Drodro im Distrikt Ituri ums Leben gekommen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ vom 6. Mai dieses Jahres schreibt hierzu: Im Morgengrauen des 3. April hatten Milizionäre der Lendu-Ethnie den Ort Drodro und vierzehn umliegende Weiler in einer gut koordinierten Aktion angegriffen. In einer rund dreistündigen Blutorgie ermordeten sie Hunderte von Zivilisten, viele von ihnen mit Macheten. Die Opfer gehörten der Volksgruppe der Hema an.... Beim Massaker von Drodro wurden nach einer von Anwohnern zusammengestellten Namensliste 966 Personen abgeschlachtet. Zwei Tage nach dem Blutbad traf eine Untersuchungskommission der Monuc ein und inspizierte unter anderem mehr als 20 frische Massengräber. Später wurden die ersten Schätzungen auf 300 bis 400 Todesopfer korrigiert, doch in Wirklichkeit kann niemand genau angeben, wie viele Hema ermordet worden waren.... Mit dem Helikopter nach Drodro gelangt sind auch eine Untersuchungskommission der Monuc und zwei forensische Experten aus Argentinien.... Auf Anweisung der Argentinier machen sich Dorfbewohner daran, das Grab mit Hacken und Schaufeln zu öffnen. Als sie in etwa einem Meter Tiefe auf verrottende Bananenblätter stossen, übernehmen die Experten das Zepter und legen sorgfältig einen Teil der Grube frei.... Unter den Bananenblättern und einer dunkel gefärbten Decke kommt als Erstes ein Arm ans Licht. Mit Plastichandschuhen hebt einer der Argentinier vorsichtig den Kopf der Leiche in die Höhe. Es ist eine Frau. In ihrem Nacken klafft ein tiefer Schnitt. „Machete“, lautet der einzige Kommentar des Fachmanns. Das makabre Schauspiel beobachtet auch ein junger Mann - die Augen voller Tränen... „Meine Frau und unsere drei Kinder liegen hier“, sagt er mit erstickter Stimme. Immer wieder wird von den Verantwortlichen vor Ort gefordert, Truppen nach Drodro zu schicken, um die Hema vor den Lendu zu schützen. Bei Abzug der ugandischen Truppen besteht Todesgefahr. Doch die MONUC hat weder das Mandat noch die Truppen dazu. Herr Erler, Sie haben vorhin die Handlungsfähigkeit der Weltgemeinschaft beschworen. Als Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist es auch Aufgabe der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass der Zustand der Recht- und Straflosigkeit im Osten des Kongo wirksam bekämpft wird. ({0}) Besonders in der bereits erwähnten Region Ituri sind schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Massenhinrichtungen, systematische Vergewaltigungen, Kannibalismus, Vertreibungen und Plünderungen an der Tagesordnung. Überlebende Pygmäen berichten, sie seien von der Rebellenbewegung zum Verspeisen von Angehörigen gezwungen worden. So erklärte der Pygmäe Amuzati Nzoli, Warlord-Milizen hätten sein Dorf über3508 Hartwig Fischer ({1}) fallen und er habe mit ansehen müssen, wie sein sechsjähriger Neffe von Angreifern verspeist wurde. Kämpfer rissen dem Kind mit Macheten das Herz aus dem Körper und aßen es, nachdem sie es über dem Feuer geröstet hatten. Die Pressesprecherin der UN-Mission im Kongo bestätigte ebenso wie der Bischof aus Beni-Butembo die Kannibalismusvorwürfe. Die Bevölkerung leidet massiv unter den Auswirkungen dieser Kämpfe, die deren ohnehin schon katastrophale Situation weiter verschlechtert. 16 Millionen Kongolesen hungern bzw. leiden an Unter- oder Mangelernährung. 80 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. 70 Prozent haben keinen Zugang zu qualifizierter Gesundheitsversorgung. Die Aidsrate steigt infolge systematischer Vergewaltigungen und Prostitution. Kinder werden von den Kriegsparteien gewaltsam als Soldaten rekrutiert. Meine Damen und Herren, das Mandat von MONUC muss ausgeweitet werden und die Mission muss personell massiv verstärkt werden, damit die UNO nicht wie in den vergangenen Wochen bei schwersten Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen tatenlos zusieht. ({2}) Zwar ziehen sich derzeit ugandische Truppenteile aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo zurück; aber durch das entstandene Machtvakuum entsteht die Gefahr von neuen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Ethnien. Allein in der letzten Woche haben deshalb wieder 20 000 Angehörige der Hema aus Angst vor neuen Übergriffen der mit ihnen befeindeten Lendu die Grenze nach Uganda überquert. Die Bundesregierung muss sich mit aller Kraft dafür einsetzen, dass sichergestellt wird, dass das bestehende Machtvakuum nicht dazu genutzt wird, neue Konfliktherde zu schüren und alte mordend fortzusetzen. Dazu muss MONUC mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet werden. Ruanda hat zwar seine Truppen auf Druck abgezogen; aber die Entwaffnung der Hutu-Milizen, die eine Bedrohung für Ruanda darstellen, steht immer noch aus. Die Regierung in Kinshasa ist zu dieser Entwaffnung nicht in der Lage. Sie braucht die Unterstützung der UNO. Die UN müssen weiterhin sicherstellen, dass an dem Friedensprozess, der noch kommen soll, alle Volksgruppen beteiligt werden. Ohne das Engagement der nicht staatlichen Zusammenarbeit, zum Beispiel das vonseiten der deutschen Kirchen, wären in vielen Regionen die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem längst völlig zusammengebrochen. An dieser Stelle möchte ich daher im Namen meiner Fraktion den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der NGOs und der Kirchen, die im Kongo tätig sind, unseren großen Dank und unseren großen Respekt für ihre hervorragende Arbeit aussprechen, die oft nur unter Gefahr für Leib und Leben erfolgen kann. ({3}) Um insbesondere im Ostkongo tätig sein zu können, brauchen die NGOs aber Sicherheit, die nur durch die UN hergestellt werden kann. Nur so wird es für die Zukunft möglich sein, dass die reichhaltigen Rohstoffvorkommen dazu beitragen, die Armut der Bevölkerung zu lindern und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dies alles ist auch Voraussetzung für den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Es ist daher auch Aufgabe der Bundesregierung, Druck auf die UNO auszuüben. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, die menschliche Tragödie und das unermessliche Leid der Menschen im Kongo endlich zu beenden. Wir wollen mit unserem Antrag zur „Tragödie im Kongo“ die Öffentlichkeit sensibilisieren. Wir wollen die Medien aktivieren. Wir wollen, dass die Bundesregierung ihre Möglichkeiten ausschöpft. ({4}) Es soll niemand in Zukunft zu dem Morden und Sterben im Kongo sagen können: Wir haben nichts gesehen, wir haben nichts gehört, wir haben nichts gewusst und deshalb nichts getan. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Fischer! Bezüglich der Demokratischen Republik Kongo hat sich diese Regierung überhaupt nichts vorzuwerfen, das möchte ich klarstellen. ({0}) Einige Regierungsmitglieder beobachten sehr genau seit Jahren das, was in dieser Region passiert. Ich will Ihnen jetzt konkret auf das antworten, was Sie von uns eingefordert haben. Die Bundesregierung unterstützt, insbesondere im Rahmen der Europäischen Union durch den Sonderbeauftragten Ajello und als nicht ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates die Bemühungen um einen umfassenden und dauerhaften Frieden in der Demokratischen Republik Kongo und in der gesamten Region. Das Auswärtige Amt hat die Mission von Sir Quett Masire, dem ehemaligen Staatspräsidenten von Botswana, finanziell in großem Maße unterstützt, weil er der Mediator war, der versuchte, die verfeindeten Gruppen zusammenzubringen. Wir unterstützen mit großem Engagement im VN-Sicherheitsrat die Umsetzung der Resolution des Sicherheitsrates zur Region der Großen Seen. Wir unterstützen eine Anpassung des Mandats für MONUC, um unter anderem die Präsenz von MONUC im Ostkongo zu stärken. Wir haben in den letzten Jahren 20 Millionen Euro im Rahmen eines Weltbankprogramms für die Entwaffnung und die Reintegration von Exkombattanten ausgegeben. Während wir auf der einen Seite das Regime von Mobuto isoliert haben, haben wir mit den Menschen vor Ort - und das bereits unter der CDU/CSU-FDP-Regierung - in Vereinbarung mit der GTZ und der KfW kleine lokale Programme unterstützt, um die Menschen von der kommunalen Basis her zu stärken, damit ihr Überleben gesichert ist. Wir lassen uns von der CDU in dieser Sache nichts vorwerfen. Wir haben den Friedensprozess in den letzten Jahren massiv unterstützt und werden das auch weiterhin tun. Wir werden an der Seite der Kongolesen, aber auch der gesamten Region wie auf der Seite der Südafrikaner stehen, die diesen Prozess hoffentlich bald zu einem friedlichen Ende führen können. ({1}) Ich weise die Kritik, die Sie hier geäußert haben, wirklich mit aller Schärfe, auch im Namen der Ministerin, zurück. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Fischer, Sie können antworten.

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Abgeordnete Eid, ich habe keinen Zweifel an der Arbeit der NGOs, die Sie gerade angesprochen haben. Ich habe aber festgestellt, dass die Maßnahmen, die von der UNO im Pretoria-I-Abkommen vom 30. Juli 2002, im Pretoria-II-Abkommen vom 17. Dezember 2002 und im Sun-City-Abkommen vom 1. April 2003, das man sicherlich noch nicht beurteilen kann, weil es erst seit kurzem in Kraft ist, beschlossen wurden, in Bezug auf das Morden der Hema und Lendu im Ostkongo nichts genützt haben. Deshalb habe ich Sie aufgefordert, Ihre Kraft im Sicherheitsrat dafür einzusetzen, dass der Auftrag für MONUC geändert wird. Dazu gehört, dass MONUC auch militärisch eingreifen darf. Die Erfüllung dieser Aufgabe erwarte ich von Ihnen im Sicherheitsrat, unter Umständen sollten Sie dafür auch die neue Achse zu Frankreich und Russland einschalten. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Irakkrieg ist zu Ende, der 11. September 2001 jährt sich bald bereits zum zweiten Mal und so langsam kehrt wieder Ruhe ein, zumindest auf den Bildschirmen in unseren Wohnzimmern. Doch dieser scheinbare Frieden ist trügerisch: Das für uns lautlose Sterben von täglich 24 000 Menschen infolge von Hunger und Armut geht weiter, Tag für Tag, Stunde für Stunde, ohne Sendepause. Schon allein deshalb müssen wir aus humanitären Gründen all unsere Kraft darauf verwenden, den täglichen Massentod durch Hunger und Armut zu überwinden. Nur dann werden wir dem Terrorismus dauerhaft den Nährboden entziehen können. Herr Kollege Vaatz, es ist schon bedenklich, dass Sie aus dem Irakkrieg die Lehre gezogen haben - so haben Sie es süffisant ausgeführt -, dass sich alle Befürchtungen und Sorgen nicht bestätigt hätten. So viele Opfer habe es gar nicht gegeben; einen falschen Krieg schnell zu gewinnen, das sei quasi die Lösung. Wenn Sie das wirklich meinen, haben Sie nicht verstanden, dass es nicht darum geht, die Menschen zu bekämpfen. Vielmehr können wir nur dann, wenn wir die Armut bekämpfen und dann auch überwinden, für eine dauerhaft friedliche und gerechte Welt sorgen. ({0}) Allein mit den klassischen Mitteln der Entwicklungspolitik wie der bilateralen Projektförderung wird die Armutsbekämpfung nicht erfolgreich sein. Wir müssen Entwicklungspolitik in Zeiten der Globalisierung neu definieren. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat dies erkannt und betont seit 1998 immer wieder die Bedeutung von Entwicklungspolitik als globaler Strukturpolitik. Ein beeindruckendes Beispiel ist unter anderem die von der Bundesregierung maßgeblich forcierte Entschuldungskampagne. Trotz dieser großen Anstrengungen sind wir von einer gerechten Weltwirtschaftsordnung noch weit entfernt. Natürlich ist für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung und Armutsbekämpfung auch Good Governance in den Entwicklungsländern notwendig, wie wir es zu Recht von unseren Partnerländern einfordern. Aber leisten wir als Industrieländer auch wirklich unseren eigenen Beitrag für eine Good Global Governance? Das Ziel, den Anteil der Entwicklungshilfe in allen Staaten auf 0,7 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes zu steigern, ist zweifellos richtig. Genauso richtig ist es jedoch, die Entwicklungsländer fair am Welthandel zu beteiligen, damit sie langfristig selbstständig, also ohne fremde Hilfe ihre Lebensgrundlage erwirtschaften können. ({1}) Momentan gehen den Entwicklungsländern durch die Importzölle der Industrieländer doppelt so viele Einnahmen verloren, wie sie durch öffentliche Entwicklungszusammenarbeit erhalten. Die OECD-Staaten geben pro Tag etwa 1 Milliarde Dollar für Agrarsubventionen aus. Das ist das Sechsfache dessen, was sie an öffentlicher Entwicklungshilfe aufbringen. Diese Subventionen drücken die Preise auf dem Weltagrarmarkt erheblich nach unten. Im ländlichen Raum, wo drei Viertel der Hungernden und Armen der Welt leben, zerstören diese künstlichen Niedrigpreise die Märkte für Kleinbauern. Deshalb nehmen die Agrarverhandlungen im Rahmen der aktuellen Welthandelsrunde für die Armutsbekämpfung eine Schlüsselstellung ein. Wir haben - darauf ist vom Kollegen Hoppe schon hingewiesen worden - gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der auch von unserer Ministerin sowie unseren Kolleginnen und Kollegen im Landwirtschaftsausschuss nachdrücklich unterstützt wird. Das ist der Unterschied zu Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union. Sie propagieren in Sonntagsreden oft den Subventionsabbau, aber in Wirklichkeit geben sich bei Ihnen die Lobbyisten der Agrarindustrie die Klinke in die Hand. Sie müssen einmal so ehrlich sein, sich das einzugestehen, und daran etwas ändern. ({2}) Neben dem Agrarbereich sind auch die so genannten GATS-Verhandlungen über die Liberalisierung von Dienstleistungen ein wichtiger Aspekt in der WTORunde. Liberalisierungen im Sinne eines gesunden Wettbewerbs zur Schaffung effizienter Infrastrukturen durch private Unternehmen können durchaus Verbesserungen auch für die armen Bevölkerungsschichten in Entwicklungsländern bringen, insbesondere wenn man sich die oft nicht vorhandene oder ineffiziente und korrupte staatliche Infrastruktur anschaut. Allerdings können Privatisierungen zum Beispiel bei der Trinkwasserversorgung auch dazu führen, dass zwar die Ober- und Mittelschicht von einem verbesserten Angebot profitiert, aber die Ärmsten sich das Wasser nicht mehr leisten können. Auch die Kollegin Schmidt hat auf diese Problematik hingewiesen. Deswegen müssen wir sorgfältig prüfen, in welchen Sektoren und unter welchen Bedingungen Liberalisierungen wirklich etwas zur Armutsbekämpfung beitragen. Dazu sind wissenschaftliche Folgeabschätzungen notwendig. Das gilt übrigens für die Auswirkungen auf Entwicklungsländer genauso wie für die Konsequenzen von Liberalisierung bei uns. Auch die Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“ hat solche Folgeabschätzungen dringend empfohlen. Der Deutsche Bundestag hat aus diesem Grund vor wenigen Wochen einen Parlamentsvorbehalt gegenüber dem EU-Angebotskatalog innerhalb der GATS-Verhandlungen eingebracht. Genauso sollten wir den Forderungskatalog der EU an die Entwicklungsländer nochmals überdenken, bevor wir Entscheidungen treffen. ({3}) Es ist auch klar: Wenn uns als deutsche Parlamentarier mit all unseren wissenschaftlichen Hilfsdiensten die Beurteilung der komplizierten WTO-Verhandlungen schon schwer fällt, so ist dies für Entscheidungsträger der Entwicklungsländer noch viel schwieriger. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung die Kapazitäten der Entwicklungsländer weiter stärkt, damit diese ihre Chancen im Verhandlungsprozess nutzen können. ({4}) Es gibt viele Gründe, sich der Armutsbekämpfung und der fairen Ausgestaltung der Globalisierung zu widmen. Wir haben hier schon viel über humanitäre und sicherheitspolitische Erwägungen geredet. Für Deutschland als Exportland sind Kaufkraft und Wohlstand in den Entwicklungsländern wichtig, um zu einem weiteren Wirtschaftswachstum bei uns beizutragen. So unterschiedlich uns die Auswirkungen der weltweiten Armut betreffen, so vielfältig müssen die Lösungsansätze sein. Deshalb werden wir Heidemarie Wieczorek-Zeuls Prinzip einer kohärenten Politik, wonach alle Ressorts in ihren Entscheidungen die Folgen für die Entwicklungsländer berücksichtigen müssen, weiterhin zur Leitlinie unserer Entwicklungspolitik machen. ({5}) Herr Dr. Ruck, noch ein Satz zu Ihrer Kritik, die Sie vorhin geäußert haben. Sie haben uns vorgeworfen, dass sich bei uns so viele unterschiedliche Ressorts mit Entwicklungspolitik beschäftigen würden. Das ist ein Kompliment für uns und ein Zeichen dafür, dass Sie die Herausforderungen der Globalisierung in ihrer Komplexität noch nicht verstanden haben. ({6}) Die WTO-Runde im September in Cancun wird ein wichtiger Prüfstand werden. Noch haben wir die Chance, dass es tatsächlich eine Entwicklungsrunde wird. Ich appelliere deshalb an uns alle: Lasst uns in Cancun mit dem wertvollsten öffentlichen Gut handeln! Lasst uns mit Gerechtigkeit handeln! Dann werden wir Erfolg haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Raabe, ich gratuliere Ihnen recht herzlich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. ({0}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion der CDU/CSU. Sie hat beantragt, den Ent- schließungsantrag auf Drucksache 15/921 zur federfüh- renden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Aus- wärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu über- weisen. Diese Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen die Federführung beim Ausschuss für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der CDU/CSU abstimmen, wonach die Fe- derführung beim Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe liegen soll. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, wo- nach die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftli- che Zusammenarbeit und Entwicklung liegen soll? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überwei- sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenom- men. Der Entschließungsantrag ist damit federführend an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 15/922 und 15/923 sollen zur federführenden Beratung an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Aus- wärtigen Ausschuss, an den Ausschuss für Umwelt, Na- turschutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen werden. Darüber hinaus soll der Entschließungsantrag auf Drucksache 15/923 zusätzlich an den Haushaltsaus- schuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Über- weisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zusatzpunkt 2 auf: 4 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte der Opfer im Strafprozess ({1}) - Drucksache 15/814 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung - ({3}) - Drucksache 15/310 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - Drucksache 15/954 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Jerzy Montag ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Opferrechte stärken und verbessern - Drucksache 15/936 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Röttgen, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf, den die CDU/CSUFraktion heute vorlegt, zielen wir auf eine grundlegende Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafprozess. Uns geht es darum, dass die Stellung der Opferzeugen, der Zeugen also, die Opfer einer Straftat geworden sind, vom Beweismittel, das als Objekt behandelt wird, zu einem eigenständigen Verfahrensbeteiligten, der eigene Rechte hat, aber auch schutzbedürftig ist, aufgewertet wird. Wir wollen also die Aufwertung des Opferzeugen vom Beweismittel zum Verfahrensbeteiligten. Opferschutz ist nicht nur auf der Ebene der Rhetorik, sondern auch auf der Ebene des politischen Handelns ein Kernelement christlich-demokratischer Rechtspolitik. Praktisch alle Meilensteine im Opferschutz, die es in den letzten 20 bis 25 Jahren - man kann sogar sagen: in der deutschen Rechtsgeschichte nach 1945 - gegeben hat, sind das Ergebnis christdemokratischer und liberaler Rechtspolitik in den 80er- und 90er-Jahren. Wir haben Opferschutz praktiziert. ({0}) Es hat mit dem Opferschutzgesetz von 1986 begonnen, durch das insbesondere der Zeugenbeistand eingeführt wurde. Wir sind im Jahre 1994 mit der Einführung der Regelungen zum Täter-Opfer-Ausgleich fortgefahren und haben 1998 mit dem Zeugenschutzgesetz, durch das insbesondere die Videovernehmung zum Schutz kindlicher Zeugen, die Opfer von Gewaltverbrechen, zum Beispiel von Sexualverbrechen, geworden waren, in den Strafprozess eingeführt wurde, weitergemacht. Die Opfersituation hört ja nicht plötzlich auf. Viele Opfer sind auch nach Abschluss der Tat noch Opfer, da die psychischen Belastungen fortdauern. Darum handelt es sich beim Strafprozess immer auch ein wenig um eine Wiederholung und Verlängerung der Opfersituation, weshalb die Opfer den Schutz der Rechtsordnung benötigen. Darauf zielen wir mit unserem Gesetzentwurf ab. ({1}) Seitdem Rot-Grün regiert, ist auf dem Gebiet des Opferschutzes praktisch nichts mehr passiert. ({2}) Im Jahre 1999 haben Sie eine kleine Regelung zum Täter-Opfer-Ausgleich eingeführt. Ansonsten herrscht Fehlanzeige; es ist nichts passiert. ({3}) - Genau so ist es. Auch in dieser Legislaturperiode haben wir erneut Initiativen ergriffen. Wir haben uns dagegen gewehrt, dass bei Rot-Grün nur die Opfer rechtsextremistischer Gewaltverbrechen eine Entschädigung des Staates erhalten können. Wir sind der Auffassung: Das ist ungerecht. Man kann die Opfer extremistischer Gewalt nicht unterschiedlich behandeln. Bei uns sollen die Opfer aller extremistischer Gewalttaten eine Entschädigung erhalten. ({4}) Es ist zutiefst ungerecht, nach der politischen Motivation der Täter zu unterscheiden. Sie haben sich dem verweigert und dies ignoriert. Wir haben einen Antrag zum Opferentschädigungsgesetz vorgelegt. Im Anschluss daran haben Sie wieder etwas abgeschrieben. Das ist Ihr Markenzeichen in dieser Legislaturperiode. Sie betreiben eine reaktive Rechtspolitik. Wenn wir einen Gesetzentwurf zum Sexualstrafrecht vorlegen, legen Sie zwei Wochen später eine schlechte Kopie vor. ({5}) Wenn wir einen Antrag zum Opferentschädigungsgesetz stellen, dann schreiben Sie auch etwas auf. ({6}) Wir haben in unserer Fraktion in dieser Woche einen Gesetzentwurf zum Opferentschädigungsgesetz beschlossen. Ich bin gespannt, ob Ihren Worten auch Taten folgen werden, so wie das bei uns der Fall ist. ({7}) Nun komme ich zum Entwurf des 2. Opferschutzgesetzes, den wir heute vorlegen. Er geht zurück auf Überlegungen des Deutschen Juristentages im Jahre 1998. Die Überlegungen sind also schon einige Jahre alt. Sie sind im Jahre 2000 in eine Bundesratsinitiative eingeflossen. Über diese Initiative des damals noch sozialdemokratisch geführten Hamburger Senats - Justizsenatorin war Frau Peschel-Gutzeit - wurde im Bundesrat ein Jahr lang intensiv diskutiert. ({8}) Es hat zahlreiche Änderungen gegeben. Zum Schluss wurde der gemeinsame Entwurf des Bundesrates mit großer Mehrheit verabschiedet. Über diesen haben wir hier im Bundestag debattiert. Es gab große Ankündigungen von Ihnen. Sie sagten: Wir machen das, wir führen eine große Reform durch. Seitdem Sie regieren, hat es nichts außer großen Worten und Rhetorik gegeben. Auf dem Gebiet des Opferschutzes handeln Sie nicht. Sie tun nichts. ({9}) Ich habe in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ das Interview mit Frau Zypries, der Bundesjustizministerin, gelesen. Sie kann heute nicht anwesend sein und hat sich dafür entschuldigt; sie muss an einem Treffen des Justizministerrats teilnehmen. Die Überschrift dieses Interviews lautet: „Wir wollen die Rechte der Opfer stärken“. Heribert Prantl fragt sie, warum sie dem Vorschlag der CDU/CSU nicht einfach zustimme. ({10}) Ihre Antwort lautet - ich zitiere -: Ich würde es begrüßen, wenn sich die Union unseren weiter gehenden Ansätzen nicht verschließt. Es ist absolut dreist, nichts zu tun und dann unsere Zusammenarbeit einzufordern. Wo sind denn Ihre weiter gehenden Vorschläge? ({11}) Es liegt nichts auf dem Tisch, kein Gesetzentwurf, noch nicht einmal ein Antrag. Sie legen nichts vor und fordern uns auf, uns dem Nichts anzuschließen, während wir einen eigenen Gesetzentwurf vorweisen können. Dieser Stil der Arroganz und Ignoranz ist nicht in Ordnung. So kann man in der Rechtspolitik nicht mit anderen umgehen. ({12}) Frau Zypries übernimmt alle unsere Vorstellungen und außer heißer Luft kommt von ihr nur ein eigener Vorschlag: Zusätzlich zu dem Gesetzentwurf der CDU/ CSU sollen die Opfer von Straftaten etwa über Haftentlassungen informiert werden. Das ist angeblich einer der Gründe, warum sie unserem Gesetzentwurf nicht zuDr. Norbert Röttgen stimmen kann. Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie die Bundesjustizministerin über die geltende Rechtspraxis in gut regierten Bundesländern unterrichten. Ich kann Ihnen beispielsweise aus dem Bundesland Bayern schildern, dass diese Forderung durch eine Verwaltungsvorschrift präzise umgesetzt wird. Die Justizvollzugsanstalten sind angewiesen, die Opfer über die entsprechende Haftentlassung zu informieren. Das, was die Bundesjustizministerin fordert, ist in manchen Bundesländern schon geltende Praxis. Sie kennt sich noch nicht einmal in dieser Materie aus. Dieser Fehler sollte einer Bundesjustizministerin nicht unterlaufen. Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal auf das Interview eingehen. Frau Zypries verteidigt ihren Vorschlag der Anzeigepflicht bei Kindesmissbrauch mit dem Hinweis, auch dies sei Opferschutz. Es geht um den Vorschlag, die Anzeigepflicht strafbewehrt zu machen, wenn Nachbarn eine entsprechende Vermutung haben. Diejenigen, die von Berufs wegen etwas wissen können - Sozialtherapeuten, Familientherapeuten, Anwälte und andere Berufsgeheimnisträger - sind alle von der Strafbarkeit ausgenommen. Aber Frau Zypries will Nachbarn, die einen Verdacht haben und nicht Anzeige erstatten, bestrafen. Diese Anzeigepflicht soll mit den Mitteln des Strafrechts durchgesetzt werden. Dieser Vorschlag wurde von allen abgelehnt. ({13}) In der Sachverständigenanhörung haben insbesondere die von Ihnen benannten Sachverständigen, egal ob sie aus der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft kamen, diesen Vorschlag vehement abgelehnt. ({14}) Dieser Vorschlag wird von den Opferverbänden, vom Kinderschutzbund und den Frauenverbänden abgelehnt. Keiner will das Instrument des Strafrechts einsetzen, um Nachbarn zu verunsichern, die vielleicht einen Verdacht haben. Sie alle fürchten die Folgen. Wenn an der Vermutung, die Sie strafrechtlich kriminalisieren wollen, nichts dran ist, kann mit einer solchen Anzeige großes Unheil angerichtet werden. Wenn die Vermutung aber der Wahrheit entspricht und es aufgrund der Verpflichtung sehr früh zu einer Anzeige kommt, die Beweislage für eine Verurteilung jedoch nicht ausreicht, kann diese Anzeigepflicht, die die Opfer unvorbereitet trifft, weil sie auf die Zeugenvernehmung nicht vorbereitet sind, für missbrauchte Kinder und Frauen die Hölle bedeuten. Darum erweisen Sie den Opfern mit dieser Idee einen Bärendienst. Frau Zypries hat sich total verrannt. Es wäre gut gewesen - Minister haben bekanntlich noch andere Pflichten -, wenn sie an der Sachverständigenanhörung zu diesem Teil teilgenommen hätte. In dem Fall hätte sie erfahren, dass diese Idee von allen abgelehnt wird. Ich warne Sie im Interesse der Opfer davor, das Strafrecht an dieser Stelle mit der Operation Gesichtswahrung der Bundesjustizministerin zu belasten, die sich in diese Idee verrannt hat. Nehmen Sie von diesem Vorschlag, der falsch ist, einfach Abstand. So geht es nicht. ({15}) Es kann nicht sein, dass es in der Rechtspolitik zu einer Kombination aus eigener Inaktivität auf der einen Seite und dem Missbrauch Ihrer Mehrheit auf der anderen Seite kommt, mit der Sie unsere Vorschläge blockieren und boykottieren. Das würde wirklich zu einer Katastrophe, zu einem Stillstand in der Rechtspolitik führen. Ihnen selber fällt nichts ein, aber unsere Vorschläge boykottieren Sie, nur weil sie von uns kommen. Worauf zielt unser Gesetzentwurf ab? Wir wollen die Rechte des Opfers auf drei Ebenen stärken. Erstens wollen wir den Persönlichkeitsschutz von Zeugen gesetzlich verankern. Zweitens wollen wir eine aktive Teilnahme des Opfers am Verfahren durch Wahrnehmung eigener Rechte ermöglichen. Drittens wollen wir die Durchsetzung materieller Ansprüche, den Ausgleich materieller Schäden schon im Strafverfahren ermöglichen. Um diese drei Ziel zu realisieren, haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich nenne beispielhaft einige Maßnahmen, in denen sich der Persönlichkeitsschutz von Opfern im Strafverfahren niederschlägt. Es hat mich überrascht und im Grunde auch entsetzt, dass es folgende Regelung noch nicht gibt: Wir wollen, dass eine vergewaltigte Frau, eine Frau, die Opfer eines Sexualverbrechens geworden ist, das Recht haben soll, dass körperliche Untersuchungen an ihr von einer Frau, von einer Ärztin vorgenommen werden, nicht von einem Mann. Das ist nicht geltendes Recht. Wenn man sich vorstellt, dass eine durch männliche sexuelle Gewalt traumatisierte Frau nicht das Recht hat, die körperliche Untersuchung durch eine Frau zu verlangen, kann man nur sagen: Ihre Untätigkeit ist skandalös. ({16}) Wir waren auf diesem Gebiet aktiv, aber Sie machen seit fünf Jahren nichts, sondern halten nur Reden. Meine Damen und Herren, handeln Sie endlich! ({17}) - Sie regieren seit fünf Jahren. Sie wären sehr gut, wenn Sie nur die Hälfte dessen getan hätten, was wir gemacht haben. ({18}) Wir wollen die Anwendung der Videotechnik ausweiten. Sie soll bei bestimmten Verbrechen, etwa bei Sexualverbrechen, nicht nur bei kindlichen und jugendlichen, sondern bei allen Opfern angewandt werden. Dem kann man sich nicht verschließen. Wir wollen das so genannte Mainzer Modell in die Strafprozessordnung aufnehmen, also die auf Videotechnik gestützte Übertragung der Vernehmung in einen anderen Raum, um für kindliche Zeugen eine Vertrauensatmosphäre zu schaffen, die sie überhaupt erst in die Lage versetzt, auszusagen, die ihre Aussagefähigkeit herstellt. Dies ist unser zweiter Vorschlag. Wir wollen ein Verbot der Herausgabe von Bildund Tonaufzeichnungen gegen den Willen der Opfer. Solche Aufzeichnungen von Opfern, die möglicherweise sehr kurz nach der Tat entstehen, zeigen das Opfer in seiner Verletztheit und dürfen darum nicht herausgegeben werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Weitere Redner unserer Fraktion werden Einzelheiten dazu darstellen. Wir wollen Verfahrensrechte der Opfer begründen. Wir wollen die schnelle Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen schon im Strafverfahren realisieren. Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht. Ich komme zum Schluss und sage am Ende nur noch einen Satz. Ich bin sicher, dass die von uns gemachten Vorschläge, die im Bundesrat auch von sozialdemokratischer Seite Zustimmung gefunden haben, in der Sache auch bei Ihnen fast durchgängig Zustimmung finden werden. Darum ist meine letzte Bitte: Missbrauchen Sie Ihre Mehrheit, die Sie im Bundestag leider haben, nicht zur Blockade von guten Vorschlägen zum Opferschutz, nur weil sie von unserer Fraktion kommen. Entscheiden Sie sich endlich für eine ideenreiche, ({0}) aber insbesondere für eine konstruktive Rechtspolitik. Nehmen Sie unsere Vorschläge auf. Damit tun wir den Opfern in diesem Land einen guten Dienst. Sie warten schon zu lange darauf, dass gehandelt wird. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker, SPD-Fraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Röttgen, wir haben im Deutschen Bundestag nicht „leider“ die Mehrheit, sondern berechtigterweise, ({0}) um insbesondere zu einer sachorientierten Rechtspolitik zurückzukommen, ({1}) um von der Fülle der so genannten Justizentlastungsgesetze wegzukommen, mit denen Sie in den 80er- und 90er-Jahren die Justiz in Deutschland überzogen haben, ({2}) unter denen die Praxis geächzt hat und weshalb die Praxis am Gesetzgeber verzweifelt ist. Wir haben 1998 in der Tat angefangen, wieder eine sachorientierte Rechtspolitik zu betreiben. Herr Kollege Dr. Röttgen, alles das, was Sie eben vorgetragen haben, zeigt mir, dass es angelernt war. Entschuldigen Sie, wenn ich sage: Es war wirklich aufgeblasen. Herr Kollege, mit dem, was Sie erzählt haben, sind Sie der Bedeutung des Strafprozesses im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht einmal im Ansatz gerecht geworden. ({3}) Ich kann nur hoffen, dass möglichst viele in der Praxis das gehört haben, was Sie erzählt haben. Denn die Qualität der Rechtspolitik ist in Ihren Worten heute Mittag um 12 Uhr hier im Deutschen Bundestag sehr deutlich geworden. Strafverfahren sollen künftig zügiger abgeschlossen werden können. Sie sollen zugleich die Bedürfnisse der Kriminalitätsopfer deutlicher als bisher berücksichtigen. Ziel ist es, die Verfahren ohne Einbußen an Rechtsstaatlichkeit bei der Wahrheitsfindung auf die jeweils entscheidenden Fragen zu konzentrieren. Den Interessen der Opfer soll durch eine verbesserte Information über den Ablauf des Strafverfahrens entsprochen werden. Vermehrte Verwertungsmöglichkeiten von früheren Beweiserhebungen werden den Opfern oftmals quälende Mehrfachvernehmungen ersparen. Schnellere Verfahrensbeendigung und damit früherer Rechtsfrieden lassen es zu, dass Opfer von Straftaten das erlebte - oft traumatisierende - Geschehen wirklich verarbeiten können. Durch stärkere Nutzung von Gesprächen der Verfahrensbeteiligten bereits in einem frühen Stadium kann häufiger als bisher ein Täter-Opfer-Ausgleich dem Opfer die Möglichkeit geben, den Täter mit den materiellen und immateriellen Folgen der Tat zu konfrontieren. ({4}) Durch Begrenzung des Prozessstoffes im Zwischenverfahren kann die Ladung von entbehrlichen Zeugen unterbleiben. Dies erspart insbesondere den Opfern von Straftaten die psychische Belastung, die häufig bereits durch die Ladung ausgelöst wird, und gewährleistet dadurch effizienten Opferschutz. Die Opferinteressen werden auch durch die Beteiligung der zugelassenen Nebenklage in einem frühen Stadium des Verfahrens gewahrt. Die Einführung eines strafgerichtlichen Wiedergutmachungsvergleichs wird eine endgültige einvernehmliche Einigung über den Schadensausgleich noch in der Hauptverhandlung ermöglichen. Diese Maßnahmen befördern insgesamt das berechtigte Interesse des Opfers, Wiedergutmachung und Genugtuung zu erfahren. Ergänzend werden die weiteren Möglichkeiten zur Verbesserung der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche im nahen zeitlichen Zusammenhang mit dem Ermittlungs- und Strafverfahren zu einem besseren Nachtatschutz der Opfer von Straftaten führen. ({5}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was ich Ihnen eben in komprimierten Worten vorgetragen habe, ist der Punkt 1 des Eckpunktepapiers, das die Koalitionsfraktionen im Sommer des Jahres 2001 hier vorgelegt haben, ({6}) Darüber ist auf dem Deutschen Juristentag diskutiert worden ist und darüber wird seitdem in der Fachpraxis sehr detailliert diskutiert - eine Entwicklung, die offensichtlich an Ihnen vorbeigegangen ist. Wenn Sie sich die Eckpunkte, die ich Ihnen eben vorgetragen habe, ansehen, dann werden Sie feststellen, dass die drei Zielrichtungen Ihres Gesetzentwurfs, die Sie, Herr Kollege Röttgen, vorgetragen haben, darin enthalten sind. Wir widersprechen uns da also auch nicht im Ansatz. ({7}) Deshalb darf ich zu Ihrem Gesetzentwurf vom 8. April dieses Jahres sagen: Willkommen im Klub! Wir freuen uns, dass Sie zukünftig mit dabei sind. Auch Sie haben jetzt endlich die Notwendigkeit der verstärkten Implementierung des Opferschutzes im Strafprozess erkannt. Nachdem Sie jahrelang immer nur mit Verschärfungen im Bereich des Strafrechtes aufgetreten sind, begreifen Sie jetzt langsam auch, dass der Opferschutz in der Strafprozessordnung eine stärkere Bedeutung bekommen muss. ({8}) Ich darf hinzufügen, dass der Entwurf, den Sie vorgelegt und so vehement erläutert haben, nicht einmal von Ihnen stammt. Sie selber haben es zwischen den Zeilen zugegeben. Vielmehr hat Hamburg vor einiger Zeit einen entsprechenden Antrag in den Bundesrat eingebracht. Er ist dann als Gesetzentwurf des Bundesrates verabschiedet und dem Bundestag auf Drucksache 14/4661 zugeleitet worden. Jetzt haben Sie ihn abgeschrieben und als eigenen Entwurf eingebracht. Ein Urheberrecht geltend machen zu wollen wäre in der Tat sehr vermessen, Herr Röttgen. Daher war Ihr Auftritt wirklich unsäglich. ({9}) Alles, was Sie vorgetragen haben, ist in der Debatte nichts Neues. Darüber findet die rechtspolitische Diskussion seit zwei Jahren statt. ({10}) - Hören Sie einen Augenblick geduldig zu! Ich komme jetzt zu Ihrer Kritik. ({11}) Sie als Opposition fragen zu Recht - das würde auch ich an Ihrer Stelle so machen -: Warum habt ihr euer Eckpunktepapier in diesen zwei Jahren nicht umgesetzt? Warum ist noch nichts im Bundesgesetzblatt? Wo ist euer Gesetzentwurf? ({12}) Wer ein bisschen vom Strafprozess versteht und wer hören will, für den ist es relativ einfach. ({13}) Die Strafprozessordnung, die historisch betrachtet in ihrem Kerngehalt als Magna Charta des Beschuldigten konzipiert ist, stellt ein zusammenhängendes, verzweigtes Normengeflecht dar, in dem bei der Verfolgung des staatlichen Strafanspruches im Vor-, Zwischen- und Hauptverfahren alles sehr kooperativ und zusammenführend geregelt ist. Sie müssen bei jeder einzelnen Neuregelung, die Sie vornehmen wollen, die Gesamtkonzeption beachten und dürfen sie nicht aus dem Auge lassen. Alles hängt mit allem zusammen und daher hat sich unser Eckpunktepapier nicht in dem einen Punkt erschöpft, sondern wir haben zwölf Punkte vorgelegt, wie wir uns ein modernes, reformiertes Strafprozessrecht für die Zukunft vorstellen. Dazu gehört nicht nur der Opferschutz, obwohl er bei uns der Eckpunkt eins gewesen ist, sondern dazu gehören auch die Stärkung der Rechte der Verteidigung, die Stärkung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfahren, die Förderung konsensualer Elemente im Ermittlungsverfahren, die Einführung eines Anhörungstermins im Zwischenverfahren, die Eingangsstellungnahme der Verteidigung bereits in der Hauptverhandlung, die verstärkte Verwertbarkeit von im Ermittlungsverfahren erhobenen Beweisen, eine transparentere Hauptverhandlung mit Normierung von Verständigungselementen, der vermehrte Einsatz technischer Mittel, die Optimierung der Rechtsmittel von Berufung und Revision und eine Reihe von Einzelvorschlägen aus der Praxis, die hier noch hinzukommen. In der Tat: Unser Eckpunktepapier war und ist sehr anspruchsvoll. Das entspricht aber auch der skizzierten Aufgabenstellung; denn eine Strafprozessordnung können Sie nicht stückweise ändern, sonst passt nachher nichts mehr zusammen. Das ist genau der Punkt. ({14}) Ich darf Ihnen daher heute sagen - nun mache ich Ihnen ein Angebot und dann können wir vielleicht wieder zur sachlichen Arbeit zusammenkommen -: Wir haben mit der Umsetzung dieses Eckpunktepapiers in einen Referentenentwurf im Jahr 2001 begonnen und wir werden Ihnen noch im Herbst dieses Jahres eine umfassende Novellierung der Strafprozessordnung, wie ich sie eben skizziert habe, vorlegen. ({15}) - Sie hören nicht zu, darum begreifen Sie nichts. Wenn Sie mir zuhören würden, könnten Sie mir vielleicht folgen und würden begreifen, was ich Ihnen zu erklären versuche. Sie als Zivilrechtler scheinen nicht begreifen zu können, wenn ich Ihnen sage, dass man die Vorschriften nicht stückweise ändern kann, sondern ein Gesamtkonzept haben muss. ({16}) Wir werden Ihnen also im Herbst dieses Jahres hierzu einen Entwurf vorlegen. Was wir nicht wollen, das sind Teillösungen im Fünften Buch der Strafprozessordnung, wie sie jetzt von Ihnen vorgelegt worden sind. ({17}) Teillösungen geben den Menschen im Ergebnis Steine statt Brot. Das ist blinder Aktionismus, Rechtspolitik, die nicht durchdacht ist und nur tagespolitisch opportun erscheint, Herr Kollege Röttgen. Das ist Ihre Rechtspolitik seit 1998 gewesen. Mit diesem Entwurf setzen Sie diese Politik fort. ({18}) Ich bin sicher, dass wir, wenn wir diesen Weg gemeinsam gehen - in der Sache sind wir ziemlich nahe beieinander -, sehr zeitnah in dieser Legislaturperiode eine moderne Strafprozessordnung mit der besonderen Betonung des Opferschutzes im Bundesgesetzblatt stehen haben werden und ein modernes Strafverfahrensrecht haben werden, das den Sicherheitsbedürfnissen der Allgemeinheit, den Anforderungen der Praxis, den Rechten der Beschuldigten und den Rechten und Ansprüchen der Opfer jeweils gleichermaßen gerecht wird; ich betone: gleichermaßen gerecht wird. Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns diese große Aufgabe gemeinsam lösen. Sie ist es wert, dass sie gemeinsam gelöst wird. Sie ist es aber nicht wert, opportunistisch zur Tagespolitik gemacht zu werden, weil Ihnen nichts anderes mehr einfällt, um die Bundesjustizministerin treiben zu können. Denn Ihre Ausführungen zum sexuellen Missbrauch von Kindern und zu den Anzeigepflichten, die normiert werden sollen, zeigen nur eines, ({19}) was bedenklich und bedauerlich ist: Sie instrumentalisieren Rechtspolitik zur Tagespolitik, Herr Kollege Röttgen, und damit springen Sie viel zu kurz. Damit werden Sie im Ergebnis den Menschen in diesem Lande und dem allgemeinen Wohl nichts Gutes tun. Schönen Dank. ({20})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedauere es außerordentlich, dass der Kollege Stünker in dieser Debatte nicht den Ton gefunden hat, den das Thema meiner Meinung nach verdient hat. ({0}) Mit kleinlichen Vorwürfen kommen wir und vor allen Dingen die Opfer von Verbrechen nicht weiter. Ich denke, unsere Verpflichtung bzw. unser gemeinsames Anliegen in der heutigen Debatte zum Thema Opferschutz - ich freue mich sehr über diese Debatte, die wir erstmals in der Kernzeit des Bundestages, also an prominenter Stelle, führen - sollte darin bestehen, Verbesserungen zu erzielen, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und herauszufinden, an welcher Stelle Ergänzungen notwendig sind. Darin sehe ich auch den Sinn meiner Bemühungen als Redner der FDP in dieser Debatte am heutigen Vormittag. Ich möchte meine Rede in drei Teile aufteilen. Der erste Teil soll sich mit Maßnahmen befassen, die keine gesetzlichen Änderungen erfordern, die aber nach meiner Auffassung den Opferschutz ein großes Stück voranbringen könnten. In Baden-Württemberg ist auf Vorschlag einer Kommission eine Einrichtung geschaffen worden, die sich als außerordentlich hilfreich erwiesen hat. Dort werden Referendare - junge Juristen, die sich in der Ausbildung befinden - darum gebeten, Zeugen, insbesondere Opferzeugen, vor der Gerichtsverhandlung zu betreuen, sie auf die Verhandlung vorzubereiten und ihnen diese zu erklären. Das hat einen doppelten Vorteil: Auf der einen Seite fühlen sich die Zeugen ernst genommen und auf der anderen Seite lernen junge Juristen, welche Folgen Verbrechen für die Opfer haben. Das prägt sie in ihrem weiteren Werdegang. Wir Juristen - ich bin von Beruf Oberstaatsanwalt - sind nämlich in der Regel zu sehr auf die Täter fixiert. Der Richter muss die Schuld feststellen; wir Staatsanwälte müssen die Täter anklagen und der Verteidiger wird dafür bezahlt, dass er ihre Rechte wahrnimmt. Insofern übersehen wir sehr häufig die Opfer. Ich begrüße es, dass das Modell in Baden-Württemberg ermöglicht, dass junge Juristen auch die Opferperspektive kennen lernen. ({1}) Ich werbe dafür, dieses Modell bundesweit umzusetzen. Ich glaube, dass wir damit einen großen Schritt vorankommen würden. Auch ein weiterer Schritt zugunsten der Opfer erfordert kein gesetzgeberisches Handeln. Ein Blick in die Zeitungen zeigt, dass Journalisten in aller Regel sehr intensiv über das Vorleben von Tätern berichten. Das kann auch durchaus interessant sein, beispielsweise weil darin einer der Gründe für die Tat liegen kann. Ich wünsche mir aber auch, dass genauso intensiv über die Folgen einer Tat für das Opfer berichtet wird. Denn dadurch wird auch deutlich, dass eine Tat in aller Regel nicht damit endet, dass beispielsweise eine Geldbörse gestohlen oder jemand zusammengeschlagen worden ist, sondern dass die Wirkungen sehr viel länger anhalten. Die Taten haben häufig erhebliche Auswirkungen auf die Opfer. Ich denke, dass eine intensivere Berichterstattung über die Folgen einer Tat für die Opfer dazu beitragen würde, dass die Opfer in der Gesellschaft ernster genommen werden. Der zweite Teil meiner Ausführungen soll sich mit Maßnahmen befassen, die wir im Bundestag beschlossen haben und mit deren Umsetzung ich nicht zufrieden bin. Der Kollege Röttgen hat mit Recht darauf hingewiesen, dass in der Wahlperiode 1994 bis 1998 mit der Einführung des Opferanwalts - um nur dieses Beispiel zu nennen - erhebliche Fortschritte im Opferschutz erzielt worden sind. Ich danke an dieser Stelle dem ehemaligen Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig, der inzwischen aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Er hat wesentlich dazu beigetragen, diese Verbesserungen zu erreichen. Wir haben es ermöglicht, dass zum Beispiel Vernehmungen aus einem Nebenraum übertragen werden können, was insbesondere vergewaltigten Frauen hilft. Ich habe es als Staatsanwalt häufig miterlebt, wie schwierig es für vergewaltigte Frauen ist, in großer räumlicher Nähe zum Täter zu sitzen, wenn sie als Zeugin vernommen werden. Deshalb haben wir diese Möglichkeit geschaffen. Ich ärgere mich darüber, dass in der Praxis davon so wenig Gebrauch gemacht wird. Ein Signal in der heutigen Debatte muss sicherlich darin bestehen, die Erwartung des Bundestags zu bekräftigen, dass von solchen bereits geschaffenen Möglichkeiten stärker Gebrauch gemacht wird. ({2}) Das Gleiche gilt im Übrigen für die Einführung von Aufzeichnungen in die Hauptverhandlung. Auch das führt dazu, dass Belastungen insbesondere für kindliche Opfer erheblich reduziert werden können. Ich erwarte von meinen Kollegen in der Justiz, dass sie in diesem Bereich mehr Feingefühl aufbringen und viel stärker als bisher davon Gebrauch machen. In vielen Justizverwaltungen sind nämlich die entsprechenden Einrichtungen dafür schon bereitgestellt worden. Ich weiß das aus meinem eigenen Bundesland. Im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich mich damit befassen, was wir als FDP vorschlagen. Das erste Thema muss die Entschädigung von Terroropfern sein. Ich habe für meine Fraktion unmittelbar nach dem Anschlag in Djerba im Bundestag eine Regelung beantragt, die es ermöglicht, dass deutsche Terroropfer im Ausland genauso behandelt werden wie Opfer im Inland. Das ist damals von der Koalition leider abgelehnt worden. Wir haben diesen Antrag nach dem Anschlag in Bali wieder aufgegriffen und unmittelbar nach der Bundestagswahl wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. Erst jetzt bewegt sich die Koalition ganz vorsichtig. Ich freue mich, dass die beiden Oppositionsfraktionen in dieser Frage einer Meinung sind. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung, die die Opfer von Terror im Ausland nicht schlechter stellt. Ich hoffe, dass eine solche Regelung nicht zu spät kommt. Wir alle haben im Moment die Situation in Algerien vor Augen. Ich denke an unsere Landsleute, die dort verschleppt worden sind. Das macht die Größe der Aufgabe deutlich, für entsprechende gesetzliche Regelungen zu sorgen, und zeigt auch, welch große Verantwortung wir in dieser Frage haben. Ein anderer Bereich, der für uns außerordentlich wichtig ist, ist das Adhäsionsverfahren, das schon vom Kollegen Röttgen angesprochen worden ist. Ich weiß, dass viele meiner Kollegen in der Justiz das nicht mögen. Ich möchte denjenigen, die keine Juristen sind, das Verfahren erklären. Im Strafverfahren wird über die Schuld des Täters entschieden und dann eine Strafe festgesetzt. In aller Regel sind durch die Straftat auch Schäden verursacht worden. Im Augenblick muss aber in Deutschland über Schadensersatzansprüche in einem weiteren Verfahren, in einem Zivilverfahren entschieden werden mit dem Ergebnis, dass das Opfer noch ein zweites Mal angehört werden muss und dass ihm dadurch das ganze Geschehen wieder präsent wird. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass in Deutschland das zur Selbstverständlichkeit wird, was in vielen anderen Ländern, beispielsweise in Frankreich, bereits eine lange Tradition hat, dass nämlich im Strafverfahren gleichzeitig über Schadensersatzansprüche entschieden wird. Ich hoffe, dass wir in diesem Punkt ein Stück vorankommen. ({3}) Ein weiterer Punkt, der mir persönlich außerordentlich wichtig ist, ist die Stärkung der Opferrechte im Jugendstrafverfahren. Da das Jugendverfahren pädagogisch ausgerichtet ist, ist es für mich überhaupt nicht einsichtig, warum eine Beteiligung des Opfers pädagogisch nachteilig sein soll. Ich halte es für richtig, dass das Opfer Mitgestaltungsmöglichkeiten hat, weil dem betreffenden Jugendlichen auf diese Weise klar wird, welche Wirkung seine Tat gehabt hat. Wir sollten deshalb in dieser Frage offener als in der Vergangenheit sein und diese Möglichkeit zusätzlich eröffnen. Der letzte Punkt ist mir auch deshalb wichtig, weil ich als Oberstaatsanwalt in der Praxis entsprechende Erfahrungen gemacht habe. Wer mitbekommen hat, welche Wirkung beispielsweise die Tötung eines Kindes auf die betroffene Familie hat, der weiß, dass es in solchen Fällen beispielsweise die dringende Notwendigkeit einer psychologischen Betreuung gibt. Eine solche Betreuung hat der Staat bisher nicht finanziert. Wir wollen, dass in Zukunft auch die Kosten einer psychologischen Betreuung erstattet werden. Ich glaube, dass das ein richtiger und notwendiger Schritt ist. Ich freue mich - damit schließe ich -, dass der Opferschutz wieder ein Thema ist. Der Kollege Stünker hat vorhin gesagt, die Strafprozessordnung sei die Magna Charta des Beschuldigten. Ich hoffe, dass sie auch die Magna Charta der Opfer wird. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute den von der CDU/CSU eingebrachten „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte der Opfer im Strafprozess“. Dieser Titel klingt gut. ({0}) Es erscheint schwer vorstellbar, dass irgendjemand in diesem Hohen Hause aus Prinzip gegen eine Stärkung der Rechte der Opfer im Strafverfahren ist. ({1}) Opferschutz kann sich aber nicht auf das Strafverfahren beschränken, sondern muss viel früher anfangen. Wir haben in unserer bisherigen Regierungszeit unser Augenmerk darauf gerichtet, Menschen zu helfen, gar nicht erst Opfer von Straftaten zu werden, sich gegen Straftaten selbst und mithilfe des Staates zur Wehr zu setzen und mit zivilen Mitteln des Rechts einzugreifen. Aus einer ganzen Reihe von Maßnahmen will ich an dieser Stelle folgende erwähnen: Das Gewaltschutzgesetz hilft Frauen gegen häusliche Gewalt. Das Kinderrechteverbesserungsgesetz hilft Kindern. Wir setzen die Aktionspläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung um. Das von uns gegründete Deutsche Forum für Kriminalprävention leistet wichtige Beiträge zur Entwicklung langfristiger Präventionsstrategien. Der Opferschutz im Strafverfahren und vor allem seine Stärkung ist zweifelsohne auch ein wichtiges Thema. Er ist durch das Opferschutzgesetz von 1986 und das Zeugenschutzgesetz von 1998 - Sie haben diese bereits erwähnt, Herr Röttgen - in der Strafprozessordnung verankert. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns über weitere notwendige Verbesserungen keine Gedanken machen. ({2}) Aber Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, müssen sich an diesen beiden Gesetzen, die in Ihrer Regierungszeit beschlossen wurden, und an Ihren früheren Aussagen zum Opferschutz im Strafprozess messen lassen. In der Einleitung des Gesetzentwurfs, über den wir heute beraten, steht - das haben auch Sie angeführt, Herr Röttgen -, er sei „eine grundlegende Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafprozess“. 1997 aber, bei der letzten Regelung des Opferschutzes, haben Sie Folgendes geschrieben: Den besonderen Bedürfnissen schutzwürdiger Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren kann auf der Grundlage des geltenden Rechts in weitem Umfang Rechnung getragen werden. ({3}) Was wollen Sie denn jetzt? Halten Sie eine grundlegende Neubestimmung für notwendig oder kann im Wesentlichen alles beim Alten bleiben? Das waren doch 1997 Ihre Überlegungen. ({4}) Diesen Widerspruch können wir auflösen, indem wir uns zwei Fragen widmen. Die erste ist: Woher kommt Ihr Gesetzentwurf? Er kommt eigentlich gar nicht von Ihnen. ({5}) - Nein! Im Bundestagsprotokoll vom 21. Juni 2001 ist eine Rede der damaligen hamburgischen Justizsenatorin Peschel-Gutzeit zu lesen. Legen Sie bitte Ihren Gesetzentwurf als Blaupause auf das Original dieser Rede! Herr Röttgen, Sie haben alles Wort für Wort abgekupfert! ({6}) In der allgemeinen Begründung steht kein einziger eigenständiger Satz von Ihnen; alles ist wortwörtlich abgeschrieben! ({7}) Es gibt noch eine Erklärung für Ihren Sinneswandel. Es könnte sein, dass Sie glauben, Sie hätten in Ihrer Regierungszeit doch viel zu wenig für Opfer getan, weswegen Sie jetzt aus der Opposition heraus nachlegen wollen. Wenn ich mir dieses Gesetz anschaue, stelle ich aber fest: Sie haben etwas völlig anderes im Sinn. Unter dem Vorwand des Opferschutzes wollen Sie Verteidigerund Verteidigungsrechte so beschneiden, dass die fragile Balance der Rechte im Strafprozess - Herr Stünker hat das angesprochen - völlig zerstört wird. ({8}) Ich will Ihnen dafür Belege liefern, die in Ihrem Gesetzentwurf stehen. Erstens. Durch die Änderung des § 58 a StPO wollen Sie das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in Aktenteile aushebeln, die als Ton- und Bildaufnahmen von Zeugenaussagen vorliegen. Was haben Sie 1997 zu diesem Vorschlag selbst gesagt? Sie haben gesagt, dass Sie darauf verzichten, weil dies die Rechte und Befugnisse des Verteidigers unzumutbar beeinträchtigt. ({9}) Der Verteidiger des Beschuldigten ist in der Regel auf Kopien der Videobänder angewiesen. Das sind Ihre Worte, meine Damen und Herren von der Opposition. ({10}) - Da habe ich Sie zitiert. Zweiter Punkt. Mit der Änderung des § 247 a StPO wollen Sie das so genannte Mainzer Modell der Beweisaufnahme als Regel in die Strafprozessordnung einführen, und zwar nicht in der Form, wie das jetzt der Fall ist und wie ich das auch begrüße. In geeigneten Sonderfällen ist das Gericht vollständig mit allen Verfahrensbeteiligten im Gerichtssaal und der Zeuge oder die Zeugin wird aus einem anderen Saal heraus vernommen. Nach Ihrem Vorschlag jedoch soll der Vorsitzende allein mit dem Zeugen irgendwo sitzen. Die Verfahrensbeteiligten werden zu Statisten. Sie sind nicht mehr aktiv Beteiligte an einem Prozess, sondern sie erleben eine Liveshow über Video. Das ist eine Perversion des Strafprozesses. ({11}) Deswegen haben Sie, Herr Röttgen, das 1997 mit folgenden Worten abgelehnt - Zitat -: Eine solche Regelung würde schwierigste strafprozessuale Fragen aufwerfen. ({12}) Das tut sie tatsächlich. Ich könnte das im Einzelnen aufführen. Dazu fehlt aber die Zeit. Drittens. Mit der Änderung des § 405 StPO wollen Sie die Strafgerichte zwingen - Sie wollen sie zwingen! -, in allen Fällen des versuchten Mordes, des versuchten Totschlags, der Vergewaltigung und - hören Sie zu! - in allen Fällen der Körperverletzung, also im absoluten Massengeschäft des Amtsgerichts, die Adhäsion durchzuführen, und zwar auch dann, wenn das Gericht nach sorgfältiger Prüfung in dem konkreten Strafprozess eine Adhäsion für ungeeignet hält. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei dem Gespräch mit den Rechtspraktikern über diesen Vorschlag! ({13}) Viertens. Mit der Änderung des § 241 a StPO wollen Sie dem Staatsanwalt und dem Verteidiger bezogen auf den Zeugen jegliches Fragerecht - jegliches Fragerecht! abschneiden, und zwar in allen Fällen des sexuellen Missbrauchs Erwachsener, in allen Fällen der Vergewaltigung, des Menschenhandels, der Aussetzung, der Misshandlung und - hören Sie zu! - in allen Fällen der Körperverletzung. In all diesen Fällen soll unabhängig von der Fallgestaltung nur noch der Vorsitzende Fragen an den Zeugen stellen dürfen. Es ist nicht übertrieben, dies als eine Amputation eines zentralen Rechts der Verteidigung in solchen Prozessen zu bezeichnen. ({14}) Bezeichnend, Herr Röttgen, ist, dass Sie nur noch im Fall des § 181 a StGB dem Staatsanwalt und dem Verteidiger ein eigenes Fragerecht zugestehen wollen. In dem Fall handelt es sich bei den Opfern ja nur um Prostituierte, in Ihren Augen wohl keine schutzwürdigen Opfer. Zuhälter aber sollen bei Ihnen ein höheres Maß an Verteidigung als andere Angeklagte bekommen. ({15}) Herr Röttgen, Opferschutz wird von uns so gemacht werden, wie der Kollege Stünker es skizziert hat. Diesen Gesetzentwurf werden wir mit Ihnen sicherlich nicht weiterverfolgen. Danke schön. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll, CDU/CSUFraktion.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Täglich hören oder lesen wir von Pädophilie, Kinderpornographie und Sexualstraftaten. Wir reagieren erschüttert, vor allem wenn Frauen und Kinder die Opfer sind. Unser Mitleid gehört allein den Opfern oder Hinterbliebenen. Ihnen, Herr Stünker, empfehle ich, einmal mit Opfern zu reden. Dann müssten Sie wissen, dass endlich gehandelt werden muss. ({0}) - Jetzt habe ich das Rederecht. Mit dem hier zu debattierenden Gesetzentwurf werden die Rechte der Opfer im Strafprozess gestärkt. Warum eine Stärkung der Rechte der Opfer? Weil Mitleid für die Opfer nur so lange vorhält, bis der Täter oder die Täterin vor Gericht steht. Dann fordert unsere humane Gesellschaft, dem Täter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ist der Täter gefasst, rückt er ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Ausrichtung aller Interessen ist auf den Täter gerichtet: seine Persönlichkeit, seine Verantwortlichkeit, seine rechtliche Stellung. Die schreckliche Kindheit, die Schulprobleme, die soziale Inkompetenz werden berücksichtigt, die Schuldfähigkeit wird geprüft, Therapievorschläge werden unterbreitet. Dies hat zu einer starken Täterorientierung geführt. Da muss man sich natürlich die Frage stellen: Welche Rolle spielt das Opfer? Ich meine: eine zu geringe. Zwar hat sich die Position des Opfers im Strafprozess verbessert, dennoch gibt es bislang keinen umfassenden Schutz von Opferzeugen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir verlangen, dass sich die Bevölkerung im Interesse einer Bekämpfung der Kriminalität aktiver als bisher einsetzt, dann müssen die Tatopfer auch die Gewissheit haben, dass sie im Strafverfahren keine Nachteile und keine entwürdigende Behandlung erfahren. Nicht nur der Täter hat einen Anspruch auf ein faires Verfahren. Das gilt im besonderen Maße auch für die Opfer. Davon sind wir weit entfernt. Viele Opfer fühlen sich im Verfahren erneut als Opfer. ({1}) Fakt ist: 91 Prozent aller Straftaten werden von Bürgern angezeigt und nicht von den Ermittlungsbehörden entdeckt. Von diesen 91 Prozent sind wiederum 71 Prozent Straftaten, die von den Opfern angezeigt werden. Was heißt das? Die Strafrechtspflege ist nur dann funktionstüchtig, wenn die Opfer anzeige- und aussagebereit sind. Wenn wir diese Bereitschaft fördern wollen, dann muss das erste Opferschutzgesetz in vielfacher Hinsicht neu geregelt werden. ({2}) Wenn Sie von der Regierungskoalition den Opferschutz ernst nehmen, dann müssen Sie in der weiteren Diskussion - ich nenne nur das Stichwort nachträgliche Sicherungsverwahrung - Farbe bekennen und klar Ja oder Nein sagen. Jein geht da nicht. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Gesetz ändert von sich aus die Situation von Opferzeugen. Ziel dieses Gesetzentwurfes ist es unter anderem, die Situation der kindlichen Zeugen in der Hauptverhandlung durch Einführung des Mainzer Modells zu verbessern. Zur Erinnerung und damit das Publikum diesem Vortrag auch folgen kann: Bereits Mitte der 90er-Jahre wurde in dem so genannten Wormser Missbrauchsprozess Videotechnologie zum Schutz der kindlichen Zeugen eingesetzt. Zur Vernehmung begab sich der Richter in einen Extraraum, sie wurde aber per Video in den Sitzungssaal übertragen. Dieses Verfahren wurde dann als Mainzer Modell bekannt. Der Gesetzgeber hat das Mainzer Modell in Ermittlungsverfahren in § 168 e StPO bereits zugelassen. Opferschutz für Kinder muss heißen: Orientierung am Wohl des Kindes. Die Ausweitung des Mainzer Modells auch auf die Hauptverhandlung bedeutet praktisch eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls. Sehr geehrter Herr van Essen, nach Ihrem für mich sehr erfreulichen Redebeitrag weiß ich genau, dass Ihnen das Wohl des Kindes sehr am Herzen liegt. Kinder, die als Zeugen geladen werden, wissen oft gar nicht, was mit ihnen geschieht. Oftmals hat es sie schon große Mühe gekostet, sich überhaupt zu offenbaren. Es muss von daher alles getan werden, um das Kind vor weiteren, es besonders belastenden Situationen zu schützen. ({4}) Nicht vergessen werden darf, dass im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen rund 94 Prozent der Täter aus der Familie und ihrer Umgebung kommen. Gerade für Kinder ist es daher notwendig, eine vertrauensvolle Vernehmungsatmosphäre zu schaffen. Helfen wir kindlichen Zeugen und Opfern von Sexualstraftaten, indem wir die Befragung menschenwürdig, fürsorglich und rücksichtsvoll durchführen! Bei kindgerechter Vernehmung ist gewährleistet, dass das Kind vor einem weiteren seelischen Trauma bewahrt wird. Alle sprechen immer wieder vom Kindeswohl. Sprechen wir nicht nur davon, sondern handeln wir auch danach, damit das Kindeswohl im Strafverfahren nicht ein Lippenbekenntnis bleibt. Es ist auch Pflicht, körperliche Untersuchungen nach § 81 d StPO als Frau zu dulden. Die Frau, die Opfer einer Gewaltstraftat geworden ist, ist fast immer Opfer eines männlichen Täters und fast immer traumatisiert. Menschen, die oft Kontakt zu Opfern von Sexualstraftaten haben, wissen, was diese ertragen müssen. Es sind nicht allein der Missbrauch, die Vergewaltigung oder die Folter. Oft empfinden die Opfer durch die erneute Konfrontation mit dem Tathergang den Strafprozess als Qual. Deshalb bedürfen sie der besonderen Fürsorge und Rücksichtnahme. Dazu gehört auch das Recht, auf ihr Verlangen hin von einer Frau oder Ärztin untersucht zu werden ({5}) und eine Vertrauensperson hinzuziehen zu können. Dieser Rechtsanspruch ist vielen unbekannt. Die Einführung einer Belehrungspflicht in § 81 d Abs. 1 hilft der Frau, ihr Unterlegenheitsgefühl abzubauen, und zeigt eine besondere Sensibilität für ihre Situation. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen Sie bitte den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion im Interesse eines bestmöglichen Opferschutzes im Strafprozess. Der Opferschutz sollte uns allen am Herzen liegen. Lassen Sie die Opfer nicht erneut zu Opfern werden! Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Opfer von Straftaten, besonders Frauen und Kinder, bedürfen aller nur möglichen Aufmerksamkeit und Unterstützung auch von staatlicher Seite. Wir alle haben noch die Bilder schlimmer Verbrechen aus jüngster Zeit vor Augen. Es kann nicht oft genug betont werden, dass wir alles tun müssen, damit es gar nicht erst zu solchen Straftaten kommt. Wenn wir uns darin einig sind, haben wir eigentlich schon gewonnen. Die eine Seite der Medaille ist: Der Gesetzgeber muss im Strafgesetzbuch Strafandrohungen vorsehen, die auf potenzielle Täter abschreckend wirken und eine konsequente Strafverfolgung ermöglichen. Dort, wo die Erhöhung von Strafandrohungen sinnvoll ist und wo schärfere Sanktionen tatsächlich zu einem besseren Schutz vor Straftaten führen, werden wir das Recht ändern. Deshalb entwickeln wir gerade die Strafvorschriften gegen sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, behinderten und widerstandsunfähigen Menschen fort und schließen dabei empfindliche Strafbarkeitslücken. ({0}) Dazu gehört auch die Anzeigepflicht von Kindesmissbrauch. Bei diesem Punkt, verehrter Herr Kollege Dr. Röttgen, haben Sie sich heute wieder einmal als ein Bratenwender der Rechtspolitik erwiesen. ({1}) Sie wenden den Braten Rechtspolitik und das Sachthema Opferschutz so lange hin und her, bis der Braten verbrannt ist. Für Sie aber bleibt ein trübes, erkleckliches Sößlein übrig, mit dem Sie Ihre populistischen Belange befriedigen. ({2}) Wenn Sie exakt zitiert hätten, wüssten Sie, dass nicht eine bloße Vermutung, wie Sie gesagt haben, die Anzeigepflicht auslöst, sondern die sichere Kenntnis, dass strafbare Handlungen gegenüber Kindern vorgenommen werden. Nur dann besteht die Anzeigepflicht - wenn zum Wohle des Kindes keine anderen Möglichkeiten bestehen, den sexuellen Missbrauch zu verhindern. - Ich weiß nicht, was Ihr Grinsen soll, Herr Röttgen. Das Thema ist ernst genug. ({3}) Was ist denn die Anzeigepflicht? Die Anzeige erfolgt entweder bei der Polizei oder bei einer Behörde; das kann auch das Jugendamt sein. Straffrei bleiben alle die, die ernstlich und auf jede erdenkliche Art und Weise etwas unternommen haben, um den sexuellen Missbrauch zu verhindern. Ich denke, es muss deutlich gemacht werden, dass die Weggucker bestraft werden und wir zum Wohle des Kindes Hingucker brauchen. ({4}) Die zweite Seite der Medaille: Rechtspolitik erschöpft sich nicht in der Gesetzgebung. Wir haben eine ganze Menge getan. ({5}) Wir haben das Bündnis für Demokratie und Toleranz geschaffen, welches ein breites Netzwerk bietet, in dem gerade junge Menschen dafür sensibilisiert werden, gegen Gewalt vorzugehen. Ich habe in diesem Frühjahr mehrere Schulen, mehrere Initiativen ausgezeichnet und dabei festgestellt, dass das genau der richtige Weg ist. Es ist uns zum Beispiel gelungen, im Deutschen Forum für Kriminalprävention Bund, Länder, Kommunen, Religionsgemeinschaften, Verbände und auch die Wirtschaft an einen Tisch zu bringen. Die Tätigkeit dieses Gremiums ist eine echte Erfolgsgeschichte. Als Vorsitzende des Kuratoriums wird sich Frau Bundesministerin Zypries für die Fortschreibung dieser Erfolgsgeschichte einsetzen. Der Präventionstag kürzlich in Hannover ({6}) - übrigens geprägt vom DFK und unter der Schirmherrschaft Ihres Kanzlerkandidaten für 2010, von Herrn Wulff, - war eine eindrucksvolle Veranstaltung. Terroropfer, Herr van Essen, finden natürlich unsere besondere Aufmerksamkeit. Ich denke, es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass wir im Haushalt 9 Millionen Euro für die Entschädigung solcher Terroropfer eingesetzt haben, wie zum Beispiel der Opfer des Terroranschlags von Djerba. Wir haben sofort reagiert, wie auch nach dem Terroranschlag auf Bali. ({7}) Ich bitte Sie, sich folgende Frage zu stellen: Muss dieser Staat für alles Gesetze schaffen, ({8}) damit überall und zu jeder Zeit die Sicherheit garantiert wird? Es gibt auch andere Methoden wie zum Beispiel die Fondslösung, die wir in diesem Fall bevorzugen. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen dieses Thema etwas exakter zu besprechen. Unser Recht werden wir dort reformieren, wo es im Interesse der Opfer, der Prävention, der Resozialisierung und des fairen Verfahrens geboten ist. Hier geht es vor allem auch um die Hilfe für Schwächere, wie sie schon die sozialdemokratische Rechtspolitik der letzten Legislaturperiode geprägt hat. Die Stärkung des Täter-OpferAusgleichs im Strafverfahren und die Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind Beispiel dafür. Seit März 2001 gelten auf der Grundlage eines Rahmenbeschlusses in allen Mitgliedstaaten der EU einheitliche Mindeststandards für die Rechte des Verletzten im Strafverfahren. Daran werden wir anknüpfen, auch unter Beachtung der Tatsache - diese wollen wir nicht leugnen -, dass unser Opferrecht in Europa vorbildlich ist. Die anderen europäischen Staaten sollten in diesem Bereich bitte nachziehen. Auch in praktischen Bereichen ist vieles verbessert worden. Ich möchte hier nur zwei vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene Informationswerke nennen, an denen übrigens die Länder in dankenswerter Weise mitgearbeitet haben, nämlich die „Handreichung zum Schutz kindlicher Opferzeugen“ und die „Opferfibel“. Auch das ist Opferschutz, Herr Dr. von Röttgen. ({9}) - Wer eine Tankstelle, ein Dorf und ein Schloss hat, den kann man schon mal adeln. Weitere Verbesserungen der Rechte des Verletzten im Strafverfahren sind notwendig. Ich kann daher der Zielrichtung Ihres Gesetzentwurfs in Grundzügen zustimmen. Der Gesetzentwurf entspricht ja aufs Komma dem Entwurf des Bundesrates aus der vergangenen Legislaturperiode, initiiert von der ehemaligen Hamburger SPD-Justizsenatorin Peschel-Gutzeit. Wenn Sie Ihre Reden von damals - vor allen Dingen die Reden von Herrn Kollege Geis - ernst nehmen würden, dann dürften Sie diesen Gesetzentwurf eigentlich gar nicht einbringen. Außerdem zeigt Ihr Entwurf, dass Sie nicht mehr auf der Höhe der rechtspolitischen Diskussion sind. ({10}) Seit dem Wirken von Frau Peschel-Gutzeit sind drei Jahre ins Land gegangen. Die Fragestellungen sind in dieser Zeit aber ganz andere geworden. Mit diesen neuen Fragestellungen müssen Sie sich befassen. ({11}) - Ich komme noch darauf zu sprechen. Nur ruhig Blut! Ich will auch nicht verhehlen, dass Ihr Entwurf an manchen Stellen einfach zu kurz greift. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele: Sie wollen die Information des Verletzten verbessern, begnügen sich aber damit, dass in der Zeugenladung auf Vorschriften und Betreuungsmöglichkeiten hingewiesen werden soll. Was fehlt, ist ein umfassender Informationsanspruch des Verletzten über die Umstände, die für ihn wichtig sind, wie zum Beispiel die Frage nach dem Fortgang und vor allem nach dem Ausgang des Verfahrens. Auch Ihre vorgelegten Vorschläge zum Adhäsionsverfahren werden kaum etwas daran ändern. Ihre Umsetzung würde leider nur dazu führen, dass diese Verfahrensart ein Schattendasein führt. Ich sage - Herr van Essen, Entschuldigung, ich war auch einmal Staatsanwalt und Richter -: Hier muss teilweise auch ein Umdenken in den Köpfen stattfinden. ({12}) Andere Punkte, die Sie vorbringen, sind auch nicht unproblematisch. Herr Kollege Montag hat schon auf das Mainzer Modell hingewiesen, das Sie selbst abgelehnt haben und gegen das Sie im Rahmen der Diskussion über den Vorschlag von Frau Peschel-Gutzeit geredet haben. Auch darüber müssen wir noch einmal nachdenken. Wir werden in Kürze einen Entwurf in den Bundestag einbringen, ({13}) der umfassend und systematisch in sich geschlossene Regelungen zu den Rechten von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren enthalten wird. Wir werden dabei auf sorgfältige Vorarbeiten zurückgreifen können - Herr Stünker hat das Eckpunktepapier schon erwähnt -, die unter anderem durch eine Sachverständigenanhörung zum Adhäsionsverfahren und ein Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes zur Nebenklage geleistet worden sind. Ich will einige Kernpunkte nennen, über die wir noch sehr eingehend diskutieren werden: Wir stärken die Verfahrensrechte der Verletzten, also der Personen, die durch eine Straftat zu Schaden gekommen sind, indem wir den Anwendungsbereich für den Opferanwalt und die Beistandsrechte bei Vernehmungen erweitern sowie die Beiordnung von Dolmetschern vorsehen. Wir erweitern die Informationsrechte der Verletzten. Sie sollen Terminmitteilungen und Informationen zum Verfahren erhalten, damit sie wissen: Was passiert in dieser Sache, in der ich durch eine Straftat zu Schaden gekommen bin? Dies tun wir, Herr Röttgen, nicht nur mithilfe einer Verwaltungsanordnung wie in Bayern, sondern auf einer gesetzlichen Grundlage. Wir führen zudem eine umfassende Hinweispflicht ein, damit der Verletzte erfährt, welche Rechte er hat. Die Schadenswiedergutmachung verbessern wir durch den Ausbau und die Weiterentwicklung des Adhäsionsverfahrens, damit Schadensersatzansprüche der Verletzten gleich im Strafverfahren mit erledigt werden können. Wir erweitern und konzentrieren die Nebenklage auf Delikte, die Menschen besonders tief in ihrer Persönlichkeit verletzen. Dazu zählen unter anderem Opfer von Prostitution oder Zuhälterei. Gerade sie brauchen das Recht zur Nebenklage, um aktiv am Strafverfahren teilnehmen zu können. Lassen Sie mich nun in den letzten 75 Sekunden meiner Redezeit etwas zum Entwurf des Bundesrates zum Widerruf der Strafaussetzung und der Strafrestaussetzung sagen. In diesem Entwurf geht es um Fälle, in denen ein Gericht im Rahmen einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung oder einer Strafrestaussetzung eine Bewährung ausgesprochen hat und dabei nicht wusste, dass der Betroffene zwischenzeitlich schon wieder eine neue Straftat begangen hat. Hiergegen etwas zu tun ist sicherlich ein berechtigtes Anliegen. Allerdings waren solche Fälle in der Praxis schon immer eine Seltenheit. Seit Herbst 1998 haben wir zudem das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, an das mittlerweile lediglich drei kleinere Bundesländer noch nicht angeschlossen sind. Es dürfte jetzt nur noch in wenigen Einzelfällen zu Bewährungsentscheidungen auf unzureichender Tatsachengrundlage kommen. Die Staatsanwaltschaften können heute nahezu bundesweit auf Informationen über fast sämtliche laufenden Strafverfahren zurückgreifen. Damit erfahren sie auch von Straftaten, die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt sind, aber bereits zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen geführt haben. Auch wenn sich das Problem damit sehr relativiert, müssen wir bedenken, dass eine solche Regelung, wie sie vorgeschlagen worden ist, immerhin die Rechtskraft einer früheren Bewährungsentscheidung durchbricht. Wir werden also auch da sehr sorgfältig prüfen, wie wir hier vorgehen können. Wir wollen all diese Dinge nicht punktuell wie die Fliegenpilze im Wald, sondern in einem großen, umfangreichen Reformprojekt der Strafprozessordnung regeln. Dazu lade ich Sie, Herr Kollege van Essen, sehr herzlich ein; die Rest-FDP, die anwesend ist, natürlich auch. Sie, Herr Kollege Dr. Röttgen, natürlich auch Sie, Frau Noll - Sie haben dankenswerterweise sehr vernünftig und gut über das Thema der Opfer gesprochen -, und ihre Fraktion sowie meine Kolleginnen und Kollegen der Koalition wissen uns Arm in Arm in einem Boot. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin seit gut einem halben Jahr im Deutschen Bundestag und seit mehr als zehn Jahren aktiv in der Opferarbeit tätig. Lassen Sie mich deswegen die Diskussion, so wie ich sie heute miterlebt habe, einmal aus der Sicht eines Opfer schützenden Mitarbeiters Revue passieren! Es wird über Urheberrechte diskutiert. Das habe ich in einer Diskussion über Opferschutzrechte noch nie erlebt. Eines kann ich Ihnen allen mit nach Hause geben: Keiner der hier Anwesenden hat ein Urheberrecht auf Opferschutzgedanken. Urheberrechte haben Zehntausende von ehrenamtlich Tätigen in Deutschland, die tagtäglich mit Opfern zu Gerichten gehen, sie nach traumatisierenden Erlebnissen betreuen und aus dieser täglichen Arbeit wissen, was Schutz für Opfer bedeutet und wo Lücken bestehen. ({0}) Ich kann es nicht mehr hören. Sie wollen den großen Wurf mit einer umfassenden Reformgesetzgebung erreichen. Beim Opferschutz hat noch nie der große Wurf funktioniert. Schauen Sie sich § 406 ff. StPO an! Er reicht vom Buchstaben a bis zum Buchstaben h, was dokumentiert, ({1}) dass man immer wieder etwas hineingeflickt hat. Der große Wurf gelingt nicht. ({2}) - Sie fragen, „warum nicht?“, Herr Ströbele? Sie von Rot-Grün kritisieren die Stellen in unserem Entwurf, die Sie nicht mittragen wollen. Mir wäre es viel lieber, wenn wir uns an einen Tisch setzten und Sie mitteilten, wo Sie mitmachen wollen. ({3}) Es gibt einen Aspekt, den Sie gar nicht anzusprechen wagen: Warum ist der Prozess über einen jugendlichen Straftäter nicht öffentlich - alle sind ausgeschlossen und der Prozess über ein jugendliches Tatopfer öffentlich? Sollten wir darüber nicht einmal diskutieren? ({4}) - Herr Stünker, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir zuhörten. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber davon haben Sie zu wenig Ahnung. Der Prozess ist öffentlich, nur während der Vernehmung des Zeugen ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. ({5}) Wir lassen die Opfer seit vielen Jahren in wichtigen Aspekten im Regen stehen. Das darf nicht sein. ({6}) Das Adhäsionsverfahren, das ein Schattendasein genießt, obwohl es für die Opfer existenziell wichtig ist, weil sie auf anderem Wege nicht zu ihrem Schadenersatz kommen, muss wieder belebt werden. ({7}) Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen, dass Sie auf eine Expertenanhörung zum Adhäsionsverfahren hingewiesen haben. Sie fand vor etwa drei Jahren statt. Ich war dazu eingeladen und habe bis heute noch nichts über die Ergebnisse dieser Expertenbefragung gehört. Ich kann Ihnen eines sagen: Schauen Sie einmal in die Schublade Ihrer Ministerin! Ganz unten liegt mein komplett ausgearbeiteter Gesetzentwurf. Sie bräuchten ihn nur aus der Schublade zu nehmen. Das ist aber nicht mehr nötig, weil er in unserem Antrag enthalten ist. Siegfried Kauder ({8}) Ist es gerecht, dass das Opfer eines versuchten Tötungsdelikts den Opferanwalt auf Staatskosten bekommt, die Hinterbliebenen eines getöteten Tatopfers aber nicht? Hier mache ich niemandem in der Politik einen Vorwurf, ({9}) man hat wohl nicht daran gedacht. Muss man jetzt aber ein großes Reformwerk abwarten, um diese Lücke zu schließen? Lassen Sie uns Eckpunkte beschließen: das Adhäsionsverfahren und der Hinterbliebenenanwalt auf Staatskosten. Ich möchte Ihnen an einem Beispiel plakativ vor Augen führen - auch das haben wir in unseren Antrag aufgenommen -, wie der Stand des Opferschutzes in Deutschland ist: Eine sexuell missbrauchte Frau muss sich auf Tatspuren untersuchen lassen. Die Untersuchung führt eine Frau oder ein Arzt durch. Sie findet durch einen Arzt statt, wenn das Schamgefühl der Frau verletzt ist. Was Schamgefühl ist, ist nach objektiven Kriterien zu bestimmen, so ist die derzeitige Gesetzeslage. Ich bin der Meinung, es kommt auf das subjektive Gefühl der Frau an. Unter dem Eindruck der Tat, die ein Mann begangen hat, muss sie durchaus sagen dürfen, ich will in dieser Situation nicht von einem Mann untersucht werden. ({10}) Das lässt die derzeitige Gesetzeslage schlicht und ergreifend nicht zu. Überlegen Sie einmal, was das für den Opferanwalt bedeutet: Wenn eine misshandelte Frau nicht von einem Mann untersucht werden will, kann der Richter die zwangsweise Untersuchung dieser Frau durch einen Mann anordnen. ({11}) Der Opferanwalt kann Beschwerde einlegen, die keine aufschiebende Wirkung hat. Bis darüber entschieden wurde, ist das Opfer längst untersucht. ({12}) Die Frage ist genau richtig. ({13}) Ich lade Sie ein, die Praxis zu erleben. Das, was Sie hier tun, ist nichts anderes, als über Dinge zu theoretisieren, von denen Sie - das sage ich hier so offen, wie ich es meine - viel zu wenig Ahnung haben, ({14}) weil Sie sich um die Praxis nicht kümmern. ({15}) Der Opferschutz ist eine Baustelle mit vielen Facetten. In einem Punkt gebe ich dem Kollegen Montag Recht: ({16}) Opferschutz ist immer auch ein Aspekt, den man unter dem Gesichtspunkt einzuschränkender Verteidigungsrechte von Tätern, die ja noch Beschuldigte sind, für die die Unschuldsvermutung spricht, sehen muss. ({17}) Deswegen ist das immer eine Gratwanderung. ({18}) Die Beispiele, die ich Ihnen vor Augen geführt habe, schränken die Verteidigungsrechte nicht ein. ({19}) Eine Maßnahme jedoch, die wir vorsehen, schränkt die Verteidigungsrechte ein. Wir wollen nämlich nicht, dass Videos von Vernehmungen der Tatopfer dem Verteidiger ausgehändigt werden; aber nicht etwa, weil wir den Verteidigern misstrauen. Seit der BGH-Entscheidung in BGHSt 29, Seite 99 f., wissen wir Anwälte, dass wir die Unterlagen, die wir in Kopien und Mehrfertigungen vom Gericht bekommen, dem Mandanten aufgrund des Mandatsverhältnisses aushändigen müssen. ({20}) Der Mandant hat seit dieser BGH-Entscheidung darauf einen Anspruch. Wir wollen nicht, dass der Verteidiger in die Bredouille kommt, Unterlagen an den Mandanten herausgeben zu müssen, die die Persönlichkeitsrechte des Opfers betreffen. ({21}) Deswegen wollen wir die Änderung dieser gesetzlichen Vorschriften. Ich bin mir sicher, dass in der Sache kein großer Dissens besteht. ({22}) Siegfried Kauder ({23}) Ich bin mir aber sicher, dass wir noch lange nicht alles gemacht haben, was wir im Opferschutz tun könnten. Ich wäre Ihnen allen herzlich dankbar, wenn Sie mein Angebot annehmen - das meine ich auch für mich persönlich - und wir uns an einen Tisch setzen würden, um zu überlegen, wie wir den Opferschutz so gestalten können, dass wir nicht in zwei Jahren schon wieder eine Diskussion darüber führen müssen. Es muss Schluss sein damit, dass Opfer ihren Rechten immer hinterherrennen müssen. Lassen Sie uns als deutsches Parlament in diesem Punkt einmal den Vorreiter spielen! Vielen Dank. ({24})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauder, lassen Sie uns von Kollege zu Kollege, vielleicht auch von Anwaltskollege zu Anwaltskollege reden. Einiges von dem, was Sie gesagt haben, ist richtig, anderes ist einfach nicht richtig. Ich will versuchen, das in den dreieinhalb Minuten Redezeit, die mir zur Verfügung stehen, zu sortieren. Richtig ist - das stand auch in dem Entwurf aus Hamburg -, dass sich in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten die Bedürfnisse - so schreiben Sie; ich würde lieber sagen: die Interessen - der Opfer mehr in das Blickfeld und das Bewusstsein der Bevölkerung und damit auch des Gesetzgebers gerückt worden sind. Das ist richtig und da muss man weitermachen. Ich fange mit einer Selbstkritik an: Ich habe seit Ende der 60er-Jahre in vielen Strafprozessen verteidigt, auch in Strafprozessen, in denen es um Vergewaltigung ging, in denen ich also einen der Vergewaltigung Beschuldigten verteidigt habe. In den Jahren und Jahrzehnten danach habe ich in der Anwaltschaft in Berlin, aber auch in anderen Städten eine sehr heftige und sehr emotionale Diskussion darüber erlebt, ob unsere Praxis in den 70erJahren richtig war oder ob wir nicht die Opfer erneut zu Opfern gemacht haben. Das hat dazu geführt, dass viele Kollegen - ich habe das auch eine Zeit lang praktiziert gesagt haben: Wir können es nicht mehr verantworten, solche Beschuldigten zu verteidigen. Das war eine sehr ans Eingemachte gehende Diskussion unter der Anwaltschaft. Heute sieht man das etwas geläuterter, fordert aber natürlich - nicht etwa, weil man die Opferinteressen wieder hintanstellt -, dass jeder Richter, Staatsanwalt und auch jeder Verteidiger die Opferinteressen im Strafprozess berücksichtigt. Was für die Praktiker gilt, gilt natürlich auch für den Gesetzgeber. Dazu sage ich Ihnen: Der Entwurf in der jetzt vorliegenden Fassung ist unzureichend und ordnet sich nicht genügend in die geltende Strafprozessordnung mit dem notwendigen Schutz auch der Interessen des Beschuldigten ein. ({0}) Ihre Behauptung, dass es heute Richter gibt, die entsprechende Anordnungen gegen den Willen des betroffenen Opfers treffen, also beispielsweise bei einer Frau anordnen, dass sie sich von einem männlichen Arzt untersuchen lassen muss, ist einfach nicht richtig. Ich weiß nicht, wo Sie praktiziert haben, aber in Berlin wird selbstverständlich schon heute darauf Rücksicht genommen. Herr Kollege Röttgen, Sie haben ein anderes Beispiel genannt, wo das in der Praxis schon richtig gemacht wird. Ich sagen Ihnen: Das hier ist einer der ersten Bereiche gewesen, in denen so etwas möglich war. Genauso wenig ist das richtig, was Sie, Herr Kollege Kauder, gesagt haben. Ich selber habe in spektakulären Strafprozessen Nebenkläger vertreten, und zwar auf Staatskosten. Hierzu gehört beispielsweise das Strafverfahren zum Anschlag in Mölln - dabei sind eine Reihe von türkischen Bürgerinnen und Bürgern zu Tode gekommen -, bei dem ich die Nebenkläger gegen die damals Verdächtigen und inzwischen verurteilten Täter vertreten habe. Es gibt also schon heute die Möglichkeit, dass Anwälte auf Staatskosten die Nebenkläger vertreten. Dies tun sie hoffentlich auch wirksam und nehmen auch bei langen Prozessen an jedem Verhandlungstag teil. Das, was Sie gesagt haben, ist einfach nicht richtig. ({1}) Wir müssen dieses Gesetz an die heutige Zeit anpassen, es vervollständigen und vor allen Dingen dafür sorgen, dass eine ausgewogene Balance hergestellt wird, ({2}) eine ausgewogene Balance zwischen den berechtigten Interessen der Opfer, die berücksichtigt werden müssen - da sind wir in vielen Einzelheiten konform -, und den berechtigten Interessen der Angeklagten, die nicht hintangestellt werden dürfen, sondern auch ausreichend berücksichtigt werden müssen. Daran fehlt es Ihrem Gesetzentwurf, so wie er vorliegt, in vielen Punkten. Natürlich ist es richtig, dass Opfer möglichst früh die Möglichkeit erhalten sollen, sich der Hilfe eines Anwalts oder einer Anwältin zu bedienen, und dass diese staatlich finanziert wird. Aber dann müssen wir auch dafür sorgen, dass im gleichen Stadium des Verfahrens, das ja unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit organisiert ist - ich sage nur „fair trial“ -, auch die Beschuldigten einen Anwalt oder eine Anwältin bekommen, wenn sie wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Balance gewahrt bleibt - das ist in Ihrem Gesetzesvorhaben überhaupt nicht berücksichtigt -, und dass wir wichtige rechtsstaatliche Errungenschaften unserer Strafprozessordnung nicht aufs Spiel setzen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll in erster Linie dazu dienen, die Allgemeinheit zu schützen. Außerdem soll er natürlich dem Straftäter zu der Einsicht verhelfen, dass man für begangenes Unrecht auch einzustehen hat. Der Wortlaut des Gesetzes heißt: Der Vollzug soll den Willen und die Fähigkeit des Gefangenen wecken und stärken, künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu führen. Dies ist leider nicht immer so, eher sogar viel zu selten. Uns geht es heute insbesondere um die Fälle, in denen bereits verurteilte Straftäter erneut straffällig werden, ihnen in Unkenntnis dieses Umstandes gewährte Strafaussetzungen zur Bewährung aber nicht widerrufen werden können. Das ist ein Missstand, den wir so auf keinen Fall akzeptieren und stehen lassen können. ({0}) Die Prämisse der Unionsfraktion ist ganz klar, die Bevölkerung zu schützen. Das ist auch unsere Aufgabe als Legislative. Es ist an uns, die Voraussetzungen zu schaffen, dass sich unsere Bürger sicher fühlen und die Gewissheit haben können, vor einschlägig bekannten Straftätern geschützt zu werden. Die hessische Initiative im Bundesrat, die dem vorliegenden Gesetzentwurf zugrunde liegt, hat zum Ziel, Lücken beim Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung zur Bewährung zu schließen. Eine solche Regelungslücke besteht im Moment leider noch immer, nämlich dann, wenn ein Verurteilter ab dem Verkündungszeitpunkt des letzten tatrichterlichen Urteils bis zu der Entscheidung über die Strafrestaussetzung weitere Straftaten begangen hat, oder aber in Fällen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung, wenn der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit einer einbezogenen Sache wieder straffällig wird. Auch durch optimale Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit den Gerichten oder durch die verbesserte Datenvernetzung der Behörden lässt sich nicht immer verhindern, dass bestimmte Straftaten den Gerichten bei der Entscheidung über eine Aussetzung des Strafrestes noch gar nicht bekannt sind. So kann es passieren, dass das Gericht in Unkenntnis dieser weiteren Straftat die Aussetzung der Restvollstreckung ausspricht und der Straftäter auf freien Fuß kommt, obwohl dies so nicht gewollt sein kann. Nach der noch immer gültigen Rechtslage bleibt ein Gericht an seine Entscheidung der Strafaussetzung jedoch gebunden. Das ist ein grober Missstand in einem Rechtsstaat, der so nicht hingenommen werden kann. Vielmehr muss auch hier die Möglichkeit bestehen, die Aussetzung gegebenenfalls zu widerrufen. Der Herr Staatssekretär hat vorhin zu Recht die Rechtskraftdurchbrechung angesprochen. Sie ist in meinen Augen dringend erforderlich und geboten. Schließlich hat der Täter durch seine erneute Straffälligkeit die Möglichkeit einer Strafaussetzung selber verwirkt. ({1}) Der Bundesrat hat den Gesetzentwurf bereits im Jahre 1997 in den Deutschen Bundestag eingebracht. Dort ist er allerdings dem Grundsatz der Diskontinuität zum Opfer gefallen. Wir, die Mitglieder der CDU/CSUBundestagsfraktion, unterstützen diesen Antrag ausdrücklich. Ihre Weigerung, sich uns anzuschließen, passt allerdings in das Bild der Untätigkeit und Trägheit der rot-grünen Koalition in der Rechtspolitik. ({2}) Wir dagegen wollen nicht noch länger zögern und abwarten, bis ein neues, schon lange angekündigtes Paket von Änderungen geschnürt ist, sondern wir wollen sofort tätig werden. Die Bundesregierung ist zwar der Meinung, der intensive Datenaustausch - der Staatssekretär hat es angesprochen - zwischen den Justizbehörden würde mittlerweile dazu führen, dass solche Fehlurteile und Fehleinschätzungen bezüglich des Strafmaßes nur noch ganz selten vorkommen. ({3}) Unserer Meinung nach reicht aber schon ein Fall aus, bei dem es zu einem solchen Fehlurteil kommt, um entweder Menschen ins Unglück zu stürzen oder um ein Leben zu zerstören. Jeder Fall ist ein Fall zu viel. ({4}) In erster Linie wollen wir unsere redlichen Bürger schützen und gerade nicht die Straftäter. Deshalb muss hier gehandelt werden. Den Richtern muss diese von uns geforderte Möglichkeit des Widerrufs unbedingt zugestanden werden. Um das etwas plastischer zu machen, möchte ich als Beispiel den Entführungsfall Fiszman anführen. Im Jahre 1991 haben zwei Männer - Vater und Sohn - zwei Kleinkinder entführt, die später wieder freigelassen wurden. Im Jahre 1996 haben dieselben Täter Jakub Fiszman entführt; es wurde ein Lösegeld gefordert. Letztlich wurde das Opfer getötet. Die beiden Angeklagten wurden verurteilt. Das Tragische an diesem Fall ist, dass der Hauptangeklagte zur Zeit der ersten Entführung eigentlich im Gefängnis hätte sitzen müssen. Ab 1981 hat er eine elfjährige Freiheitsstrafe verbüßt. Die Reststrafe wurde 1986 zur Bewährung ausgesetzt. Zu dieser Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung hätte es nicht kommen dürfen; denn Rainer K. hatte zu diesem Zeitpunkt als Freigänger bereits mehrere Straftaten begangen, ohne dass die Strafvollstreckungskammer davon Kenntnis hatte. Erst zwei Jahre später hat sie davon erfahren. Sie sehen, es gibt viele tragische „hätte“, „wäre“, „wenn“. Sie sagen immer, dass das seltene Fälle sind; das mag schon sein. Es sind aber ein paar seltene Fälle zu viel. Darum unterstützen wir den Gesetzentwurf und lassen uns auch nicht davon abbringen. ({5}) Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Sanktionspraxis in Deutschland allgemein sagen. ({6}) Sie ist von sehr vielen Aussetzungen zur Bewährung gekennzeichnet. Auch die Union sieht eine Aussetzung zur Bewährung prinzipiell als sinnvoll und richtig an ({7}) - ja, Sie werden es kaum glauben -, um eine zügige Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft voranzutreiben und dem Straftäter einen Anreiz zu einer straffreien Lebensführung zu geben. Wird die Bewährung aber in Unkenntnis von weiteren begangenen Straftaten ausgesprochen, dann muss sie auch widerrufen werden können; Herr Stünker, das werden Sie nicht bestreiten wollen. ({8}) Andernfalls würde der Rechtsstaat an Glaubwürdigkeit verlieren. ({9}) Es ist mir eine besondere Freude, hier wieder mal einen bayerischen Politiker, nämlich den bayerischen Innenminister Günther Beckstein, zitieren zu können. Er hat gesagt: Die Interessenabwägung muss hier lauten: Was hat Vorrang - der Schutz unschuldiger Opfer oder das Wohlergehen der Straftäter? Unsere Priorität ist völlig klar: Es geht um den Schutz der Bürger. Das sollte auch Ihre Priorität sein. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Simm, SPD-Fraktion.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erlaube mir etwas, was ich eigentlich sonst nie tue. Ich möchte eine persönliche Bemerkung über den Verlauf der Debatte und darüber, wie ich sie wahrgenommen habe, machen. Ich sitze seit einigen Jahren im Rechtsausschuss. Ich war immer gerne Mitglied dieses Ausschusses. Es hat mir gefallen, dass wir trotz inhaltlich unterschiedlicher Positionen vor der Fach- und Sachkenntnis und vor dem beruflichen Hintergrund der Kollegen der jeweils anderen Seite immer Respekt hatten. Wir haben uns nie - Herr van Essen ist mein Zeuge - die fachliche Kompetenz abgesprochen. Wir wussten voneinander, welche beruflichen Karrieren wir durchlaufen hatten, ehe wir Mitglieder des Deutschen Bundestages wurden. Ich bitte die Kollegen, die heute hier gesprochen haben und neu im Rechtsausschuss sind, sich einmal zu überlegen, ob es nicht ein guter Stil wäre, an diese Tradition des Umgangs, den wir bisher gepflegt haben, anzuknüpfen. ({0}) Herrn Stünker zu unterstellen, er habe nie Kontakt mit Opfern gehabt, ist vollkommen neben der Sache und wertet auch sein Berufsleben ab. ({1}) Wenn ich es richtig weiß, war er neun Jahre Jugendrichter, zehn Jahre Vorsitzender einer großen Wirtschaftsstrafkammer und drei Jahre Vorsitzender einer Schwurkammer. Das Mitglied des Deutschen Bundestages Erika Simm war neun Jahre Jugendrichterin und hat im Strafrecht bis zum Landgericht alles durchlaufen, was man in Bayern im Bereich des Strafrechts üblicherweise durchläuft: Staatsanwältin, Ermittlungsrichterin, Steuerstrafrichterin. ({2}) Ich bin Mitglied in einer Reihe von Einrichtungen wie Notruf und Frauenhaus und habe als Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes permanent Kontakt zu Vereinen und Organisationen, die Träger solcher Einrichtungen sind. ({3}) Meine herzliche Bitte ist, dass wir einander nicht die sachliche Kompetenz absprechen. ({4}) Ich habe mir bisher nie erlaubt, einer jungen Kollegin - ich darf an die gestrige Diskussion im Rechtsausschuss erinnern - ihr jugendliches Alter und die zwangsläufig bestehende relative berufliche Unerfahrenheit im Vergleich zu meiner langjährigen Erfahrung in der allgemeinen bayerischen Justiz vorzuwerfen. ({5}) Die Unterstellungen beinhaltende Darstellung, wie Gerichte mit Opfern umgehen, ist ein Stück weit Diffamierung der Staatsanwälte und Richter. ({6}) Wer solche Dinge, wie sie heute geäußert worden sind, sagt, hat nicht mitvollzogen, dass sich gerade im Bereich der Justiz und vor allem bei Sexualstraftaten Gott sei Dank ein Umdenken durchgesetzt hat und wir heute mit Opfern, aber auch Tätern im Hinblick auf die Härte der verhängten Strafen anders umgehen. Dies wollte ich als Einleitung sagen; denn das Thema, zu dem ich spreche, lässt sich in relativ wenigen Sätzen abhandeln. Es geht um den Gesetzentwurf - die Kollegin Raab hat ihn schon vorgestellt - zum Widerruf der Strafund Strafrestaussetzung. Es ist unbestritten, dass es hier eine Lücke im Gesetz gibt. Aber ich darf daran erinnern, dass diese Lücke schon seit 1986 existiert. 1995 fand eine Umfrage unter den Landesjustizverwaltungen zu diesem Problem statt. Sie hat ergeben, dass dieses Problem kein massenhaftes, aber auch kein völlig zu vernachlässigendes ist. Der erste Gesetzentwurf dazu kam 1997 von der rotgrünen hessischen Landesregierung. Ich darf dazu anmerken: Zu dieser Zeit hat Rot-Grün im Bundestag noch nicht die Mehrheit gehabt; ({7}) CDU/CSU und FDP besaßen damals die Regierungsmehrheit. Dieser Gesetzentwurf ist seinerzeit der Diskontinuität anheim gefallen. Es ist für mich nicht mehr recht nachvollziehbar, warum. Der gleiche Vorgang hat sich in der darauf folgenden Legislaturperiode wiederholt. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand aus der CDU/CSU-Fraktion moniert hätte, dass dieser Gesetzentwurf zwar 1999 eingebracht, aber nie im Rechtsausschuss behandelt worden ist. Wir haben ihn jetzt wieder auf dem Tisch. Ich denke, wir haben Grund, uns mit einer gewissen Zerknirschung mit dem Gesetzentwurf auseinander zu setzen und ihn angemessen zu behandeln. Folgendes ist ebenfalls Faktum: Seit 1995 und seit 1997 hat sich etwas verändert. Seit 1998 gibt es das Zentrale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, auf das die Staatsanwaltschaften und Gerichte praktisch bundesweit Zugriff haben und bei dem sie abfragen können, welche Verfahren gegen einen Beschuldigten bzw. Verurteilten noch anhängig sind. Ich gehe davon aus - ich denke, das kann ich mit Recht tun, auch vor dem Hintergrund meiner beruflichen Praxis, auf die ich mich hier ausdrücklich berufe -, ({8}) dass damit das Problem ein erhebliches Stück weit entschärft ist. Ich weiß nämlich noch, wie es vorher war: Damals gab es ein Namensregister bei der Staatsanwaltschaft. Wessen Name nicht oder noch nicht darin stand oder versehentlich herausgeflogen war, war eben als Straftäter nicht existent. Damals tauchte permanent die Frage auf, welche weiteren Strafverfahren gegen den Jugendlichen anhängig sind. In dieser Hinsicht hat sich etwas geändert. Vor dem Hintergrund dessen, dass sich an diesem Problem einiges entschärft hat, halte ich es für sachgerecht und für vertretbar, zu sagen: Wir benutzen das nächste geeignete das Strafgesetzbuch ändernde Gesetz als Omnibus, um diese Sache endlich einmal aus der Welt zu schaffen, bei der wir offensichtlich alle miteinander etwas versäumt haben. ({9}) - Herr Kauder, Sie wissen doch selber, welche Detailänderungen wir in den letzten Jahren im Strafgesetzbuch ständig vorgenommen haben. Als ich 1999 bereits zu diesem Thema reden durfte, gab mir Herr Ströbele Recht, dass man mit dem Einordnen der Seiten mit Änderungen zum Strafgesetzbuch in die Loseblattsammlung des Schönfelders nicht mehr nachkommt. ({10}) Verstehen Sie: Bei nächster passender Gelegenheit erledigen wir diese Geschichte; das verspreche ich Ihnen. Sie hat aber bei weitem nicht mehr die frühere Brisanz; sie hatte nie eine große Brisanz; es war jedoch ein Problem. Ich werde jedenfalls daran denken. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich gegebenenfalls daran erinnerten, damit wir es nicht wieder alle miteinander vergessen, wie wir das jetzt zwei Wahlperioden lang getan haben. Ich bedanke mich. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- würfe auf Drucksache 15/814 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf des Bundesrates zur Änderung des Strafgesetzbu- ches und anderer Gesetze - Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/954, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt wor- den. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/936 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- den? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c und 18 e bis 18 g sowie Zusatzpunkt 3 a bis 3 e auf: 18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes ({0}) - Drucksachen 15/902, 15/949 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung ({2}) - Drucksache 15/900 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum diagnoseorientierten Fallpauschalensystem für Krankenhäuser - Fallpauschalenänderungsgesetz ({4}) - Drucksache 15/897 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({5}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus ({6}) - Drucksache 15/775 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({7}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz- buch - Drucksache 15/898 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Erfahrungen mit dem in § 47 a des Arzneimittelgesetzes vorgesehenen Sondervertriebsweg - Drucksache 14/6766 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ({8}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({9}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 27. August 2002 zum Abkommen vom 14. November 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über Soziale Si- cherheit - Drucksache 15/881 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. September 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Slowakischen Republik über Sozi- ale Sicherheit - Drucksache 15/883 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft - Drucksache 15/882 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({10}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung von Legehennen ({11}) - Drucksache 15/905 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Götz-Peter Lohmann, Dagmar Freitag, Helga Kühn-Mengel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Petra Selg, Birgitt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Durch Bewegung und Sport Gesundheit und Prävention fördern - Drucksache 15/931 Überweisungsvorschlag: Sportausschuss ({12}) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zu dem Entwurf eines Förderbankenneustrukturierungsgesetzes liegt inzwischen auf Drucksache 15/949 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen jeweils keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 19 a auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Juli 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreiches Thailand über den Seeverkehr - Drucksache 15/716 ({13}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14}) - Drucksache 15/951 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich ({15}) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen vom 31. Juli 2001 mit der Regierung des Königreiches Thailand über den Seeverkehr. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 15/951, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das tun alle. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 19 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestanforderungen für die Ausbildung von Seeleuten KOM ({17}) 1 endg.; Ratsdok. 5369/03 - Drucksachen 15/611 Nr. 2.12, 15/912 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden. Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 4: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Änderung des Zeitraumes für den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Auszahlungen und die Zusammenarbeit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit den Partnerorganisationen und den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Drucksache 15/938 Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/938? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung, Praxistauglichkeit des Hartz-Konzeptes und Ausbaupläne des Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit ({18}) - Sobald hier Ruhe eingekehrt ist, werde ich die Aussprache eröffnen. - Ich erteile dem Abgeordneten Johannes Singhammer das Wort.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann verstehen, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten der Regierungsfraktionen bei diesem Thema die Flucht ergreift. ({0}) Aber mit Flucht werden Sie dem Thema Arbeitslosigkeit nicht gerecht werden. ({1}) Noch nie seit den Wirren des Zweiten Weltkrieges war die Arbeitslosigkeit in einem April so hoch wie im April 2003. Nach fünf Jahren rot-grüner Bundesregierung wird die Zahl der Arbeitslosen immer größer und die der sicheren Arbeitsplätze immer kleiner. Alle von Rot-Grün verabreichten und angepriesenen Heilmittel haben sich als wirkungslos erwiesen: das JUMP-Programm - ein Flop, das Job-AQTIV-Programm - eine Luftblase, das als Breitbandtherapeutikum angepriesene Hartz-Konzept - ohne erkennbare Wirkung, ({2}) die Ich-AG - mehr und mehr eine unfaire Konkurrenz für ausbildende Handwerksbetriebe, das Mainzer Modell - ein Fiasko, der Jobfloater - ein Ausfall. Insgesamt ist dies eine bestürzende Kette grandioser Misserfolge. ({3}) Statt die Menschen von der Seuche Arbeitslosigkeit zu befreien, weitet sich die Beschäftigungslosigkeit in epidemischer Form zum Flächenbrand aus. ({4}) Die Menschen haben jegliches Vertrauen in die Ankündigungen von Rot-Grün verloren. Die Gewerkschaften stellen mittlerweile die Machtfrage und drohen mit Generalstreik. Zur Bekämpfung der Seuche Arbeitslosigkeit braucht Deutschland deshalb zuallererst ein Vertrauenswachstum und dann eine Strategie für wirtschaftliches Wachstum. ({5}) Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit hat offenkundig den Überblick über das Ausmaß der Beschäftigungslosigkeit und die Finanzen verloren. Wie anders wäre es zu erklären, dass im November vergangenen Jahres, also jetzt bereits vor sechs Monaten, der Bundesrechnungshof festgestellt hat, dass annähernd 1 Million Arbeitslose zu Unrecht in der Statistik aufgeführt sind und ein größerer Anteil davon zu Unrecht Geldleistungen erhält. Der Schaden ist gewaltig: bei den Arbeitsämtern, aber auch beim Finanzminister und bei den Kommunen. Nach dem Bericht des Bundesrechnungshofs erhalten 367 000 Arbeitslose zu Unrecht Leistungen. Nun kann sich jeder ausrechnen - dazu bedarf es keiner besonderen Mathematikkenntnissse -, wie viel das ist, wenn man von einer durchschnittlichen Leistung für einen Arbeitslosen von derzeit 1 211 Euro pro Monat ausgeht. Wenn man das für zwölf Monate hochrechnet, dann kommt man auf eine Summe, die sich bei 5 Milliarden Euro bewegt. Hinzu kommen nach dem Bericht des Bundesrechnungshofs die Anwartschaften für die so genannten Nichtleistungsempfänger. Diesen wird die Altersvorsorge in der Regel in Form von Pauschalbeiträgen von der Bundesanstalt für Arbeit überwiesen. Das sind nach Angaben des Bundesrechnungshofs ebenfalls mehrere Hunderttausend. Angesichts dieser Zahlen ist mir einiges unbegreiflich. Es ist mir unbegreiflich, dass Herr Gerster diese Steilvorlage des Bundesrechnungshofs nicht schon längst genutzt hat, um Milliarden fehlgeleiteter Ausgaben einzusparen. ({6}) Es ist mir ebenso unbegreiflich, dass der Wirtschaftsminister nicht eingreift und lieber zusieht, wie ständig neue Forderungen von der Bundesanstalt für Arbeit an die Bundesregierung kommen, um den Etat entgegen allen Bekundungen aufzufüllen. Es ist ein noch schlimmeres Zeichen von Desorganisation, wenn die Verantwortung für diesen Skandal zwischen der Bundesanstalt und dem Bundeswirtschaftsministerium hin und her geschoben wird und in einem kleinen Bermudadreieck verschwindet. ({7}) - In einem großen Bermudadreieck, richtig. Ich sage Ihnen, Herr Staatssekretär Andres, der Sie stellvertretend für die Bundesregierung hier sind: ({8}) Die Bundesregierung hat keine Legitimation, von den Arbeitslosen harte Opfer zu verlangen, wenn sie es nicht vorher schafft, die Milliardenverschwendung, die der Bundesrechnungshof aufgedeckt hat, abzuschaffen. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Singhammer, Sie haben nur fünf Minuten.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. ({0}) Der erste Schritt zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist, dass die geltenden Gesetze eingehalten werden. Wenn Sie das nicht schaffen, dann treten Sie ab! ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner. ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ständig Aktuelle Stunden zum selben Thema zu beantragen, meine Damen und Herren von der Opposition, zeugt nicht gerade von einem hohen politischen Profil. ({0}) Ich habe den Eindruck, Sie beantragen die Aktuellen Stunden, um Übungen zum Auswendiglernen im Parlament durchzuführen, nicht aber um neue Impulse zu setzen. Ich werde darauf zurückkommen. ({1}) Völlig klar ist doch, dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit tatsächlich das wichtigste Ziel in der Gesellschaft und in der Politik ist. ({2}) Sie wollen sich im Bundestag mit Umbaumaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit und immer wieder denselben Dingen beschäftigen. Ihnen fällt offenbar nicht viel ein. Wie konzeptionslos und leer Ihre Auftritte sind, zeigt eine Aussage Ihres obersten Arbeitnehmervertreters, Hermann-Josef Ahrens. Ich zitiere aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 6. Mai 2003: „Auch das Unionskonzept schafft keine neuen Arbeitsplätze.“ ({3}) Ich frage mich, ob es wohltuend oder beschämend ist, ein solches Eingeständnis öffentlich zu formulieren. Für Sie ist es jedenfalls beschämend, wenn Sie Aktuelle Stunden zu Themen wie Arbeitslosigkeit beantragen. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, die Arbeitslosigkeit abzubauen, anstatt uns regelmäßig Ihre Sprechblasen anhören zu müssen. ({4}) Meine Damen und Herren, die Lage ist schlecht, aber nicht hoffnungslos. 4,5 Millionen Arbeitslose ist eine hohe Zahl, die uns nicht zufrieden stellen kann. ({5}) Wir wollen nichts beschönigen. Allerdings ist die Lage auch nicht so schlecht, wie Sie sie regelmäßig darstellen. ({6}) 1998 gab es zwar etwas weniger Arbeitslose, aber eine höhere Arbeitslosenquote. Es gibt immer noch beträchtlich mehr Arbeitsplätze als zu Kohls Zeiten: Circa 1 Million mehr Arbeitsplätze waren es 2002 ({7}) und immerhin noch 800 000 Arbeitsplätze mehr werden es 2003 sein. Auch das Erwerbspotenzial steigt laut IAB-Studie in diesem Jahr noch um durchschnittlich 115 000. In einer solchen Situation nur schwarz zu malen und keine Konzepte zu haben, wie Herr Ahrens es öffentlich zugibt, ist beschämend. Beschämend ist auch, dass Sie in einer solchen Zeit Aktuelle Stunden beantragen und Zeit verplempern, statt innovativ darauf hinzuwirken, dass den Menschen in diesem Lande geholfen wird. ({8}) Mit der Agenda 2010 haben wir die notwendigen Schritte eingeleitet. Dazu gehören ein aktiver Sozialstaat, das Konzept „Fördern und Fordern“ als generelles Prinzip, die Durchführung von Strukturreformen, die effiziente Sozialsysteme organisieren, wie auch geringe Einschnitte, die aufgrund der Demographie notwendig sind. Wir stellen uns der Verantwortung. Wir setzen alles daran, die Wachstums- und Vertrauenskrise zu überwinden. Sie aber setzen scheinbar alles daran, die Vertrauenskrise erst herzustellen. Damit helfen Sie keinem Arbeitslosen in diesem Land. Das sollten Sie sich bewusst machen. ({9}) Fest steht: Mit den Maßnahmen, die wir einleiten, leiten wir auch psychologische Wirkungen ein. Diese werden auch Wachstumskräfte entfalten. Die Wirtschaft unterstützt jedenfalls unseren Kurs. ({10}) Insofern will ich betonen, dass wir für eine nachhaltige Strategie eintreten, die auch notwendig ist, zum Beispiel bei der Rückführung der Staatsverschuldung, die Sie uns auf dem bisher höchsten Niveau hinterlassen haben. Allein die Arbeitslosigkeit verursacht Kosten in Höhe von 80 Milliarden Euro pro Jahr bzw. 18 300 Euro je Arbeitslosen. Deshalb muss es uns gelingen, aus Arbeitslosen wieder Steuer- und Beitragszahler zu machen. Mit den Maßnahmen, die wir dafür vorbereitet haben, mit einem Infrastrukturprogramm für die Kommunen und der Schaffung von Ausbildungsplätzen, zum Beispiel durch einen Pakt für Ausbildung, sind wir auf dem richtigen Weg. Wir sollten die Arbeitgeber gemeinsam in die Pflicht nehmen und uns den Diffamierungen von Interessengruppen widersetzen, wie kürzlich durch den Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Philipp, der in, wie ich meine, diffamierender Weise den Wegfall des Meisterzwangs - er bedeutet quasi die Modernisierung des Handwerks - nutzt, um deutlich zu machen, dass diese Maßnahme mit einem Schlag 60 000 Ausbildungsplätze kosten würde. Das ist Panikmache. Helfen Sie mit, dass solchen Panikmachern das Handwerk gelegt wird! Damit leisten Sie in dieser Gesellschaft gute Dienste. ({11}) Lassen Sie mich noch eines anmerken. Das HartzKonzept beginnt zu greifen. Viele Maßnahmen dieses Konzepts werden in den nächsten Monaten in Kraft treten. Die Quickvermittlung tritt am 1. Juli, die PersonalService-Agenturen treten derzeit in Kraft. Sie haben zwar in der „Welt“ immer wieder herumposaunt, die Personal-Service-Agenturen seien staatliche Vermittlungseinrichtungen; aber wir haben in allen Bereichen private Personal-Service-Agenturen akquirieren können. Die neuen Regelungen zu den Minijobs sind vor kurzem in Kraft getreten. Einen enormen Schub verzeichnen wir bei den Existenzgründern. Allein im April haben 8 763 Frauen und Männer mithilfe des Arbeitsamtes eine Ich-AG gegründet. Die Gesamtzahl von Ich-AGs hat sich inzwischen auf 16 000 erhöht, also mehr als verdoppelt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, auch Sie muss ich an die Zeit erinnern.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Weiterhin läuft das bewährte Instrument des Überbrückungsgeldes gut. Allein im April gab es 14 000 Neugründungen. Insgesamt waren es 50 000. Helfen Sie, statt Polemik in diesem Hause zu verbreiten, mit, dass durch Existenzgründungen und Reformen am Arbeitsmarkt die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft wird! Dann tun Sie ein gutes Werk für die Menschen in diesem Land. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bisher habe ich gedacht, die rot-grüne Regierung macht schlechte Politik. ({0}) Das wäre schon schlimm genug für das Land. Nach Ihrer Rede, Herr Kollege Brandner, merke ich, dass die Regierung an Realitätsverlust leidet. Das ist noch viel schlimmer. Das ist nämlich eine Katastrophe für dieses Land. ({1}) Herr Gerster hat gestern die Arbeitsmarktzahlen präsentiert. Im April dieses Jahres waren demnach 4,5 Millionen Menschen arbeitslos - und das in einem Monat, in dem sich sonst die konjunkturelle Belebung aufgrund des beginnenden Frühjahrs sehr positiv auf den Arbeitsmarkt auswirkt! Das sind fast 500 000 mehr als im gleichen Monat des Vorjahres, die höchste Arbeitslosenzahl, die jemals in einem April gemessen worden ist. Auch saisonbereinigt ist die Arbeitslosenzahl weiter gestiegen - diesmal um 44 000 -, wie bereits seit Jahren Monat für Monat. Trotzdem tun Sie so, als ob wir keine Probleme hätten, und die Regierung tut so, als ob die Opposition das Problem und nicht ihre furchtbare Politik wäre. ({2}) Wir müssen den Menschen in diesem Land Chancen geben, damit sie mitmachen können. Wir brauchen also endlich Strukturreformen. Das bedeutet, dass das bisschen, was der Kanzler am 14. März angekündigt hat, nicht wieder von Ihnen weichgespült werden darf. Wer gesehen hat, wie die Ergebnisse der Hartz-Kommission im Gesetzgebungsverfahren umgesetzt worden sind - aus der angekündigten 1 : 1-Umsetzung ist eine 2 : 1-Umsetzung zugunsten von Engelen-Kefer und Konsorten geworden -, der kann sich vorstellen, dass dann von der Agenda 2010 noch zwei Zehntel übrig bleiben. Das bringt die Arbeitsmarktpolitik in diesem Land nicht voran. ({3}) Wir brauchen Strukturreformen, und zwar solche, die dazu führen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden, damit die Menschen die Chance bekommen, ihren Lebensunterhalt zumindest teilweise durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Wir müssen deshalb am Steuerrecht ansetzen. Die Menschen und die Betriebe müssen mehr von dem behalten können, was sie verdienen. Nur dann können sie mehr konsumieren und investieren. Im Moment sitzen selbst diejenigen, die Geld haben, auf ihrem Geld; denn angesichts Ihrer Politik weiß niemand mehr, ob er Vertrauen in die Zukunft haben kann. Das muss als Allererstes geändert werden. ({4}) Wir brauchen Strukturreformen in den sozialen Sicherungssystemen. Das, was der Bundeskanzler angekündigt hat - und was Ihre Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter massiv zu boykottieren versuchen -, ist nur ein Trippelschritt in die richtige Richtung. Auch wenn das im Wesentlichen keine neuen Arbeitsplätze schaffen wird, entwickelt es vielleicht eine positive psychologische Wirkung, sodass die Menschen wieder Vertrauen in die Zukunft haben und dass dann wieder Arbeitsplätze geschaffen werden. Deshalb ist es so wichtig, dass sich Ihr Kanzler Ihnen gegenüber durchsetzt. Wenn er das nicht schafft, dann ist er die längste Zeit Kanzler gewesen. ({5}) Wir brauchen auch Reformen im Arbeitsrecht. Es kann doch nicht sein, dass gut gemeinte Vorschriften das Kartell der Arbeitsplatzbesitzenden zulasten der Arbeitsuchenden weiter absichern. Es muss doch möglich sein, dass Vorschriften, die nach unser aller Erkenntnis dazu führen, dass die Menschen nicht mehr in den Arbeitsprozess zurückkehren, revidiert und reformiert werden, damit diejenigen, die außerhalb des Arbeitsmarktes sind, wieder eine Chance haben, mitzumachen. Das sollte eine soziale Aufgabe sein. Ich möchte wirklich wissen, wo die SPD ihre sozialdemokratische Seele gelassen hat! ({6}) Wir brauchen außerdem Reformen in der Bundesanstalt für Arbeit. Es reicht nicht, wenn Herr Gerster sagt, dass diejenigen, die, obwohl sie Geld bekommen oder Ansprüche erwerben, nicht verfügbar sind, aus der Statistik herausgenommen werden könnten. Nein, wer nicht verfügbar ist, der ist bei den Arbeitsämtern als Leistungsempfänger fehl am Platz. Wenn die Regierung meint, dass 25-jährige Männer oder 25-jährige Frauen Kindergeld bekommen sollen, dann soll sie es im Bundeskindergeldgesetz und nicht über die Bundesanstalt für Arbeit regeln. Das wäre ein sauberer Weg. ({7}) Wir müssen also dafür sorgen, dass diejenigen, die Leistungen beziehen, tatsächlich in der Lage und bereit sind, einen Arbeitsplatz anzunehmen. Wir brauchen des Weiteren eine Reform der Bundesanstalt für Arbeit selbst. Bisher ist nur der Kopf ausgewechselt worden. Viel mehr ist nicht geschehen. Aber wie soll Herr Gerster denn erfolgreich sein, wenn er - er ist teilweise mit guten Ideen vorstellig geworden - von den eigenen Genossen in der Regierung und von dem Apparat in Nürnberg blockiert wird? Das bedeutet, dass wir das ganze System verändern müssen. Die Bundesanstalt für Arbeit muss eine neue Struktur bekommen. Sie muss in eine Versicherungsagentur und in eine Arbeitsmarktagentur aufgeteilt werden. Die Versicherungsagentur - das kann durchaus eine selbstverwaltete Körperschaft sein - sorgt für die Gewährleistung des Lebensunterhalts. Die Arbeitsmarktagentur wird für eine Redemokratisierung der Arbeitsmarktpolitik sorgen, sodass wir in den Haushaltsberatungen über den effizienten Einsatz der Mittel entscheiden können. Das wäre der richtige Weg. ({8}) Um Arbeitsplätze schaffen und vorhandene Arbeitsplätze schnell vermitteln zu können, brauchen wir Jobcenter, und zwar nicht solche, wie Sie sie im Rahmen der Hartz-Kommission konzipiert haben, sondern solche, die die gesamte Vermittlungskompetenz in Deutschland zurate ziehen. Das heißt, wir müssen auch diejenigen einbeziehen, die als Träger der Sozialhilfe hervorragende Arbeit bei der Vermittlung von besonders schwierigen Fällen geleistet haben. Gerade vor dem Hintergrund der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe müssen die Landkreise und die Gemeinden einbezogen werden; denn sonst werden die Jobcenter allein bei der Bundesanstalt für Arbeit angesiedelt und Kostenentscheidungen zulasten der Träger der Sozialhilfe getroffen. Das wollen wir verhindern. All das haben Sie, Herr Brandner, nicht erwähnt. Sie haben stattdessen die Opposition ersatzweise für Ihre schlechte Politik beschimpft. So holen Sie keinen Arbeitslosen von der Straße. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Niebel, es war schon eine starke Leistung, dass Sie es fertiggebracht haben, der SPD innerhalb von nur fünf Minuten vorzuwerfen, sie sei sowohl zu viel als auch zu wenig sozialdemokratisch. ({0}) Daran zeigt sich, dass Sie das, was Sie sagen, nicht ernst meinen. Sie müssen sich meines Erachtens für einen dieser beiden Vorwürfe entscheiden. Zur Sache: Es ist doch völlig klar, dass die Zahlen richtig schlecht sind. Die Arbeitslosigkeit ist enorm hoch. ({1}) Für uns ist entscheidend, ob wir die Talsohle mittlerweile erreicht haben und ob wir aus dieser Situation gemeinsam herauskommen oder nicht. Die Zahlen kann man aber nicht beschönigen; auch ich will das nicht tun. Die Union spricht jetzt davon, dass es sich um die schlimmsten Zahlen nach dem Krieg handelt. Schauen Sie sich einmal die Rahmenbedingungen an! 1997 gab es 4,34 Millionen Arbeitslose, ({2}) bei einem Wachstum des Bruttosozialprodukts von 2,1 Prozent. 1998 gab es 4,42 Millionen Arbeitslose bei einem Wachstum von 3,1 Prozent. ({3}) Das heißt, in Ihrer Regierungszeit war die Arbeitslosigkeit sehr hoch - sie lag sehr nahe bei dem heutigen Wert -, allerdings unter völlig anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. ({4}) Darauf hinzuweisen relativiert zwar Ihre Argumente, nützt uns aber praktisch überhaupt nichts. Ich möchte nun auf das zu sprechen kommen, was jetzt geschehen muss. In der heutigen Lage hilft nur ein umfassendes Paket von Maßnahmen, deren einziges Ziel die Ermöglichung von Investitionen in neue Arbeitsplätze ist. Für meine Fraktion ist ganz klar: Die Eckpunkte der Agenda 2010 müssen umgesetzt werden, vor allem mit dem Ziel, die - zu hohen - Lohnnebenkosten zu senken. ({5}) Das ist entscheidend. Wenn die Lohnnebenkosten nicht sinken, dann wird es in der Bundesrepublik keinen Impuls zur Schaffung neuer Arbeitsplätze geben. Da der Bundesrat den meisten Gesetzentwürfen, mit denen die Agenda 2010 umgesetzt werden soll, zustimmen muss, wird es sehr darauf ankommen, dass die Union für die damit verbundenen Initiativen hier mit eintritt. Außerdem wird die Steuerreform in Kraft treten, und zwar, wie beschlossen, zum 1. Januar 2004. Die Wirtschaft geht davon aus, dass die Steuersätze ab diesem Zeitpunkt sinken. Davon wird vor allem der Mittelstand profitieren. ({6}) Zum 1. Januar 2005 wird dann die nächste Stufe der Steuerreform in Kraft treten. Sie, Herr Schauerte, haben keine finanzierbare Alternative vorgeschlagen. ({7}) Im Gegenteil, Ihre Parteikollegen haben die Sanierung der öffentlichen Haushalte, also auch der Haushalte der Gemeinden, durch ihr Verhalten im Bundesrat blockiert. Auch das behindert uns jetzt im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. ({8}) Ich möchte etwas zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission sagen. Herr Laumann und andere Experten der Union sollten wirklich wissen, welche von der HartzKommission vorgeschlagenen Punkte schon greifen können und welche nicht. Mancher Vorschlag ist gesetzlich noch gar nicht umgesetzt. Herr Laumann hat gestern über die Pressestelle der CDU erklären lassen, die Vorschläge der Hartz-Kommission seien von Anfang an ein Flop gewesen. Das war nichts als Propaganda. Die Förderung der Minijobs ist schon sehr gut angelaufen. ({9}) - Sie haben den entsprechenden Vorlagen doch zugestimmt. Auch Sie wollten es doch. Unsere Positionen liegen nicht weit auseinander. ({10}) - Jetzt beruhigen Sie sich doch einmal! Die Mittagspause ist schon vorbei; seien Sie nicht so nervös. Vieles von dem, was bisher Schwarzarbeit war, wird jetzt legal über Minijobs geleistet. Unsere Erwartungen in die Leiharbeit dagegen sind noch nicht erfüllt worden. Warum? Die Personal-Service-Agenturen werden gerade aufgebaut und alle, die etwas davon verstehen, wissen, dass das Instrument Leiharbeit erst greifen kann, wenn das Beschäftigungsvolumen wieder zunimmt. ({11}) Entscheidend wird sein, ob Unternehmer, wenn die Konjunktur wieder anzieht, das zusätzliche betriebliche Beschäftigungsvolumen wieder über Überstunden abdecken werden - das ist der traditionelle Weg - oder ob sie die Angebote der Personal-Service-Agenturen in Anspruch nehmen und die Arbeit gerecht aufteilen werden. Erst wenn die Entwicklung so weit vorangeschritten ist und die Jobcenter eingerichtet sind, können Sie über die Vorschläge der Hartz-Kommission richten. Meines Erachtens ist es eine unverantwortliche Oppositionspolitik, ein Instrument, das noch nicht voll etabliert ist, das noch nicht greifen kann, schon schlecht zu reden. Damit machen Sie sich für die Verschlechterung der Stimmung mit verantwortlich. Ich verstehe, dass eine Opposition sagen muss, was schief läuft, aber wenn die Opposition in der Stunde der Verantwortung aus eigenem Kalkül die Stimmung zusätzlich schlecht redet, ({12}) dann versündigt sie sich an den Arbeitslosen. Das sollte sie meines Erachtens nicht tun. ({13}) Dann komme ich noch zu einem Punkt, der die Finanzpolitik betrifft.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nur noch einen ganz kurzen Satz. - Natürlich müssen wir die Bedingungen für Investitionen so verbessern, dass Innovationen verstärkt werden, vor allem indem wir tatsächlich in Bildung und Forschung investieren. Die Haushalte müssen aber die Spielräume dazu hergeben. Deswegen sind alle, die sich bei Subventionskürzungen verweigern, wie Sie es tun, mit verantwortlich. Sie haben schließlich keinen Vorschlag zum Abbau der Subventionen in der Bundesrepublik Deutschland eingebracht, ({0}) zu dem Sie dann auch wirklich stehen, ({1}) zu dem Sie dann auch mit Ihrer Ländermehrheit stehen. ({2}) Nur wenn Subventionen abgebaut werden, können wir zusätzlich investieren. Auf Schuldenbasis können wir im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit, die für uns wichtig ist, nicht investieren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Punkt! ({0})

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Fazit: alle zusammen! Dann wird es gehen. - Ich bin schon am Ende, Frau Präsidentin. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute sagt der Kollege Kuhn hier: Es ist doch völlig klar, dass die Lage schlecht ist. - Vor nicht einmal zwei Monaten haben dieselben Leute von der Koalition hier dafür gesorgt, dass der Nullzuschuss bei der Bundesanstalt für Arbeit mit Mehrheit durchgesetzt wurde. ({0}) Das ist die wirkliche Lage. ({1}) Allen Warnungen zum Trotz ist das von Ihnen so gemacht worden. Sie haben vorgegaukelt, dass es mit Ihren Wunschträumen weitergehen würde. Das ist vorbei. Jetzt gestehen Sie selbst zu, dass ein zusätzlicher Bedarf von 7,5 Milliarden Euro besteht. Merken Sie eigentlich nicht, dass Sie von der Realität immer schneller eingeholt werden? Herr Brandner, was Sie hier gesagt haben, ist ein Skandal ersten Ranges. Noch nie hat es in Deutschland so viele junge Arbeitslose gegeben wie unter Rot-Grün, nämlich 522 000. Und da sagen Sie: Die Lage ist doch eigentlich gar nicht so schlecht. - Ich kann mir nur wünschen, dass möglichst viele Leute am Fernseher mitbekommen, was die SPD in dieser Situation an Arroganz an den Tag legt. ({2}) Die Wahrheit ist, dass nunmehr zusätzliche Ausgaben in Höhe von 12 Milliarden Euro prognostiziert werden. Selbst dann, wenn einige Ihrer Maßnahmen wirken, stehen immer noch 10 Milliarden Euro neue Schulden an, die nicht verkraftet werden können. ({3}) - Sie sagen es zu Recht, Herr Kollege Niebel: ohne das, was sonst noch gefordert wird. Unter der Führung der Rot-Grünen steuert dieses Land auf eine Arbeitsmarkt- und Haushaltskatastrophe zu. Das muss verhindert werden. ({4}) Das gilt ganz besonders auch vor dem Hintergrund, dass es in Europa Länder gibt, die gezeigt haben, dass man es auch anders machen kann. Herr Kuhn, Sie haben auf das Jahr 1997 - Wachstum: 3,1 Prozent - rekurriert. Hätten Sie in der Opposition damals über den Bundesrat nicht alles blockiert, was im Bundestag bereits beschlossen worden war - das ging von der Steuerreform bis hin zu den Reformen der Sozialsysteme -, dann hätte dieses Land die Kurve gekriegt und wir stünden so gut da wie andere Länder in Europa. Auch das haben Sie zu verantworten. ({5}) Aus der Sicht des Haushaltspolitikers ist es in der jetzigen Situation in besonderem Maße schädlich, dass wir weitere konsumtive Ausgaben tätigen und diese über Schulden finanzieren müssen. Wir bräuchten investive Ausgaben, damit ein wirtschaftlicher Prozess in Gang gesetzt werden kann. Was sich hier abspielt, ist Gift für die Wirtschaft. Das haben Sie zu verantworten - niemand anders! Wir sehen, wie wenig Abgeordnete Ihrer Fraktion jetzt hier sind. Wenn Sie für die Leute im Lande eintreten wollen und hier gerade mal ein Dutzend Abgeordnete auftauchen, dann müssten Sie sich eigentlich schämen. ({6}) Ich möchte jetzt noch etwas Konkretes zu dem sagen, was wir bei den Beratungen in der Praxis erleben. Herr Gerster, Vorstandsvorsitzender der Bundesanstalt für Arbeit, war fünfmal persönlich zu Terminen in den Haushalts- und den Rechnungsprüfungsausschuss bestellt. Viermal ist dieser Mann nicht erschienen. ({7}) Das ist doch keine Zusammenarbeit mit dem Parlament! Der Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses, der SPD-Abgeordnete Rübenkönig, hat ihm erst vor kurzem geschrieben: Die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses haben mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie ... nicht teilnehmen werden und Ihre Absage nicht einmal persönlich mitgeteilt haben. Nachdem fraktionsübergreifend der Wunsch geäußert worden war, Sie als Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit persönlich zu dieser Sitzung einzuladen, möchte ich hiermit mein Bedauern darüber äußern, dass Sie als ehemaliger ParlaHans-Joachim Fuchtel mentarier offenbar keinen großen Wert auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Parlament legen. Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit. Da zeigt sich doch, wie marode das alles mittlerweile ist und dass Sie die Lage nur noch abwickeln. ({8}) Bezüglich des Haushalts - dazu wollte ich eigentlich reden - haben Sie die neue Formulierung geprägt: Das ist nicht wirklich so gewollt. - Jede Aussage muss erst daraufhin untersucht werden, ob sie überhaupt belastbar ist. Das, was Sie im Bundeshaushalt für die Bundesanstalt veranschlagt haben, können Sie so wirklich nicht gewollt haben, denn es ist nicht belastbar. ({9}) Insofern kann ich Ihnen nur zurufen: Gehen Sie auf die Opposition zu, ({10}) versuchen Sie zusammen mit der Opposition, wirklich einen Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit zu leisten, und hören Sie, Herr Kollege Brandner, mit solchen Mätzchen der Oberflächlichkeit, wie Sie sie vorhin geboten haben, auf! Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Werner Bertl das Wort.

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Angesicht der bedrückenden Situation von fast 4,5 Millionen Menschen ohne Arbeit brauchen wir hier keine ideenlosen Inszenierungen. Nötig sind Konzepte, Maßnahmen und Antworten, ({0}) die nachhaltig wirken und auch Unternehmensführungen in den Stand versetzen, die Marktfähigkeit von intelligenten Produkten und Dienstleistungen aus unserem Land vor allen Dingen mit qualifizierten Mitarbeitern real und tatsächlich zu erhalten oder wiederherzustellen. Das ist die einzige Chance, den Menschen in unserem Land Arbeit und soziale Sicherheit zu verschaffen. ({1}) Wie sieht die Realität in diesem Land aus, leider auch bei der Opposition? Jedwede Interessenvertretung in unserem Land beteiligt sich scheinbar hoch motiviert und von Einsichtsnotwendigkeit getrieben an der Präsentation ihrer Vorschläge, die unter vielfältigen Überschriften laufen: Bürokratieabbau, Subventionsabbau, Deregulierung oder Bewahrung alles Alten. Letztendlich verkommt das Ganze zu Ritualen, mit denen nur noch eigene Interessen und Besitzstände für das Hier und Jetzt zementiert werden. Der Finger der massiven Aufforderung, alles zu verändern, zeigt dabei immer auf die anderen. Anscheinend heißt die Philosophie bei uns - dieses Fazit ziehe ich -: Es muss dringend alles anders werden, aber bei uns darf sich nichts ändern. Doch wir alle wissen: Wenn wir das europäische Sozialstaatsmodell erhalten wollen und die Lebensrisiken von Menschen absichern wollen, müssen wir das für alle trag- und ertragbar gestalten. Wir haben einen Berg fehlerhafter früherer Entscheidungen abzuarbeiten. ({2}) Ich sage aber auch: Das Jammern hilft heute gar nichts. Entscheidend ist: Mit den bereits verabschiedeten bzw. anstehenden Maßnahmen zur Neugestaltung der Arbeitsmarktpolitik bzw. der Sozialpolitik gehen wir zugegebenermaßen einen schweren und vielleicht auch für manchen zu schweren Weg - eben weil vieles anders werden muss. ({3}) Zu viel von dem, an das wir uns gewöhnt haben, war übrigens geprägt von der Philosophie, es jetzt uns möglichst einfach zu machen; die Belastungen aber für diejenigen, die nach uns dran sind, sind dabei häufig aus dem Blickfeld geraten. Von der Opposition habe ich bis heute keine Antworten auf die drängenden Fragen erhalten. ({4}) Machen Sie dabei mit, dass sich Menschen in Deutschland einfacher selbstständig machen können? Machen Sie mit, dass man sich in kaum gesehenen Nischen unserer Wirtschaft in eine geregelte Wertschöpfungskette begeben kann? ({5}) Machen Sie mit, die notwendige Qualifizierung gerade der vielen Langzeitarbeitslosen so zu gestalten, dass sie, die Betroffenen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben und nicht vorrangig die Interessen der am Markt agierenden Träger? Machen Sie mit, über 70 Prozent der Unternehmen in Deutschland zu motivieren, sich der Verantwortung für die Generation der jetzigen Schulabgänger zu stellen? Und wenn diese das nicht tun: Machen Sie dabei mit, Konsequenzen zu ziehen? ({6}) Statt den Bundestag als Plattform für ideologische Auseinandersetzungen zu sehen, ist das Mitmachen gefragt, um ganz real dafür zu sorgen, dass junge Menschen nach ihrer Schullaufbahn eine Perspektive geboten bekommen. Mir fallen noch viele Fragen ein, die ich Ihnen als Opposition stellen könnte, auf die wir bis heute keine Antwort bekommen haben. ({7}) - Ja, man müsste eine Fragestunde für Fragen an die Opposition einführen, dann hätten wir es manchmal etwas leichter. ({8}) Ich kann Ihnen nur eines sagen: Die Flucht in die alten Antworten hilft nicht weiter. Wir werden Antworten geben müssen und Wege gehen müssen, die vielleicht unbequem sind. ({9}) Auch Sie als Opposition werden sich vor diesen Antworten nicht drücken können. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat die Abgeordnete Vera Lengsfeld. ({0})

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Seit Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung ist die Schere zwischen den alten und den neuen Ländern weiter aufgegangen und die Arbeitslosigkeit erreicht mit 108 000 Arbeitslosen mehr als vor einem Jahr neue Rekordhöhen. Das als Wunderwaffe angepriesene HartzKonzept entpuppt sich besonders in den neuen Ländern als Rohrkrepierer. Nehmen wir doch einmal, Herr Kollege Brandner, die von Ihnen gelobten Personal-Service-Agenturen, von denen ja erst wenige gegründet sind. Ich sage Ihnen: Diese PSA sind Staatswirtschaft à la DDR. ({0}) Sie werden nicht funktionieren, denn sie bringen die Menschen in staatliche Abhängigkeit statt in Arbeit. ({1}) Ein Vorhaben von Herrn Hartz war, mithilfe einer Kapitalmarktanleihe der Kreditanstalt für Wiederaufbau 150 Milliarden Euro zur Förderung des Mittelstandes und zum Ausbau der Infrastruktur in Ostdeutschland zu beschaffen. So sollten 1 Million neue Arbeitsplätze entstehen. ({2}) Um Investitionen in das Jobfloater genannte Wertpapier, das besser „Jobflopper“ genannt werden sollte, attraktiv zu machen, sollen Anleger steuerliche Vorteile erhalten. Das Konzept war von Anfang an verfehlt. Die Neueinstellungen werden subventioniert. Trotz dieses zweifelhaften Ansatzes wurden in den neuen Ländern nicht einmal 500 Neueinstellungen erreicht. Inwieweit es sich hierbei um reine Mitnahmeeffekte handelt, kann nur vermutet werden. Die Kunstjobs aus dem Hartz-Paket hätten am Markt ohne Staatssubvention keine Überlebenschance; mit Staatssubvention machen sie dem Mittelstand ungebührlich Konkurrenz. ({3}) Es war klar, dass sich mit den vorgeschlagenen Förderprogrammen die hartnäckigen Strukturprobleme am Arbeitsmarkt im Osten nicht lösen lassen würden. Unsere Wirtschaft ist überwiegend mittelständisch strukturiert und hat wenig Eigenkapital. Gerade die Klein- und Mittelbetriebe leiden unter der hohen Bürokratiebelastung sowohl auf der Kosten- als auch auf der Personalseite. Während der Mittelstand den vollen Kapital- und Eigentümerrisiken ausgesetzt ist, bürgt der Staat für die finanziellen Risiken seiner Unternehmen. So wird der Wettbewerb zulasten des Mittelstandes verzerrt. Der permanente Ruf nach dem Staat zur Korrektur unbefriedigender Marktergebnisse ist das falsche wirtschaftspolitische Signal und verringert die Fähigkeit, unternehmerische Antworten im Markt selbst zu finden. ({4}) Der Staat muss endlich Rahmenbedingungen setzen, die die Kräfte der Selbstregulierung in der Wirtschaft stärken. Interventionistische Eingriffe müssen auf ganz wenige Ausnahmen beschränkt bleiben. ({5}) - Dazu hatte ich seinerzeit noch gar keine Gelegenheit. ({6}) - Jetzt können Sie einmal zuhören, Herr Kollege, jetzt kommen nämlich meine Vorschläge. ({7}) Angesichts der katastrophalen Situation am Arbeitsmarkt ist Mut gefragt, der Mut, unpopuläre Maßnahmen endlich einzuleiten. ({8}) - Hören Sie doch zu, ich sage es Ihnen ja jetzt! ({9}) Wir brauchen in den neuen Ländern mehr Freiräume, um den Rückstand bei Wachstum, Beschäftigung und Produktivität aufzuholen. ({10}) Wichtige Schritte auf diesem Weg sind Bürokratieabbau, Senkung der Lohnnebenkosten, Deregulierung des Arbeits-, Bau- und Planungsrechts und vor allem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Das Problem in den neuen Ländern ist der unflexible Arbeitsmarkt. Internationale Vergleiche zeigen deutlich, dass mit einer geringeren Regulierungsdichte auf dem Arbeitsmarkt höhere Beschäftigung möglich ist. Barrieren für Neueinstellungen bei Betrieben müssen fallen. Die Bundesländer benötigen mehr Spielräume. In vielen Bereichen ist die Zeit bundeseinheitlicher Regelungen überholt. Ersten Initiativen der mitteldeutschen Länder über den Bundesrat, die Lage in Deutschland zu verändern, werden weitere folgen. Wir brauchen in den neuen Ländern - mehr als anderswo - eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes. Nötig sind: Reform der Tarifpolitik, flexiblere Formen der Entlohnung, Änderung in der betrieblichen Mitbestimmung, flexiblere Reformen der Arbeitszeitgestaltung, grundlegende Reform des Umschulungs- und Weiterbildungsbereiches für Arbeitslose und konsequente Durchforstung von Verordnungen und Vorschriften, die den Arbeitsmarkt belasten. Wir müssen auch die ABM überdenken. Wenn Herr Gerster, der bislang eher als Raumausstatter der Nation aufgefallen ist, ({11}) vorschlägt, die Zahl der Teilnehmer an Beschäftigungsprogrammen wieder zu erhöhen, ist das genau der falsche Weg. Wir kommen an einem Umdenken nicht vorbei. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren und sind leider selten die erhoffte Brücke in die reguläre Beschäftigung. Ganz im Gegenteil: Sie sind eher eine Fortsetzung des Sozialismus mit Westgeld. Der Sozialismus - das sage ich Ihnen - wird auch mit Westgeld nicht funktionieren. ({12}) Es gibt ernst zu nehmende Anzeichen dafür, dass sich die Beschäftigungschancen verschlechtern und Teilnehmer an Maßnahmen ihre Suchbemühungen reduziert haben. ({13}) - Ja, sicher. Ich kritisiere das ganz allgemein. Aber gerade habe ich mich darauf bezogen, dass Sie dabei sind, die Mittel dafür wieder zu erhöhen, statt sie abzubauen. ({14}) Zudem sind arbeitsmarktpolitische Aktivitäten teuer. Diese Mittel wären für Investitionen besser eingesetzt. Weil Arbeitsmarktpolitik nicht flächendeckend durchgeführt werden kann, ist sie außerdem ungerecht. Die ABM kaschieren viel. Der Druck wird kurzzeitig gemildert; die Probleme werden aber nicht gelöst. Dabei ist Problemlösung doch das, was wir von der Regierung wirklich erwarten können. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anja Hajduk.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist wahrlich dramatisch. Die uns gestern vorgestellten Zahlen markieren einen traurigen Höchststand. Aber ich glaube, statt im Parlament einen Streit über diese Fakten zu entfachen, sollten wir alle diese Fakten unseren Debatten zugrunde legen. Das heißt aber auch - das sage ich jetzt in Richtung Opposition -: Der Streit sollte sich nicht in dem Vorwurf erschöpfen „So haben sich die Zahlen entwickelt, so dramatisch ist die Lage!“, Hauptstreitpunkt sollte vielmehr sein, mit welchen Instrumenten wir die Lage verändern können. ({0}) Wir sollten über alternative Instrumente diskutieren und streiten, anstatt nur den Vorwurf zu wiederholen: Es ist ein Höchststand erreicht. - Denn zu allen Zeiten lassen sich Höchststände errechnen. ({1}) Diesen Anspruch habe ich an die Opposition, aber auch an uns selbst. Wir sind gut beraten, wenn wir der dramatischen Lage Rechnung tragen und sie der betroffenen Öffentlichkeit deutlich machen. ({2}) - Ich komme jetzt zu den Vorschlägen. Es ist keineswegs so, als gebe es keine Vorschläge. Ganz im Gegenteil: Die Agenda 2010, die jetzt zur Diskussion steht, und die Entscheidungen, die wir im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzeptes getroffen haben, sind ohne Alternative. Die dramatischen Zahlen bestärken uns darin, mit den Reformen weiterzugehen. ({3}) - Wir machen das. Ich gucke zu Ihnen, weil Sie vorhin gesagt haben, all diese Bausteine würden nicht wirken. Zu dieser Aussage lassen sich leider auch einige Redner der Union immer wieder hinreißen. Das ist aber falsch. ({4}) Das wissen auch Sie; denn Sie haben einige Vorschläge ganz bewusst mitgetragen. Bei den Minijobs haben Sie sogar einige Vorschläge formuliert, bevor wir es getan haben. ({5}) Ist es denn schlimm, wenn wir Ihnen heute Recht geben? Lassen Sie uns doch ehrlich sagen, welche Instrumente es zur Lösung der Probleme gibt! ({6}) Dabei sollten Sie dann bitte aber auch mitmachen. ({7}) Es gibt Unterschiede; über diese sollten wir streiten. Aber Sie verteufeln aus der Opposition heraus immer alles. Davor möchte ich Sie warnen. Denn ich sagte: Die Lage ist dramatisch. Die Erwartung der Bürger richtet sich an alle Politiker in der Opposition und in der Regierung. Natürlich sind wir in der Regierung besonders verantwortlich; das will ich nicht leugnen. ({8}) Ich will Sie auf noch etwas hinweisen: Obwohl wir bestimmte Schritte gehen, zum Beispiel die Agenda 2010 und auch die Hartz-Reformen - auch Sie wissen, dass das teilweise noch nicht wirken konnte, weil die Gesetze erst in Kraft treten müssen; wir hoffen, dass sie wirken werden -, steht eines fest: Es gibt in der Arbeitsmarktpolitik keine Wunder. Wir sollten der Öffentlichkeit ehrlich sagen: Eine Besserung wird erst nach dem nächsten Wahltag erfolgen. Diese Ehrlichkeit sollten wir haben. Denn Reformen in solch einem Gebiet sind nicht falsch, wenn sie nicht kurzfristig wirken. Vielmehr sollten wir alle ehrlich genug sein, zu sagen: Wir werden in Deutschland in der Arbeitsmarktpolitik über mehrere Jahre ein Problem haben. Wir sind gut beraten, da keine falschen Erwartungen zu wecken. Trotzdem brauchen wir Reformen. Dass es keine arbeitsmarktpolitischen Wunder gibt, das wissen Sie selbst aus der langen Zeit Ihrer Kohl-Regierung. Herr Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen, dass auch Sie bei günstigeren Wachstumsbedingungen eine schlechte Bilanz hatten. Deswegen sage ich: Es gibt keine arbeitsmarktpolitischen Wunder. Aber Reformschritte sind notwendig; wir brauchen sie. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auffordern, konkrete Alternativen zu benennen. ({9}) Dann können wir zusammen etwas machen. Denn wir brauchen für sehr viele Reformen Kooperation. Wir brauchen eine Kooperation zwischen der Bundes- und der Länderebene. Deswegen werden Sie erleben, dass wir Ihre Vorschläge konstruktiv aufnehmen. Denn es nützt gar nichts, wenn wir uns gegenseitig für schwierige Situationen verantwortlich machen. In dem Moment, in dem wir einen Vorschlag zu einer Veränderung machen, erwarte ich von Ihnen, dass Sie bei dieser Veränderung zum Teil mitmachen oder Alternativen einbringen, die wir dann konkret bewerten können. ({10}) Eines ist für mich ausschlaggebend und klar: Wir müssen den Faktor Arbeit entlasten. Ein größeres Problem als die steuerliche Belastung ist die Belastung durch die Lohnnebenkosten. Wir befinden uns in einem Teufelskreis steigender Arbeitskosten, was Arbeitslosigkeit bewirkt, unterdurchschnittliches Wachstum generiert und zu großen Finanzproblemen führt. Um aus diesem problematischen Kreislauf herauszukommen, müssen wir die Lohnnebenkosten senken. ({11}) Wir kommen um schwere Einschnitte nicht herum. Vor dem Hintergrund, dass wir eine alternde Gesellschaft sind - auch das ist ein wichtiges Thema -, brauchen wir ({12}) wesentlich mehr Investitionen und Innovationen. Wir brauchen neue Freiräume in einem beengten Haushalt, um zukünftig mit weniger Arbeitsplätzen die volkswirtschaftliche Basis zu erwirtschaften, die wir für eine alternde Gesellschaft brauchen. Dazu gehört extrem viel Kooperation im politischen Feld. Ich freue mich, dass Sie mir in einigen Punkten meiner Rede sehr viel Zustimmung haben zukommen lassen. Damit wäre vielleicht ein Grundstein für die nächsten Monate gelegt. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt guten Grund, sich über die dramatischen Arbeitslosenzahlen zu erregen. Doch ich verstehe nicht, warum das gerade die Damen und Herren von der CDU/CSU tun. Sie haben noch kein Rezept gegen die Arbeitslosigkeit vorgetragen. Was Sie als Alternative zur Agenda 2010 vorgelegt haben, ist nicht besser, sondern nur grausamer. Ein Beispiel: Die Regierung will das Arbeitslosengeld auf das Niveau der Sozialhilfe kürzen. ({0}) - Genau, die Arbeitslosenhilfe. Gut, dass Sie genau zuhören, Herr Kollege Niebel. Das finde ich Klasse. ({1}) Dies ist eine alte Forderung der CDU/CSU. Das reicht Ihnen aber jetzt nicht mehr. Sie fordern die Absenkung der Sozialhilfe um 30 Prozent, wenn ein Sozialhilfeempfänger eine bestimmte Arbeit ablehnt. ({2}) Dafür erhalten Sie in bayerischen Bierzelten sicherlich viel Beifall. ({3}) Aber Sie befinden sich, so glaube ich, in vielen Fällen neben der Realität. Schauen wir uns einmal das Heimatland von Frau Merkel, Mecklenburg-Vorpommern, an. Dort kommen auf einen Arbeitsplatz 22 Erwerbslose. ({4}) 100 000 Menschen bekommen eine Arbeitslosenhilfe von durchschnittlich 469 Euro und 44 000 Menschen bekommen eine Sozialhilfe von durchschnittlich 279 Euro. ({5}) Frau Merkel will von den 279 Euro noch 30 Prozent abziehen. ({6}) Dann bleiben noch 195 Euro zum Leben. So viel bezahlt Frau Merkel für ein ordentliches Abendessen in einem Berliner Luxusrestaurant. Ich frage Sie: Wie soll davon ein Mensch in Würde leben? Es kommt aber noch schlimmer: Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, legt Quoten für Sperrzeiten fest, wie die „Wirtschaftswoche“ berichtet. Das heißt, jeder nichtige Grund wird jetzt genutzt, um den Arbeitslosen das Arbeitslosengeld zu sperren. Das Ergebnis sind nicht weniger Arbeitslose, sondern Arbeitslose, die weniger Geld bekommen. Dabei gibt es eine Menge Alternativen: Erstens. Wir müssen Steuergerechtigkeit herstellen. Es müssen diejenigen besteuert werden, die genug Geld haben. Ich kann es auch gern wiederholen: Ein Baustein ist die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die von der rot-grünen Koalition bereits in der Koalitionsvereinbarung von 1998 festgeschrieben wurde. Sie verzichten auf 10 Milliarden Euro pro Jahr für die öffentlichen Haushalte. Zweitens. Die sozialen Sicherungssysteme müssen auf eine breitere Basis gestellt werden. Weil viele nicht einzahlen, steht weniger Geld für die Allgemeinheit zur Verfügung. Drittens. Wir wissen doch alle, dass nicht mehr Arbeit entstehen wird und die Arbeit, die jetzt geleistet wird, aufgrund der Erhöhung der Produktivität in immer kürzerer Zeit erledigt werden kann. Ein wichtiger Schritt wäre folglich eine drastische Arbeitszeitverkürzung. Diese sollte als Prinzip durchgesetzt werden. Ein alter Vorschlag - ich erwähne ihn hier erneut -, der den Kommunen sofort helfen würde, ist, ein kommunales Investitionsprogramm aufzulegen, damit die Infrastruktur ausgebaut und gesichert werden kann. Druck auf Arbeitslose und Kürzung der Mittel - das ist sehr fantasielos. Ich glaube, es gibt viele gute Vorschläge. Wenn man genügend Fantasie aufbringt, ist es möglich, diese Vorschläge in die Realität umzusetzen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Fuchs. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Hajduk, ich muss Ihnen einen gewissen Realitätsverlust vorwerfen. Sie reden davon, die Lohnnebenkosten zu senken, ({0}) während heute in den Zeitungen steht, dass Sie sie steiger. Die Beiträge zur Rentenversicherung werden im nächsten Jahr um 0,3 Prozent steigen, die Beiträge zu den Krankenversicherungen um 0,7 Prozent. ({1}) Sie ziehen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit diesen Maßnahmen das Geld aus der Tasche. Machen Sie den Bürgern nichts vor. ({2}) Herr Brandner, ich muss mich an Sie wenden. Wissen Sie, warum wir Aktuelle Stunden brauchen? Wir brauchen sie, weil Sie keine Gesetze vorlegen, über die wir diskutieren können. Jetzt beginnen Sie Diskussionen, die sich bis zum 1. Juni hinschleppen. Am 1. Juni werden wir sehen, was von der Agenda 2010 übrig bleibt. Herr Niebel hat völlig zu Recht gesagt, es werden zwei Zehntel sein. Dann werden wir erleben, welche Bestandteile der Agenda 2010 als Gesetzentwürfe eingebracht werden. Wie lange wird das dauern? Es wird sicher nicht mehr vor der Sommerpause passieren; nein, wir werden die Gesetzentwürfe irgendwann im September im Parlament beraten. Ab 1. Januar sollen sie wirken. Zu diesem Zeitpunkt wird es wahrscheinlich 5 Millionen Arbeitslose geben. ({3}) So sieht das Nichtstun Ihrer Koalition aus. Ich finde das äußerst bedauerlich und es ärgert mich gewaltig. ({4}) - Wenn Sie zuhören würden, würden Sie es endlich verstehen. Das ist auch notwendig. Herr Kuhn, Sie haben hier von Arbeitsmarktmaßnahmen, so beispielsweise von den PSA, gesprochen. Was ist denn dabei herausgekommen? Ich habe in meinem Wahlkreis nachgefragt. Es gibt zurzeit keine einzige PSA. Wahrscheinlich wird es welche nach der Sommerpause geben. In Rheinland-Pfalz rechnet man mit 49 PSA nach der Sommerpause. In Ihrem Papier steht, es sollen in drei Jahren 750 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Jetzt gehen Sie von 50 000 Arbeitsplätzen aus und selbst diese Zahl werden Sie nicht erreichen. Es gibt 15 900 Bewilligungen für Ich-AGs. ({5}) Die Umsetzung des Hartz-Konzeptes hat bisher nichts bewirkt. ({6}) Wir haben eine durchschnittliche Arbeitslosigkeit von 4,6 Millionen in diesem Jahr. Das sind rund 500 000 mehr als in Ihren Prognosen. Das zeigt uns, wie dramatisch die Probleme der Arbeitslosenversicherung sind. ({7}) Sie haben Zuschüsse bei Neueinstellungen älterer Arbeitnehmer beschlossen. Die Bundesanstalt hat bisher 363 solcher Fälle registriert. Bei 1,146 Millionen Arbeitslosen über 50 Jahre machen diese 363 Fälle gerade einmal 0,03 Prozent aus. Aber mit Promille kennt sich Herr Brandner besser aus, also: 0,3 Promille. Dazu kann ich Ihnen nur eines sagen: Warum gehen Sie nicht auf die hohe Zahl der Pleiten ein? In Deutschland wird es in diesem Jahr 42 000 Pleiten geben. Das sind pro Tag 115 Unternehmen und mindestens 1 000 Stellen, die in Deutschland durch Pleiten wegfallen. ({8}) Das ist die Realität. Darüber zu spaßen und zu sagen: „Die 4,5 Millionen Arbeitslose sind kein großes Problem, es wird schon besser; die Hoffnung bleibt uns ja noch“, kann nicht richtig sein. Ich nenne noch einen Punkt: Sie versuchen jetzt, im Osten ein Jobprogramm für 100 000 Arbeitslose aufzulegen, um sie mittels der alten Auffanggesellschaften in Scheinbeschäftigung zu halten. ({9}) Das wird zu nichts anderem führen, als dass eine weitere Milliarde Euro, die durch Steuern bezahlt wird, weg sein wird. Genau das brauchen wir nicht. ({10}) Zum Osten fällt mir noch ein zweiter Punkt ein, der mich besonders bestürzt. Herr Brandner, ich hätte gerne Ihre Hilfe als IG-Metall-Mitglied. Es kann nicht sein, dass man in einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit in Kommunen 20 Prozent und mehr beträgt - die Kollegin Lengsfeld hat das vorhin beschrieben -, anfängt zu streiken, um eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zu erreichen. Damit wird der einzige noch verbliebene Standortvorteil der Regionen im Osten vernichtet, deren Wettbewerbsfähigkeit jetzt noch besser ist als die mancher Regionen im Westen und vor allen Dingen besser als die der EU-Beitrittsländer. ({11}) Lassen Sie nicht zu, dass das kaputtgemacht wird. Hier erwarte ich Ihre Hilfe, Herr Brandner. Es wäre notwendig, dass Sie die IG Metall dabei auf den Boden der Realität zurückführen und hier nicht noch zusätzlich Arbeitsplätze kaputtgestreikt werden. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind gewaltig, aber Sie finden nur Lösungen - hier bin ich besonders von den Grünen enttäuscht, Frau Hajduk - für die Wähler von heute, aber nicht für die Kinder von morgen. ({12}) Das ist eine Politik nach dem Motto „Kinder haften für ihre Eltern“. So sollte es nicht weitergehen. Machen Sie damit endlich Schluss und bringen Sie den Arbeitsmarkt in Ordnung. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Themenpalette dieser von der CDU/CSUFraktion beantragten Aktuellen Stunde ist breit. OffenParl. Staatssekretär Gerd Andres sichtlich ist es zwischenzeitlich auch der Opposition bewusst geworden, dass für die zum Ritual jeder Sitzungswoche gewordene Aktuelle Stunde die aktuelle Arbeitsmarktlage als Thema nicht mehr ausreicht. Also schaut man die Presse durch und packt noch ein paar Dinge drauf oder man inszeniert sie sogar. Ein wunderbares Beispiel dafür war der Abgeordnete Singhofer. ({0}) - Entschuldigung. Er ist ein Hammer, der Hofer ist ein anderer. ({1}) Auf den komme ich noch zu sprechen. Jetzt komme ich zu dem Kollegen Singhammer. Herr Singhammer, Sie sind das klassische Beispiel für Desinformation und Doppelbödigkeit. Das sage ich Ihnen hier. ({2}) Sie haben die Statistikdebatte über das „Handelsblatt“ angefacht. Darin werden Sie sogar zitiert. Auch in Ihrem Redebeitrag hier haben Sie mit Einsparungen in Höhe von 7 Milliarden Euro gerechnet. Ich lese Ihnen einmal einen kurzen Absatz aus einem Brief des Präsidenten des Bundesrechnungshofes vor. Er lautet: Der Bundesrechnungshof erhebt nicht, wie im „Handelsblatt“ dargestellt, den Vorwurf, dass so genannte Scheinarbeitslose sich in größerem Umfang aus der Arbeitslosenkasse bedienen. Auch die im „Handelsblatt“ genannte Zahl - von Ihnen hier wiederholt und vorgerechnet von 7 Milliarden Euro an möglichen jährlichen Einsparungen ist abwegig, weil es sich bei den untersuchten Gruppen von arbeitslos Gemeldeten überwiegend nicht um Bezieher von Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit handelt. Guten Tag, Herr Singhammer. Ich kann nur sagen: Was Sie hier machen, ist so was von doppelbödig. ({3}) Ich nenne noch einen zweiten Punkt, die Statistikdebatte. Bitte nehmen Sie mir ab, dass ich davon persönlich tief betroffen bin. Wir sind uns doch einig - wenn wir untereinander darüber reden -, dass in der Arbeitslosenstatistik Fälle enthalten sind, die nicht in diese Statistik hineingehören. Diese wurden - das will ich als kurze Anmerkung sagen - in Ihrer Regierungszeit dort hineingebastelt. Sozialrechtsinduzierte Arbeitslosigkeit gehört aus der Statistik heraus. Wieso sind dort zum Beispiel Empfänger von Kindergeld enthalten? Ich könnte noch andere Beispiele nennen. Ich erinnere Sie an eine Debatte - auch das war eine Aktuelle Stunde -, die vor genau einem Jahr stattgefunden hat. In ihr wurde von Ihnen der Vorwurf erhoben, die Bundesregierung plane eine Statistikbereinigung, um die Arbeitslosenstatistik zu fälschen und die Arbeitslosenzahlen künstlich nach unten zu drücken. ({4}) Das ist eine Doppelbödigkeit von Ihnen. ({5}) Wenn Sie der Meinung sind, wir müssten hier etwas ändern, legen Sie doch einen Entwurf dazu auf den Tisch. Dann werden wir auch darüber reden. Aber ich sage Ihnen: Wir brauchen Ihren Entwurf eigentlich nicht, weil wir mit der Umsetzung von Hartz III genau das machen werden. Damit bin ich beim nächsten Thema, auf das ich zu sprechen kommen möchte. Hier finde ich die gleiche Doppelbödigkeit vor, die mich - entschuldigen Sie, Frau Lengsfeld - anwidert. Sie haben en passant die Formulierung verwendet, wonach Herr Gerster der Raumausstatter der Nation ist. ({6}) - Lachen Sie nur freundlich. Ich hätte Ihnen empfohlen, sich vorher zu informieren, bevor Sie diese Bemerkung nebenbei fallen lassen und die Union dies zum Anlass einer Aktuellen Stunde nimmt. ({7}) Ich will Ihnen sagen, worum es konkret geht, damit alle wissen, worüber wir reden. Es geht zum einen um den Aufbau von zwei modernen Konferenzsälen mit der dafür notwendigen Infrastruktur. Dafür sind 2,3 Millionen Euro bei der Bundesanstalt für Arbeit eingeplant. Diese Maßnahme entspricht vor allem dem Wunsch von Pressevertretern, endlich zumutbare Arbeitsbedingungen zu erhalten. Die Bundesanstalt braucht diese Konferenztechnik dringend. Zum anderen erhalten die drei Vorstandsmitglieder Arbeitsräume auf einer Ebene. Dafür sind 295 000 Euro vorgesehen. Wenn in einem solchen Zusammenhang angesichts der hohen Arbeitslosigkeit der Vorwurf laut wird - das unterstützen Sie auch noch -, diese Vorhaben hätten etwas von goldenen Wasserhähnen an sich, dann ist das schlicht hinterhältig. Wir alle wollen doch, dass die Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen Dienstleister am Arbeitsmarkt ausgebaut wird und ({8}) dass die Strukturen umgebaut werden. Wir konnten es überall lesen: Die Bundesanstalt ist ein grauer Betonbau aus den 70er-Jahren - er ist mittlerweile 30 Jahre alt -, der an einen stalinistischen Bau aus den Vorstädten von Wladiwostok erinnert. Wenn der Vorstand Bemühungen unternimmt, sich vernünftige Arbeitsbedingungen zu schaffen, dann halte ich das für richtig. ({9}) Dass es dort keine goldenen Wasserhähne geben wird, darauf werden sowohl der Rechnungsprüfungsausschuss als auch der Haushaltsausschuss achten. Also auch hier: Fehlanzeige. ({10}) Ich komme nun zum Thema der hohen Arbeitslosenzahlen im April. ({11}) - Nein, nein, Herr Kollege, diese Aktuelle Stunde war von Ihnen beantragt. Deswegen bekommen Sie nun auch Antworten auf alle Fragen, die Sie haben. Gegenüber dem Vormonat ist die Zahl der Arbeitslosen um 113 000 Personen zurückgegangen. Saisonbereinigt ist sie angestiegen. Es stimmt: Wir haben mit 4,495 Millionen Arbeitslosen eine bedrückend hohe Zahl an Arbeitslosen und es sind die höchsten Aprilzahlen mindestens seit der deutschen Einheit. Ich brauche keine von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde, um dies einzugestehen und hier zu erklären. Diese Zahl macht deutlich, unter welch unglaublichem Reformdruck wir stehen, ({12}) welchen unglaublichen Reformdruck wir der Gesellschaft zumuten müssen und - das erkläre ich für die Bundesregierung - auch zumuten werden. ({13}) Wir befinden uns nämlich in dem Teufelskreis von sich langfristig deutlich abschwächenden Wachstumsraten, einer sich daraus erhöhenden oder verfestigenden Arbeitslosigkeit und daraus sich ergebenden hohen sozialen Kosten. Alles zusammen ist Ursache dafür, dass die Wachstumskräfte nicht freigesetzt werden können. Um das zu erkennen, brauchen wir keine Aktuelle Stunde. Das hat die Bundesregierung im Übrigen auch nicht überrascht; ({14}) denn wir haben - bleiben Sie ganz ruhig - bei unserer jüngsten Revision der gesamtwirtschaftlichen Eckwerte eine solche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt. ({15}) - Beim Haushalt ist es etwas anders gewesen, falls Sie das noch nicht verstanden haben, Herr Kollege. Die Eckdaten hierzu stammten vom Oktober. Als wir diese beraten haben, war nicht absehbar, wie die internationale Entwicklung und andere Bedingungen aussehen würden. ({16}) - Ich bin dafür, dass wir sachlich und fachlich vernünftig reden. - Von der nachlassenden wirtschaftlichen Dynamik waren alle Länder in Europa gleichermaßen betroffen. Das können Sie sich anschauen. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vor allem in den außergewöhnlichen Konstellationen der Weltwirtschaft zu sehen. ({17}) Ich könnte jetzt viele Bedingungen dafür aufzählen. Es gibt auch bestimmte Einschätzungen durch die Institute bezüglich der Perspektiven für dieses Jahr. Ich will damit gar nicht ablenken. Ich sage Ihnen: Wir brauchen eine entsprechende Entwicklung der Weltwirtschaft dringend. Wir haben aber nur relativ geringe Einflussmöglichkeiten darauf; auch das muss man wissen. Umgekehrt brauchen wir auch die Reformen im Inneren, um eine andere Dynamik und Entwicklung in diesem Lande zu entfalten. Deswegen spreche ich auch das dritte Problem an. Wir haben Hartz I und II umgesetzt und wir werden Hartz III und IV umsetzen; darauf können Sie sich verlassen. ({18}) Damit wird die Reform der Bundesanstalt weiter vorangetrieben. Wir führen ein neues Leistungsrecht für die Arbeitslosenversicherung ein und fassen die Instrumente des Arbeitsmarkts zusammen. Hartz IV, die Zusammenfassung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, werden wir ebenfalls umsetzen. Dazu werden wir am kommenden Freitag in der Kommission auch mit Vertretern der Länder und der Opposition diskutieren. Ich kann Ihnen versprechen: Wir werden uns zu all diesen Projekten in diesem Saal und auf anderer Ebene wiedersehen. ({19}) Ich habe mir einmal genauer angeschaut, was die Union will. Sie hat einen großen Einigungsgipfel durchgeführt. Ich halte das für eine tolle Veranstaltung der zwei Parteien. ({20}) Bei dem Einigungsgipfel kam etwas heraus, von dem Herr Merz sagt - das wurde öffentlich zitiert -, dass er nicht viel davon hält; auch das werden wir sehen. Ich habe mir auch angeschaut, was Sie bei der Arbeitslosenversicherung vorschlagen. Sie sagen, dass das Arbeitslosengeld bis zu zwölf Monate lang gezahlt werden soll. In Bezug auf die unter 55-Jährigen gibt es also wahrscheinlich überhaupt keinen Streit mehr. ({21}) Ferner geht es um die Berechnung der Beitragsjahre. Den Vorschlag von 45 Jahren finde ich toll. Darauf kommen wir im Verfahren zurück. Ich finde, das wirkt anders als bei der Rentenversicherung. Sie machen Vorschläge, bei denen man weder richtig Maus noch Falle ist und die weder Fisch noch Fleisch sind. Wir werden darüber reden. Genau bei diesen Fragen werden wir uns erneut begegnen. ({22}) Wir werden auch durch Strukturreformen auf einem verkrusteten Arbeitsmarkt dafür sorgen müssen, dass Strukturprobleme gelöst werden. Wir haben die große Aufgabe, die Arbeit, die in diesem Lande vorhanden ist, so zu organisieren, dass sie von den in diesem Lande lebenden Menschen legal geleistet werden kann. ({23}) Sie können sich darauf verlassen: Wir werden die Agenda 2010 genauso wie alle Teile der Hartz-Reformen, die wir schon angekündigt haben, umsetzen. ({24}) Deswegen sage ich Ihnen: Es macht immer viel Spaß, alles mies zu machen. Diese Veranstaltungen sind dazu da, um alles mies zu machen. ({25}) Es kommt darauf an, mitzumachen. Das bedeutet, dass auch Sie sich Ihrer Verantwortung für dieses Land bewusst werden und auf eine Strategie setzen müssen. ({26}) Herr Singhammer, Sie setzen darauf, dass diese Regierung zerrieben wird und abtritt. Ich kann Ihnen vorhersagen: Sie können noch lange warten. Wir werden diese Reformen durchführen. Sie werden sich an vielen dieser Reformen sehr handfest beteiligen. Schönen Dank. ({27})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Staatssekretär Andres, wie sehr müssen Sie eigentlich mit dem Rücken zur Wand stehen, dass Sie hier so reagieren und reden wie gerade? ({0}) Diese Art des Redens kenne ich aus dem letzten Jahr, als es um Ihre Zahlen sehr schlecht bestellt war. Ich frage Sie: Muss das wirklich so „niveauvoll“ sein, dass Sie hier zynisch über Kollegen herziehen? Das muss wirklich nicht sein. Bleiben Sie an diesen Stellen bitte sachlich. ({1}) Mein verehrter Herr Staatssekretär, Sie haben gerade behauptet, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt habe Sie nicht überrascht. Ich frage Sie ernsthaft: Warum wurde die Agenda 2010 erstellt und warum wurde eine große Rede gehalten? Warum haben Sie das den Leuten nicht vor der Wahl gesagt, wenn Sie das alles doch nicht überrascht hat? Das ist die Frage, die die Menschen im Land umtreibt. ({2}) Wenn Sie sich an uns wenden und Strukturmaßnahmen fordern, dann kann ich dazu nur sagen: Die Türen bei uns sind weit offen. Sie und die auf der linken Seite sitzenden Fraktionen waren es, die sich jahrelang geweigert haben, zur Kenntnis zu nehmen, dass Strukturen geändert werden müssen. Das ist Ihr Problem. ({3}) Ich möchte an dieser Stelle auf die Zahlen nicht weiter eingehen. Es macht wirklich keinen Spaß mehr, über die Zahlen zu reden. Die Aktuellen Stunden zum Thema Arbeitslosigkeit sind nötig, weil der Druck von Woche zu Woche größer wird. Ich hoffe, Sie spüren ihn. Vor zwei Jahren haben wir uns darüber ausgetauscht, ob die Arbeitslosenzahlen unter Kohl oder unter Ihrer Regierungszeit schlechter waren. Diese Zahlen interessieren heute keinen mehr. Die Arbeitslosigkeit ist inzwischen so hoch und das Vertrauen in Ihre Regierung so gering, dass die Leute den Wunsch haben, dass sich endlich etwas ändert. Aber Sie bringen es nicht fertig. Das ist das Problem. ({4}) Wenn ich das Revue passieren lasse, was wir in den letzten viereinhalb Jahren erlebt haben, dann stelle ich verschiedene Phasen fest: In einer Phase wurde über die Probleme möglichst lange geredet, es wurden viele Vorschläge eingebracht und damit die Menschen verunsichert. In einer anderen Phase wurde zwar gehandelt, aber es waren Hauruck-Aktionen, in der Gesetze in zwei Wochen - das ist im letzten Jahr mehrfach passiert - verabschiedet wurden. Die Vermittlung von Arbeitslosen durch private Anbieter wurde in zwei Wochen eingeführt: ein hektischer Durchgang. Die Einsetzung der Hartz-Kommission hat nur zwei Wochen gedauert: ein hektischer Durchgang. Die Umsetzung von Hartz I und Hartz II nach der Wahl im Parlament hat ebenfalls nur zwei Wochen in Anspruch genommen: ein hektischer Durchgang. Wenn man sich einmal anschaut, ob diese Maßnahmen überhaupt wirken, dann ist dies ein berechtigtes Anliegen des Parlaments und als Kontrolle der Regierung notwendig, Herr Staatssekretär. ({5}) Die mangelnde Glaubwürdigkeit dieser Regierung versetzt alle miteinander in Starre. Keiner tut mehr richtig etwas. Herr Staatssekretär, wenn Sie die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt schon vorher kannten, dann frage ich mich, warum hier und heute keine konkrete Gesetzgebung zur Agenda 2010 vorgelegt wird. ({6}) Wir könnten in der nächsten Sitzungswoche mit dem, was Sie vorhaben, beginnen, wenn Sie die Gesetzesvorlagen auf den Tische legten. Aber was erleben wir stattdessen? Vier Regionalkonferenzen, Abwarten bis zum Juni, bis der Parteitag der SPD stattgefunden hat. Danach bleibt bis zur Sommerpause nur noch wenig Zeit. Wir alle miteinander wissen: Was dort vorgeschlagen wird, wirkt erst mittel- und langfristig. Wir verlieren Tag für Tag die Zeit, die notwendig ist, um die Reformen endlich anzupakken. ({7}) Herr Staatssekretär, ich freue mich schon darauf, dass wir uns bald wiedersehen werden; denn viele der Vorschläge, die jetzt als Agenda 2010 - das ist aber nicht weitreichend genug - vorgetragen werden, betreffen Maßnahmen, über die wir vier Jahre lang diskutiert haben. ({8}) Auch ein Abgeordneter hat abends die Gelegenheit fernzusehen. Gestern Abend habe ich daher den geschätzten Kollegen Müntefering im Fernsehen gesehen. Er wurde mit einer im Bild festgehaltenen Aussage von 1993 konfrontiert, die zeigte, wie sich die SPD gegen Änderungen struktureller Art bei der Sozialhilfe, dem Arbeitslosengeld und anderen Dingen während unserer Regierungszeit wehrte. ({9}) Das war natürlich eine Krux. Auf Nachfragen hat Herr Müntefering so getan, als hätten wir nichts angepackt. Nein, wir haben einiges auf den Weg gebracht. ({10}) Sie aber haben zu Beginn Ihrer Regierungszeit vor viereinhalb Jahren vieles zurückgenommen. Inzwischen haben Sie mit unserer Hilfe wieder eine Rolle rückwärts gemacht. Herr Kuhn, wissen Sie, warum die Minijobs inzwischen so gut angenommen werden? Weil sie nämlich eine Befreiung von den Regulierungen darstellen, mit denen Sie den Arbeitsmarkt vier Jahre lang stranguliert haben. Wir haben über den Vermittlungsausschuss geholfen, dass die Sache mit den Minijobs so gut läuft. ({11}) Meine Bitte zum Schluss an die Bundesregierung und an die Fraktionen von Rot-Grün: Fangen Sie endlich mit den Reformen an! Verzichten Sie auf den Parteitag! Hören Sie mit den Regionalkonferenzen auf! Legen Sie die Gesetzentwürfe auf den Tisch! Jeder Tag, der ungenutzt verstreicht, ist ein verlorener Tag für Deutschland. Tun Sie endlich etwas! ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Roth.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Meckelburg, angesichts Ihrer Aussagen bin ich ein wenig ratlos. ({0}) Einerseits werfen Sie uns vor, dass wir nichts auf den Weg bringen und nur diskutieren. ({1}) Andererseits sagen Sie im gleichen Atemzug, dass es Ihnen bei den Hartz-Konzepten zu schnell geht. Sie müssen sich schon entscheiden. Ein kräftiges Sowohl-alsauch ist richtig falsch. Es ist gar keine Frage: Wir alle hier im Parlament wissen, dass wir in einer äußerst schwierigen Lage sind. ({2}) Die Frage, worin die Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit liegen, muss beantwortet werden, damit wir die Karin Roth ({3}) richtigen Maßnahmen treffen. Das bedeutet, dass wir nicht nur die Innenpolitik beachten, sondern auch auf das sehen, was außenwirtschaftlich geschieht. Da ist es doch unstrittig - es sei denn, Sie lesen nicht die Gutachten des DIW und anderer zur Weltwirtschaft und zur europäischen Wirtschaft -, dass alle europäischen Länder, insbesondere die in der Eurozone, die gleichen Schwierigkeiten in Bezug auf die Wachstumsrate haben. Das hat sehr viele Gründe; ich will einige nennen. Einer dieser Gründe ist, wie wir wissen, dass das Wachstum insbesondere durch den Krieg und die daraus resultierenden psychologischen und ökonomischen Folgen gehemmt worden ist. Das bestreitet kein Mensch, kein Wirtschaftswissenschaftler und hoffentlich auch Sie nicht. So tragen beispielsweise die Börsenverluste dazu bei, dass die Menschen in unserem Land weniger Geld haben. Dies nicht zu thematisieren wäre ebenfalls falsch. ({4}) Es geht hier also nicht um einen Punkt der Politik für mehr Arbeitsplätze, sondern darum, dass wir ein Gesamtpaket von Reformen auf den Weg bringen müssen. Das heißt, wir müssen zunächst und vor allen Dingen versuchen, auf der einen Seite die Wachstumsentwicklung voranzubringen und auf der anderen Seite die Arbeitsmarktreformen fortzusetzen. Das ist gar keine Frage. ({5}) Zu Recht hat mein Kollege Kuhn darauf hingewiesen, dass Sie auch einmal in die Statistik der vergangenen Zeit sehen sollten. Da werden Sie auch sehen, Herr Meckelburg, ({6}) dass beispielsweise unter der Regierung Kohl bei einem Wachstum von über 3 Prozent 4,28 Millionen Menschen arbeitslos waren. ({7}) Im letzten Jahr betrug das Wachstum 0,2 Prozent und im Jahresdurchschnitt waren 4,06 Millionen Menschen arbeitslos. ({8}) Das heißt nicht, dass wir nichts tun müssten, aber es deutet darauf hin, dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie wir das Wachstum in Gang bringen können, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In dieser Hinsicht haben wir einen richtigen Weg beschritten. ({9}) Wir haben gesagt, wir brauchen mehr Geld für Innovationen und Investitionen. Einer der Gründe, warum wir dafür eintreten, die Gemeindefinanzierungsreform nach vorn zu bringen, ist, dass wir wissen, dass insbesondere dadurch schnell Arbeitsplätze entstehen. Auch diesbezüglich hoffe ich auf einen Konsens in diesem Hause. Aber das Problem ist - Herr Singhammer, jetzt komme ich auf Sie zu sprechen -, dass man sich dann mit der CDU/CSU einigen muss. Allerdings weiß sie nicht so ganz genau, was sie im Bereich der Gemeindefinanzierungsreform eigentlich will. Will sie die Gewerbesteuer oder will sie sie eigentlich nicht? ({10}) Das bedeutet, dass wir bei einem Reformprojekt sehr viel Zeit verlieren, das insbesondere den Kommunen helfen würde, vor Ort über Investitionen Arbeit zu schaffen, und zwar nicht kreditfinanziert, sondern indem die Kassen der Gemeinden stärker gefüllt werden, wie wir es alle wollen. ({11}) Es ist natürlich auch keine Frage, dass im Bereich der Innovationen das Thema Technologieentwicklung eine große Rolle spielt. Auf diesem Gebiet müssen wir auch mehr tun; darüber gibt es Konsens, hoffentlich auch im Parlament. Aber darüber hinaus geht es um die Frage, welche Maßnahmen wir am Arbeitsmarkt einleiten. Wir haben zu Recht gesagt: Wir setzen jetzt Hartz III und IV um. Es ist zutreffend, dass über den richtigen Weg gestritten wird, aber ich halte es auch für notwendig, dass wir hier vor allen Dingen diejenigen zur Verantwortung ziehen, die etwas versprochen haben. Das gilt insbesondere für die Wirtschaft im Zusammenhang mit den Ausbildungsplätzen. Natürlich sind Reformen notwendig - wir leiten sie ein -; aber die Wirtschaft hat im Rahmen des Bündnisses für Arbeit versprochen, genügend Ausbildungsplätze zu schaffen. Jetzt ist die Wirtschaft an der Reihe, genau diese Ausbildungsplätze einzurichten, damit die Jugendlichen eine Zukunftschance haben. Was ist das Wort der Wirtschaft wert, wenn sie dies im Bündnis für Arbeit verspricht, es aber im Jahr 2003 nicht realisiert? ({12}) Es ist also notwendig, dass die Wirtschaft die 70 000 Ausbildungsplätze, die zurzeit noch fehlen, in den nächsten Monaten schafft, damit davon ein Signal ausgeht. ({13}) Die Wirtschaft trägt die Verantwortung dafür, dass es in unserem Land qualifizierte Arbeitskräfte gibt. Lassen Sie mich noch etwas zur Frage sagen, was von der Union kommt. ({14}) Karin Roth ({15}) Interessant ist, was alles bei der CDU/CSU diskutiert und überlegt wird. Ich greife nur einen Punkt heraus, die kurzfristige Kürzung des Arbeitslosengeldes um 25 Prozent.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie können nur noch einen Schlusssatz sagen.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch dies gehört zu den Maßnahmen, mit denen vorgegeben wird, es werde sich etwas ändern. Interessant ist aber, dass Herr Merz, der heute nicht da ist, ({0}) diesen Punkt schon wieder zurückgenommen hat. Man darf darauf gespannt sein, ob von der Union mehr Rhetorik oder mehr Vorschläge kommen. Wir zählen auf Ihre Vorschläge, werden aber fortdauernd prüfen, ob Sie Ihre Vorschläge am Ende im Bundesrat mit uns gemeinsam umsetzen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Schauerte.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Roth, ein bisschen Logik ist in dieser Debatte schon vonnöten; danach werde ich mich mit dieser Art der Argumentation nicht mehr weiter befassen. ({0}) Sie haben gerade gesagt, in der Schlussphase der Regierung von Helmut Kohl hätten wir ein Wachstum von mehr als 3 Prozent und zugleich eine hohe Arbeitslosigkeit gehabt. Das ist wahr. Das Wachstum zog an und wir waren guten Mutes, damit die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen zu können. ({1}) Aufgrund dessen, was Sie in den letzten fünf Jahren geleistet haben, haben wir heute Nullwachstum und wachsende Arbeitslosigkeit, während sie vor 1998 abnahm. Was soll also Ihre Aussage? In Ihrer Argumentation sollten Sie wenigstens logisch sein. Die Lage in Deutschland ist unglaublich ernst. Unsere gemeinsame Sorge muss es sein, ob die bisher vorgelegten Konzepte überhaupt dem Ernst der Lage gerecht werden können. Wir sind die Industrienation, in der die jungen Leute am spätesten in den Beruf gehen, in der die älteren Mitarbeiter am frühesten in die Rente gehen und in der es die kürzeste Tages-, Wochen- und Jahresarbeitszeit gibt. ({2}) Auf dieses Problem haben Sie bisher keine wirklichen Antworten gegeben. Die einzige Antwort, Herr Brandner, die die IG Metall für den Teil unseres Vaterlandes gibt, in dem die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, besagt, auch dort endlich die Arbeitszeit auf 35 Stunden zu verkürzen. Ich prophezeie Ihnen eines: Wir werden über kurz oder lang darüber nachdenken müssen, ob wir nicht gemeinsam die Arbeitszeit verlängern, um unsere Probleme verkleinern zu können. Durch die fortgesetzte Verkürzung der Arbeitszeit ist ein wesentlicher Teil unserer Probleme entstanden, weil die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft im internationalen Vergleich kaputtgegangen ist. Darüber werden wir also noch reden müssen. Ich hätte von der Bundesregierung gern etwas dazu gehört, ob sie die Entwicklung hin zur 35-Stunden-Woche in den neuen Ländern begrüßt und als einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ansieht oder nicht. Wenn es richtig wäre, dass die Verkürzung der Arbeitszeit zum Abbau der Arbeitslosigkeit beiträgt, Herr Andres, dann kämen Sie nicht darum herum, die Arbeitszeit in Deutschland generell zu verkürzen. Davor scheuen Sie zurück, weil Sie wissen, dass es falsch ist. So falsch es aber für ganz Deutschland wäre, so falsch ist es auch für die neuen Länder, was dort jetzt geschieht. Dagegen müsste die Bundesregierung etwas unternehmen. ({3}) Das Dilemma der SPD ist folgendes: Mit dem wenigen, was sie auf den Weg bringt, hat sie bereits existenzielle Probleme, es überhaupt bei sich durchzusetzen. ({4}) Wie eine widerspenstige Selbsterfahrungsgruppe geht die SPD im Moment vor. Obwohl die Probleme täglich schneller als unsere Lösungsansätze wachsen, richtet die SPD Selbsterfahrungsgruppen ein, um die Widerspenstigen in dieser Partei zähmen zu können. Wissen Sie aber, welches Problem Sie am Ende haben werden? Sie werden das wenige unter Aufbietung aller Disziplinierungskräfte durchsetzen und Ihre unvernünftigen Mitglieder zur Räson bringen. Dann werden Sie feststellen, dass die Probleme weiter wachsen, weil Sie nicht weit genug gegangen sind. Dann aber sind Sie fertig; denn zweimal oder dreimal können Sie eine solche existenzielle Disziplinierung Ihren Mitgliedern und Ihren Gewerkschaften und Herrn Brandner nicht zumuten. ({5}) Das ist Ihr Problem, zugleich aber unsere Sorge. ({6}) - Ich verstehe nicht, wie jemand von der SPD sagen kann, unsere beiden Parteien hätten ein Problem, sich zu verständigen. Wir haben uns mühelos im leichten DurchHartmut Schauerte gang auf eine einvernehmliche Linie geeinigt. Sie, die Sie in der Verantwortung für Entscheidungen stehen, haben sich bis heute nicht geeinigt, haben bis heute keine Mehrheit und wissen nicht, wohin die Reise geht. ({7}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch etwas über die Rolle der Opposition sagen. Im Moment ist der Marienmonat Mai. Sie müssten eigentlich den ganzen Tag ({8}) Kerzen für die Mutter Gottes anstecken, und zwar aus Dankbarkeit, dass Sie eine Opposition haben, die Ihren Kurs im Grundsatz will. So etwas hatten wir in Deutschland noch nie. Wir sagen: Im Grundsatz gehen die Schritte in die richtige Richtung. Wir streiten uns äußerstenfalls über die Menge und sind der Meinung, dass das, was ihr tut, nicht genug ist. Solch eine Opposition hätte ich mir für die CDU vor Jahren gewünscht. ({9}) Wir bleiben konsequent auf Kurs. Wir legen bei jedem Reformpaket mehr vor, als Sie zu machen bereit sind. ({10}) Jetzt wird eins nach dem anderen abgearbeitet. Wir sind im Arbeitsmarkt weiter. Warum bewegen Sie sich nicht? Ein Thema sind die Bündnisse für Arbeit. Warum sollen Betriebe miteinander nicht vernünftige Regelungen in bestimmten Korridoren finden können, um Arbeitsplätze zu sichern? ({11}) Das lehnen Sie konsequent ab. Wenn Sie sich bei solchen Kleinigkeiten nicht bewegen, dann reichen Ihre Rezepturen nicht aus und Sie werden vor der nächsten Reformhürde stehen und sie reißen. Wir kommen in Deutschland nicht weiter, unseren Arbeitslosen wird nicht geholfen und unseren Jugendlichen wird keine Perspektive gegeben. Sie stehen in der Verantwortung. Tun Sie etwas! Sie haben eine höchst vernünftige Opposition. Die hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in dieser Klarheit noch nicht gegeben. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Hoffmann.

Walter Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003150, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der letzte Redner hat einige Vorteile. Ein Vorteil besteht darin, dass man auf die eine oder andere Sache eingehen kann und niemand anders Gelegenheit hat, noch einmal darauf zu antworten. Das Thema ist - das wissen wir alle - fürchterlich ernst. Ich finde es wenig konstruktiv - ich sage das noch sehr nett -, wenn einzelne Kollegen unter uns mit Begriffen bezeichnet werden, die weder in der Sache weiterhelfen noch ein stilvoller Beitrag in der Diskussion sind. ({0}) - Ich habe gedacht, Sie würden schweigen. - Wenn man zum Beispiel sagt, der Kollege Brandner kenne sich mit Promille besser aus ({1}) - nein, das war Herr Fuchs -, oder wenn man die politischen Gegner als „Konsorten“ bezeichnet, dann ist das ein schlechter und übler Stil. ({2}) Ich habe mir das notiert. Wir sollten nicht in diesen Stil verfallen. Dazu ist das Thema insgesamt zu ernst. Die Menschen draußen schauen schon sorgfältig, welche konkreten Forderungen man stellt und in welcher Form und in welchem Stil man sich mit dem Thema auseinander setzt. ({3}) Zweite Anmerkung: Es ist das Stichwort „Pappkameraden“ gefallen. Herr Niebel, es führt nicht weiter, ständig irgendwelche Pappkameraden aufzubauen, um anschließend darauf zu klopfen. Ich habe sorgfältig notiert, welche Vorschläge Sie machen. Sie fordern eine Reform der Bundesanstalt für Arbeit, Sie fordern Jobcenter, die in Kooperation mit Sozialämtern tätig werden sollen. Sie wissen doch ganz genau, dass in der dritten und vierten Stufe des Hartz-Konzepts exakt dies vorgesehen ist. ({4}) Es gibt schriftliche Erklärungen und Erläuterungen, in denen das alles bekannt gemacht worden ist. Nun bauen Sie einen Popanz auf und tun so, als ob das etwas Neues wäre. Auch das ist kein konstruktiver Beitrag. ({5}) Frau Lengsfeld, ich komme aus einem westlichen Bundesland. Aber eine Äußerung von Ihnen hat mich seltsam berührt. ({6}) Man kann Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewerten, wie man will. Jeder hier im Raum hat eine kritische Grundeinstellung zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Nach meinen Informationen nimmt die Zahl der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den westlichen Ländern sowieso, aber auch in den östlichen Bundesländern tenden3550 Walter Hoffmann ({7}) ziell ab. Aber die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als eine mit Westgeld subventionierte Form des Sozialismus zu bezeichnen empfinde ich gegenüber vielen betroffenen Menschen, die keine andere Chance haben, als in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tätig zu werden, schlicht und ergreifend ein Stück weit arrogant. ({8}) Herr Fuchtel und auch meine Vorgängerin haben eine Gruppe angesprochen, die uns in der Tat große Sorgen bereitet und von der wir meinen, dass wir sie stärker in unsere Aktivitäten einbeziehen müssen. Es ist richtig, dass es die sehr hohe Zahl von mehr als 500 000 jungen Arbeitslosen gibt. Eine ähnlich schwierige Situation stellt sich zurzeit auf dem Lehrstellenmarkt dar. Ich denke, dass wir - weil die Agenda 2010 erst im zweiten Halbjahr im Gesetzgebungsverfahren diskutiert bzw. beschlossen wird - unsere Aktivitäten besonders auf diese Personengruppen konzentrieren müssen. Weil wir heute viel Kritik austauschen, möchte ich aber auch einen Bereich erwähnen, in dem es uns gerade in den vergangenen Tagen zum Teil gemeinsam gelungen ist, positive Akzente zu setzen. Ihnen allen ist die Diskussion über behinderte und benachteiligte Jugendliche bekannt. Im Januar und Februar war die Situation in diesem Land extrem schwierig, weil viele junge Menschen sich an die Bundesanstalt für Arbeit wandten, weil sie einen Job oder eine berufsvorbereitende Maßnahme suchten oder in einer Werkstätte unterkommen wollten. Die Bundesanstalt konnte diesen jungen Menschen aber keine Zusage geben. Es gab daraufhin im ganzen Land Proteste, Demonstrationen und heftige Auseinandersetzungen. Behinderte gingen auf die Straße und erkämpften ihr Recht auch ein Stück weit. Ich denke, es ist für uns alle ein Erfolg, dass kurz vor Ostern zunächst die Bundesanstalt für Arbeit, aber dann auch der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister klar und eindeutig festgestellt haben, dass die betroffenen Behinderten - sowohl die Benachteiligten als auch die Behinderten - im zweiten Halbjahr ein akzeptables Angebot erhalten werden. Das Förderniveau soll, wie es heißt, mindestens auf dem Niveau des Vorjahres verbleiben. Alle Sparmaßnahmen, die aufgrund bestimmter Voraussetzungen drohten, sind zurückgenommen worden. Die zentrale Bewirtschaftung der Mittel ist aufgehoben worden, sodass im Ergebnis jeder einen Ausbildungsbzw. einen Arbeitsplatz bekommt oder an einer konkreten berufsvorbereitenden Maßnahme teilnehmen kann. Das ist ein kleiner, aber entscheidender und wichtiger Beitrag zu einer verbesserten Arbeitsmarktsituation besonders für junge Menschen im zweiten Halbjahr. Ich denke, darüber können wir alle froh sein. Wenn es uns gelingt, in Verbindung mit der Realisierung der Rahmenbedingungen, die uns allen bekannt sind, auch in anderen Bereichen die Kooperation zu verbessern und einen Ausbildungskonsens zu erreichen, dann gehen wir, denke ich, auch positiveren Zeiten entgegen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf: 5. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Der europäischen Verfassung Gestalt geben Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren vereinfachen - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung - Drucksachen 15/548, 15/577, 15/950 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Roth ({1}) Anna Lührmann ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europäische Union - Drucksache 15/918 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Bahr ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheits- und VerteidigungsUnion ({4}) über den Europäischen Verfassungskonvent vorantreiben - Drucksache 15/942 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Herr Staatsminister Bury. Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Bundestagsdebatte zur europäischen Verfassung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt: Am 24. April hat das Präsidium seine Vorschläge für die zentralen institutionellen Artikel der künftigen europäischen Verfassung vorgestellt. In wenigen Tagen - am 15. und 16. Mai - wird der Konvent darüber beraten. Die Bundesregierung hält den vom Präsidium vorgestellten Entwurf insgesamt für eine gute Grundlage für die weiteren Arbeiten, auch wenn wir im Einzelnen durchaus Verbesserungsbedarf sehen. Europa ist eine Erfolgsgeschichte: In 50 Jahren hat sich die Wirtschaftsgemeinschaft der sechs schrittweise zur politischen Union der 25 entwickelt. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass die Union nicht an ihrem eigenen Erfolg scheitert, sondern auch mit 25 und mehr ihre Handlungsfähigkeit bewahrt. Ein wichtiger Indikator für das Zusammenwachsen der Union ist, dass sich der Konvent schon sehr früh darauf geeinigt hat, die Grundrechte-Charta als rechtsverbindlichen Teil in die Verfassung zu integrieren. Damit gibt sich die Union eine Werteordnung, die die Würde des Menschen als unantastbare Grundlage festschreibt und die neben dem Bekenntnis zu liberalen Freiheitsrechten auch soziale Rechte und Gleichheitsrechte enthält. ({6}) Diese gemeinsamen europäischen Grundwerte werden es uns erleichtern, auch in Zeiten der Globalisierung das europäische Sozialmodell zu verteidigen und uns weltweit für nachhaltige Entwicklung in ihrer wirtschaftlichen, sozialen und umweltpolitischen Dimension einzusetzen. Die Irakkrise und die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt: Wir brauchen mehr Europa. Wir müssen Strukturen, in denen wir als Europäer unseren politischen Willen gemeinsam bilden können, und Mechanismen entwickeln, mit denen wir den europäischen Werten und Überzeugungen Geltung verschaffen, und zwar sowohl in Europa als auch darüber hinaus. Deshalb setzen wir uns für das Amt eines europäischen Außenministers ein, der der Außenpolitik der Union Gesicht und Stimme geben und der für eine gemeinsame europäische Außenpolitik Sorge tragen soll. Schon allein die Tatsache, dieses neue Amt im Verfassungsentwurf verankert zu haben - wir hoffen auf einen Konsens im Konvent -, ist ein großer Erfolg der Konventsmethode und der Konventsarbeit. Durch mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit und die Verpflichtung zur Abstimmung außenpolitischer Positionen sollen die Grundlagen für einheitliches außenpolitisches Handeln geschaffen werden. Dazu gehört auch eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, dass die Antwort auf die Irakkrise nicht weniger Amerika, sondern mehr Europa lautet. ({7}) Wir müssen unsere eigenen Fähigkeiten verbessern, um im Sinne wirklicher Partnerschaft den europäischen Pfeiler des transatlantischen Bündnisses zu stärken. Mit dem Vorschlag des Vierergipfels knüpfen wir an frühere Initiativen Frankreichs, Deutschlands, aber auch Großbritanniens an. Wir wollen das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit in der europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik nutzen, damit eine Avantgarde die Integration auch in diesem Bereich vorantreibt, und zwar nicht als Closedshop, also nicht in einem exklusiven, sondern in einem offenen Prozess, an dem sich alle heutigen und zukünftigen Mitgliedstaaten der EU beteiligen können. Ich bin sicher - das bestätigen zahlreiche Gespräche, nicht zuletzt diejenigen, die vor wenigen Tagen beim informellen Außenministertreffen geführt worden sind -, dass sich viele beteiligen werden, dass die Attraktivität dieses Modells hoch ist. Um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union dauerhaft zu gewährleisten, muss das institutionelle Dreieck - Parlament, Rat und Kommission - insgesamt gestärkt und sein Gleichgewicht erhalten werden. Wir begrüßen deshalb den Vorschlag des Präsidiums, das Mitentscheidungsverfahren, in dem Rat und Parlament gleichberechtigte Gesetzgeber der Europäischen Union sind, zum Regelfall europäischer Gesetzgebung zu machen. Nicht zuletzt im Bereich Justiz und Inneres haben wir im Konvent bereits erstaunliche Fortschritte erzielt. Besonders wichtig ist uns die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament. ({8}) Das würde die Kommission stärken und ihre demokratische Legitimation verbessern. Wichtig ist aber auch: Wenn sich die Europawahlen sichtbar auf die personelle Besetzung dieser zentralen europäischen Institution auswirken, dann wird dies das europapolitische Interesse der Bürgerinnen und Bürger stärken. Wahl und Übernahme politischer Verantwortung werden so untrennbar miteinander verknüpft. Deshalb sollte der Europäische Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa Rat auch nicht alleine, wie im Präsidiumsentwurf vorgesehen, den Kandidaten vorschlagen. Wir haben angeregt, dass eine von Europäischem Parlament und Europäischem Rat paritätisch besetzte Findungskommission im Lichte der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten benennt, dass das Parlament sie oder ihn mit der Mehrheit seiner Mitglieder wählt und dass der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit bestätigt. Als Hüterin der Verträge und Vertreterin des europäischen Gesamtinteresses ist die Kommission in einem erweiterten Europa wichtiger denn je. Ihre Stärkung ist daher ein wesentliches Ziel unserer Arbeit im Konvent. Wir begrüßen, dass der Präsidiumsvorschlag die Begrenzung der Zahl der Kommissare auf 15 vorsieht, ({9}) unterstützt von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ({10}) aber auch von delegierten Mitgliedern, um die Funktionsfähigkeit der Kommission als Kollegium zu erhalten. Auch die Beneluxstaaten haben diesem Vorschlag in der Zwischenzeit zugestimmt. Wichtig ist uns auch das ausschließliche Initiativrecht der Kommission, abgesehen von wenigen Ausnahmen im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und in der Außenpolitik. Als Vertretung der Staaten auf europäischer Ebene wird der Ministerrat weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Er muss durch die Ausweitung der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit jedoch effektiver arbeiten. Mit der Vereinfachung der Instrumente und der Annäherung an innerstaatliche Gesetzgebungsverfahren erhöhen wir die Transparenz europäischen Handelns und damit die Bürgernähe der Europäischen Union. Die Gesetzgebungsarbeit soll in Zukunft ein Legislativrat leisten, der, wie die zweite Kammer in föderalen Staaten, öffentlich tagt. ({11}) Ein dauerhafter Vorsitzender des Europäischen Rates - Sie wissen, dass das für einige unserer Partner für eine Einigung entscheidend ist - soll schließlich die Kontinuität der europäischen Politik verbessern. Für uns ist dabei eine klare Abgrenzung zu den Aufgaben der Kommission und zu denen ihres Präsidenten erforderlich, um die erwähnte Balance im institutionellen Dreieck zu wahren. In wenigen Wochen soll der Konvent den Staats- und Regierungschefs einen Verfassungsentwurf vorlegen. Ich bin der Meinung, dass wir den vorgesehenen Zeitplan unbedingt einhalten sollten. Nur so kann der Einigungsdruck aufrechterhalten werden und nur so können wir das Momentum der Konventsarbeit nutzen. Wir haben bereits beachtliche Fortschritte erzielt. Ich bin überzeugt: Wir können in dieser Zeit und unter diesem Einigungsdruck echte Fortschritte erzielen. Auch die anschließende Regierungskonferenz sollte kurz sein und sich nicht wieder in Detaildiskussionen verlieren. Wir - ich sage das in dieser Debatte als Regierungsvertreter - haben unsere Erfahrungen mit Regierungskonferenzen. Ich glaube, dass uns der Konvent einen entscheidenden Schritt weiterbringt. Aus diesem Grunde haben wir die Konventsmethode als Regelverfahren für künftige Verfassungsänderungen vorgeschlagen. ({12}) Selbst wenn wir eine hervorragende Arbeit abliefern - ich hoffe, dass wir das tun werden -, wird der fortschreitende Integrationsprozess auch in der Zukunft Verfassungsänderungen notwendig machen. Wir sollten dann auf dieses sich gerade bewährende Verfahren zurückgreifen. Deutschland und Frankreich haben mit gemeinsamen Initiativen immer wieder Brücken zwischen eher intergouvernemental und eher integrationistisch ausgerichteten und argumentierenden Mitgliedern dieses Konvents gebaut. Viele kleinere Mitgliedstaaten sehen uns in der entscheidenden Rolle, Brücken zwischen Großen und Kleinen zu bauen. Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst und wir nehmen sie gern wahr. Alle Beteiligten, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden für den Konsens über ihren Schatten springen müssen - in die Sonne eines vereinten Europas, eines Europas der Freiheit, der Sicherheit und der Solidarität. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich möchte im Namen von uns allen auf der Tribüne Professor Meyer, unseren früheren Kollegen, begrüßen. Er hat die Ehre und die große Aufgabe, uns in dieser Frage im Verfassungskonvent zu vertreten. ({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Peter Hintze. ({1})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mitten in die Schlussphase der Konventsberatungen hinein hat die Bundesregierung als Teilnehmer am so genannten Pralinengipfel in Brüssel ein schweres Risiko in Kauf genommen: Europa in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu spalten. Ich möchte deswegen zu Beginn unserer Debatte sagen: Statt ein geschlossenes Treffen der USA-Kritiker zum Thema „europäische Verteidigung“ durchzuführen, wäre es besser gewesen, ein offenes Treffen aller NATO-Freunde in der EU zu organisieren. ({0}) Für uns in der CDU/CSU ist klar: Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss in gutem Einverständnis mit der NATO stattfinden und für alle offen sein, die mitwirken wollen. ({1}) Deshalb wollen wir in der europäischen Verfassung die rechtlichen Voraussetzungen für die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik verbessern. Dazu gehört erstens die Aufnahme einer Beistandsklausel, die dem Art. V des WEU-Vertrages entspricht. Ob bei terroristischer oder militärischer Bedrohung: Europa muss bei der Gefährdung seiner Sicherheit zusammenstehen. Zweitens. Der Weg zu einer europäischen Armee wird über die Methode der verstärkten Zusammenarbeit zu erschließen sein, die auch für die Verteidigungspolitik in der neuen Verfassung ermöglicht werden muss. Drittens. In den Fragen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik brauchen wir eine Einigungsklausel, die alle Mitgliedstaaten verpflichtet, in Fragen der Außenpolitik der Europäischen Union eine Einigungschance zu geben, bevor nationale Festlegungen erfolgen. Hätten wir in der Irakkrise eine solche Einigungsklausel gehabt, wäre uns vielleicht die deutsche Vorfestlegung auf dem Marktplatz von Goslar erspart geblieben. ({2}) Neben einem verbesserten Regelwerk brauchen wir auch handlungsfähigere Institutionen. So braucht Europa einen europäischen Außenminister, eine Stimme, die Europa vertritt, die für Europa spricht und die für Europa handeln kann. Schon der Hohe Beauftragte, Javier Solana, hat trotz aller Beschränkungen seines Amtes bewiesen, was man in der Außenpolitik für Europa und die Völkergemeinschaft tun kann. Daran kann man anknüpfen. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ will wissen, dass sich Bundesminister Fischer Hoffnungen auf dieses europäische Spitzenamt macht. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er diesen Wunsch hat und nach den EU-Sternen greift. ({3}) Ob dabei die Dokumentation des dänischen Fernsehens über die Differenz von öffentlichen und persönlichen Aussagen von Minister Fischer zum Türkeibeitritt hilfreich ist, wird sich zeigen. ({4}) Vom zukünftigen europäischen Außenminister erwarte ich jedenfalls zwei Fähigkeiten: zum einen integrativ nach innen zu wirken und zum anderen gute und faire Beziehungen zu Europas wichtigstem Bündnispartner in der Welt, den USA, zu pflegen. Wenn er mit solchen Fähigkeiten ausgestattet ist, wird Außenpolitik, denke ich, für Europa gut. ({5}) Jeder mag beurteilen, ob das von dem vom „Spiegel“ ins Gespräch gebrachten Kandidaten abgedeckt wird. In der Europapolitik gibt es eine Diskussion darüber, ob die Einigung auf die Inhalte oder ob die Form der Entscheidungsfindung von größerer Bedeutung ist. Ich will zum Verhältnis von Form und Inhalt die These aufstellen, dass faire und transparente Entscheidungsverfahren die Erzielung richtiger Ergebnisse begünstigen. Deshalb kommt in der europäischen Verfassung der Ausgestaltung der EU-Institutionen und ihrer Ausbalancierung untereinander allerhöchste Bedeutung zu. Insgesamt brauchen wir eine Parlamentarisierung der Europäischen Union. ({6}) Die Kammer der Bürger, das Europäische Parlament, muss gestärkt werden. Die Kammer der Nationen, der Rat, muss als Gesetzgeber öffentlich und in fester Zusammensetzung tagen. Viele Menschen beschwert beim Thema Europa, dass sie sich ohne Einfluss fühlen. Deswegen sollen nach unserem Willen die Bürger in Europa über die Wahl des Europäischen Parlaments entscheidenden Einfluss auf den Gang der Dinge bekommen. Deshalb muss das Europäische Parlament in Zukunft das Recht bekommen, den Kommissionspräsidenten mit Mehrheit zu wählen. Der jüngste Vorschlag vom deutschen Regierungsvertreter im Konvent, Minister Fischer, birgt dagegen die Gefahr einer veritablen Verfassungskrise in sich. Laut diesem Vorschlag soll nämlich nach der Wahl des Präsidenten der EU-Kommission durch das Europäische Parlament der vom Parlament Gewählte nur dann ins Amt kommen, wenn ihn der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit ernennt. ({7}) Wir wollen demgegenüber, dass allein die parlamentarische Mehrheit im Europäischen Parlament über den Chef der europäischen Exekutive bestimmt. Für den Wahlvorschlag muss das Ergebnis der Europawahl - nichts anderes - ausschlaggebend sein. Nur so bekommen die Bürger Einfluss auf den Gang der Dinge in Europa. ({8}) Wie bei uns der Bundespräsident so sollte in Europa der Europäische Rat lediglich eine Notarfunktion bei seinem Wahlvorschlag an das Europäische Parlament wahrnehmen. Dazu bedarf es keiner neuen Findungskommission. Ich denke, die Vorschläge des deutschen Regierungsvertreters im Konvent müssen noch einmal gründlich bedacht und besprochen werden. ({9}) - Das Allerbeste wäre - ich greife den Zwischenruf des Kollegen Hoyer auf -: ohne längere Debatte vom Tisch. Nun zur Arbeit des Europäischen Rates: Die Schaffung des Amtes eines hauptamtlichen Ratspräsidenten mit eigenem Verwaltungsunterbau würde zu beachtlichen Reibungsverlusten führen und dieser stünde in Dauerkonkurrenz zum Kommissionspräsidenten. Deshalb brauchen wir für den Europäischen Rat eine schlanke Vorsitzlösung. Etwas mehr Kontinuität ist in Ordnung, ein Super-Ratspräsident wäre zum Nachteil Europas. Das würde mehr kosten, mehr Intransparenz hervorrufen und wenig effizient sein. Deswegen sollten auch diese Überlegungen möglichst rasch wieder vom Tisch. ({10}) Mit der Verfassung wollen wir Europa bürgernäher, effizienter und demokratischer gestalten. Hierfür haben wir den bestmöglichen Weg gewählt. Die Europäische Union versteht sich ja nicht nur als Union der Staaten, sondern auch als Union der Bürgerinnen und Bürger. Deshalb war es gut, dass wir die Erarbeitung der Verfassung nicht in die Hände von hinter verschlossenen Türen tagenden Regierungen gelegt haben, sondern zu einer Angelegenheit der Parlamentarier und des Konvents gemacht haben, in dem die Vertreter der Parlamente und Regierungen und auch die der Beitrittsländer ihre Gedanken und Überlegungen mit einbringen und diskutieren können. Nie war Europa parlamentarischer und nie wieder darf es ein Zurück in den vorparlamentarischen Zustand in Europa geben, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({11}) Unser Dank gilt unseren Vertretern im Konvent. Der auf der Besuchertribüne wurde schon besonders begrüßt; es kam schon Neid bei den Kollegen auf, die noch dem Deutschen Bundestag angehören, weil sie nicht einzeln von der Präsidentin begrüßt wurden. Ich möchte außerdem Erwin Teufel, Peter Altmaier, Elmar Brok und Joachim Wuermeling nennen, die im Konvent eine hervorragende Arbeit für unsere Parteienfamilie leisten. ({12}) Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Zugleich bestimmen ihre Regeln unser Zusammenleben in immer größerem Maße. Deshalb gehört für mich die bereits erarbeitete Grundrechte-Charta zwingend an den Anfang unserer europäischen Verfassung, und zwar in vollem Wortlaut. ({13}) Damit verbunden ist auch die Aussage - es handelt sich nicht nur um die rechtliche Frage, ob sie im Protokoll die gleiche Wirkung entfalten könne -, dass wir uns mit den Grundrechten zu den fundamentalen Menschen- und Bürgerrechten als den Errungenschaften unserer christlich geprägten abendländischen Zivilisation bekennen. Sie sind Leitidee und der Maßstab europäischen Handelns. Deswegen gehört die Charta an den Anfang unserer europäischen Verfassung. ({14}) Für mich gehört auch ein klares Bekenntnis zu unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen an den Anfang der europäischen Verfassung. Die Präambel unseres Grundgesetzes bietet hierfür ein exzellentes Vorbild. ({15}) Für uns muss der Grundsatz der Subsidiarität, das heißt die Wahrung der Eigenverantwortung von Bürgern, Kommunen, Regionen und Mitgliedstaaten, wo immer hierdurch bessere Ergebnisse garantiert werden, gesichert werden. Die Kompetenzen Europas dürfen nicht aus allgemeinen Zielvorgaben abgeleitet werden, sondern müssen sich auf konkrete Einzelermächtigungen gründen. Nach unserem Verständnis gehört dazu auch, dass die Überprüfung der Einhaltung des Grundsatzes der Subsidiarität durch die zuständigen Institutionen der Mitgliedstaaten kritisch begleitet werden kann. Wir fordern deshalb, dass regionale Gesetzgebungskörperschaften, wie bei uns die Bundesländer, aber auch Bundesrat und Bundestag, Verstöße gegen die Subsidiaritätsgrundsätze vor dem EuGH in eigener Verantwortung rügen können. Wo die Verwaltung auf niedrigen, bürgernahen Ebenen besser handelt, muss sie weiter zuständig bleiben. Diese Ebenen müssen auch ihr Recht vor dem Europäischen Gerichtshof einfordern können, wenn sie einen Verstoß gegen diese Grundsätze feststellen. Meine Damen und Herren, wenn wir von der Parlamentarisierung der Europäischen Union sprechen, müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir uns als Deutscher Bundestag im Prozess der europäischen Rechtsetzung einbringen. Bei der Ratifizierung der europäischen Verfassung durch den Deutschen Bundestag werden wir auch über eine wirksamere Beteiligung des deutschen Parlaments bei der Kontrolle der deutschen Vertreter im Ministerrat zu reden haben. ({16}) Das ist nicht nur ein allgemeiner Grundsatz, der in diesem Hause vom Kollegen Müller schon oft und zu Recht erhoben wurde. In diesen Tagen wird wieder deutlich, wie aktuell das ist. Es kann nicht sein, dass wir in zentralen Fragen eine große innenpolitische Auseinandersetzung führen - denken wir an die Themen Asylrecht und Zuwanderung - und dass dann der deutsche Innenminister in der Lage ist, Bundestag und Bundesrat über Europa auszuhebeln, ohne dass wir Gelegenheit haben, uns parlamentarisch zu äußern oder die Regierung festzulegen. ({17}) Deswegen wollen wir Art. 23 des Grundgesetzes vor der Ratifizierung der europäischen Verfassung so ändern, dass der Bundestag bei zentralen europäischen Entscheidungen und Gesetzgebungsvorhaben besser als bisher beteiligt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erarbeitung einer europäischen Verfassung durch den Konvent ist ein epochales Ereignis in der Geschichte der Europäischen Union. Zum ersten Mal geben sich die Staaten Europas eine Verfassung, die auf gemeinsamen Werten menschlichen Zusammenlebens beruht und den Geist von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit atmet. Wir haben die große Chance, für die Europäische Union eine eigene Identität zu schaffen, die weit über den gemeinsamen Markt hinausreicht. Das Ziel muss eine starke Europäische Union sein, mit der wir die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit und der Zukunft annehmen können. Ich danke Ihnen. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anna Lührmann, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das war ja ein ganz schöner Schock, den uns Konventspräsident Giscard d’Estaing kurz nach Ostern versetzt hat, schenkte er uns allen doch ziemlich faule Ostereier. Der Vorschlag, mit dem er in die Präsidiumssitzung gegangen war, ließ den Integrationsfreunden in Europa das Herz in die Hose rutschen. Da war es wieder, das alte Europa, das alte Europa der Intransparenz, des Demokratiedefizits und der Dominanz der großen Staaten. Ich habe mich gefragt: Hat da vielleicht jemand die Konventsdebatten der letzten 14 Monate verschlafen? Der Konvent ist schließlich angetreten, um genau dieses alte Europa zu beenden. Das Ziel ist ein neues Europa, ein Europa der Demokratie, ein Europa der Bürgernähe, ein Europa, das für jede Bürgerin und für jeden Bürger verständlich ist und das die Probleme des 21. Jahrhunderts effektiv löst. ({0}) Wir müssen uns alle beim Präsidium des Konvents bedanken, dass die Vorschläge des Konventspräsidenten nicht eins zu eins übernommen worden sind. Die Artikelentwürfe, die dem Konvent jetzt vorgelegt worden sind, sind weit besser als Giscard d’Estaings ursprüngliche Ideen. Leider blieben aber auch einige seiner Vorschläge erhalten. Besonders die vom Präsidium vorgeschlagene Machtverteilung zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament muss verändert werden. Im Verhältnis dieser beiden Gremien zueinander entscheidet sich nämlich die Machtfrage in Europa: Wer hat das Sagen in Europa oder soll es haben: die Diplomaten der Regierungen oder die gewählten Repräsentanten der Bürgerinnen und Bürger? Ich würde mir wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr Einfluss bekommen, als es im Entwurf des Präsidiums vorgesehen ist. Das Präsidium schlägt nämlich eine Stärkung des Europäischen Rates vor. So würden die Staats- und Regierungsvertreter ihren Einfluss weiter ausbauen. Der Europäische Rat ist bislang als Impulsgeber der EU definiert. Er soll sozusagen die allgemeinen politischen Zielsetzungen festlegen. Aber natürlich wissen wir alle hier, dass diese harmlos klingenden Worte in Art. 4 des EUVertrages in der Praxis ganz andere Auswirkungen haben. Der Europäische Rat hat sich zu einer Art Superrevisionsinstanz für alle Räte entwickelt. Wenn ein Fachrat in einer wichtigen Frage nicht mehr weiterweiß, dann müssen die Chefs im Europäischen Rat ran. Formell hat der Europäische Rat zwar keine Gesetzgebungsbefugnis, aber da die Fachräte die Entscheidung hinterher einfach nachvollziehen, ist das doch eher eine unheilvolle Ausweitung seiner Rechte. In „Package Deals“ werden dann - wie auf dem Basar inhaltliche Zugeständnisse gegen Posten und nationale Sonderregelungen getauscht. Das alles geschieht wie zuletzt in Nizza in Nächten der langen Messer unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Heraus kommen skurrile Ergebnisse, die den Bürgerinnen und Bürgern überhaupt nicht zu vermitteln sind. Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Beim letzten Europäischen Rat in Brüssel kümmerten sich die Chefs um die Zinsbesteuerung, weil vorher der Ecofin-Rat zu keiner Einigung gekommen war. Das drohende Veto eines Mitgliedstaates konnte erst in letzter Minute durch ein völlig sachfremdes Zugeständnis bei der Milchquote erkauft werden. So sieht im Moment die traurige Realität des Europäischen Rates aus. Deshalb frage ich mich, warum der Präsident des Europäischen Verfassungskonvents, Giscard d'Estaing, dieses Gremium auch noch stärken möchte. ({1}) Denn die Vorschläge des Präsidiums sehen dauerhaft einen Präsidenten des Europäischen Rates vor, bei dem es sich um einen ehemaligen Staats- oder Regierungschef handeln soll, der sein Amt Vollzeit ausüben soll. Außerdem wünscht Giscard d’Estaing neben diesem einen Präsidenten auch noch drei Präsidiumsmitglieder. Dann hätten wir vier Politiker, die für das alte Europa der Intransparenz und der mangelnden Demokratie arbeiten. Wir alle hier haben sehr viel Erfahrung im Umgang mit Politikern gesammelt. Wir wissen alle, dass es ein guter Politiker wirklich versteht, so viel Einfluss wie möglich an sich zu reißen. Wer gerät also am meisten in Gefahr, Aufgaben und Ansehen zu verlieren? Das ist der Kommissionspräsident. Aber unserer Meinung nach sollte er es sein, der neben dem europäischen Außenminister die EU nach außen vertritt. Schließlich soll der Kommissionspräsident - Staatsminister Bury hat dies schon erwähnt - in Zukunft derjenige in Europa sein, der die höchste demokratische Legitimation hat. Er soll nämlich vom Europäischen Parlament gewählt werden. So würden sich die Ergebnisse der Europawahl ganz konkret in der Bildung einer europäischen Regierung niederschlagen. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass der Modus zur Wahl des Kommissionspräsidenten verbessert werden soll, auch nach Vorstellung des Präsidiums. Allerdings machen mir auch hier einige Details Sorgen. Ich finde es problematisch, dass der Europäische Rat den Präsidenten der Kommission vorschlagen soll. Viel wichtiger wäre es, dass das Europäische Parlament in allen Bereichen weiter gestärkt wird. Deshalb ist die Ausweitung des Mitentscheidungsrechtes des Parlaments ein sehr guter Vorschlag. Allerdings ist es meiner Meinung nach heikel, dass viele bisherige Kompetenzen des Parlaments in den jetzigen Artikelentwürfen nicht mehr zu finden sind. Beispielsweise fehlt in Art. 15 das Misstrauensvotum oder das Fragerecht des Parlaments. So dünn darf der Artikel über das Europäische Parlament nicht bleiben, wenn wir wirklich mit dem Ziel ernst machen wollen, ein Europa der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten zu schaffen. ({2}) Natürlich soll das Europäische Parlament auch über das politische Leben in Europa debattieren. Ich denke, dafür brauchen wir keinen unnötigen Kongress der Völker. Im gesamten Bereich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik finde ich die Vorschläge des Präsidiums erstaunlich gut. Sie stellen einen sehr großen Schritt nach vorne dar. Die geplante Benennung eines EU-Außenministers ist ein wirklicher Meilenstein in der Außenpolitik. In diesem Punkt stimmen wir alle überein. Das Gleiche gilt auch für das Ziel, die verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Außenpolitik zu nutzen und die Beistandsverpflichtung aus dem WEU-Vertrag in den EU-Rahmen zu überführen. Dies ist eine Forderung, die ich ebenfalls unterstütze. Ich finde es gut, dass jetzt die Grundlagen für eine gemeinsame Verteidigungspolitik geschaffen werden. Denn im Ernst: Alle EU-Staaten - wir erleben das auch in Deutschland - haben Haushaltsprobleme. Wozu brauchen wir angesichts der Sicherheitslage in Europa noch 15 bzw. in Zukunft 25 verschiedene Armeen? Das will mir nicht in den Kopf. Auch wenn wir - das wird aus der Arbeit des Konvents deutlich - vom Aufbau einer gemeinsamen Armee noch weit entfernt sind, so zeigt doch die Entwicklung im Konvent, dass diejenigen falsch liegen, Herr Hintze, die immer wieder behauptet haben oder immer noch behaupten, dass die unterschiedlichen Meinungen der EU-Staaten in der Irakfrage zu einer dauerhaften Spaltung der EU in der Außenpolitik führen werden. ({3}) Im Gegenteil: Europa lernt aus den Fehlern der Vergangenheit und stärkt jetzt die gemeinsame Handlungsfähigkeit. ({4}) Drei Verbesserungsvorschläge für diesen Bereich möchte ich anmerken: Erstens sollten auch Entscheidungen in der Außenpolitik mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. Zweitens sollte das Europäische Parlament an diesem Politikbereich stärker beteiligt werden. Drittens ist es ganz wichtig, dass der europäische Außenminister von einem diplomatischen Dienst unterstützt wird, damit er auch wirklich effizient arbeiten kann. Wirklich gut finde ich übrigens die Pläne für ein europäisches Freiwilligenkorps. Ich weiß nicht, ob Ihnen dieser Vorschlag bei der Lektüre der aktuellen Artikel des Konvents aufgefallen ist. Hier wird vorgeschlagen, dass Jugendliche aus verschiedenen EU-Ländern gemeinsam im Bereich der humanitären Hilfe arbeiten und so hautnah die europäische Solidarität und Identität erleben können. Es gibt viele weitere gute Vorschläge des Präsidiums: Die Strukturen von Ministerrat und Kommission sollen zum Beispiel effizienter werden. Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat sollen ausgeweitet und die Erfordernisse dafür sollen vereinfacht werden. Dies, so denke ich, ist ein sehr großer Integrationsfortschritt, zu dem die Konferenz von Nizza noch nicht bereit war. Allen Unkenrufen zum Trotz zeigt sich jetzt, dass die Konventsmethode erfolgreich ist. Der Konvent hat schon jetzt den Anfang vom Ende des alten Europa eingeläutet. Transparenz und Offenheit sind nämlich erfolgreicher als Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. Insgesamt stimmt mich die aktuelle Diskussion im Konvent sehr optimistisch. Doch die Verfassung ist noch lange nicht fertig. Noch ist nicht hundertprozentig sicher, ob wir auch wirklich eine Verfassung für das neue Europa bekommen. Der Konvent muss jetzt darauf achten, dass seine Änderungsvorschläge vom Präsidium übernommen werden. Die Zeit drängt. Deshalb sollte so bald wie möglich ein konsolidierter Verfassungsentwurf vorgelegt werden, der die Änderungswünsche der Mehrheit des Konvents aufnimmt. Lassen Sie mich zum Ende meiner Rede zu einem Punkt kommen, der das Ende eines jeden Verfassungsprozesses darstellt: Die Annahme der Verfassung steht noch vor uns. Die europäische Verfassung wird der EU eine neue Qualität geben: eine Europäische Union der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. Ich finde es deshalb notwendig, dass wir auch bei der Annahme der Verfassung neue Wege gehen. Die Ratifizierung durch Bundestag und Bundesrat ist zwar für internationale Verträge vollkommen in Ordnung. Aber eine Verfassung sollte von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen werden. So würde sie eine größere Legitimation erhalten. Nun sieht das Grundgesetz für diesen Fall bekanntlicherweise keinen Volksentscheid vor. Aber das Grundgesetz kann man in dieser Frage ändern, wie es viele Abgeordnete in diesem Hause fordern. Lassen Sie uns jetzt die Grundlage dafür schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger über ihre europäische Verfassung abstimmen können! In einem Großteil der EU-Mitgliedstaaten werden die Bürger gefragt. Lassen Sie uns den Menschen hierzulande das gleiche Recht geben! Lassen Sie uns mutig sein und am Tag der Europawahlen im kommenden Jahr über die europäische Verfassung ein Referendum abhalten! Denn dann hätten wir es: das Europa der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. ({5}) Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der europäische Verfassungskonvent tritt in seine entscheidende Phase ein. Am 20. Juni, also in wenigen Wochen, soll der Entwurf einer europäischen Verfassung vorliegen, die die Grundlage für das Europa der 25, 27 oder auch 28 sein soll. Es geht also um eine ganz grundlegende Weichenstellung und Neuorientierung der Europäischen Union zu einem demokratischen, bürgernahen, einer gemeinsamen Wertebasis, nämlich der Grundrechte-Charta, verpflichteten Staatengebilde besonderer Art - Juristen sagen: sui generis -, das handlungsfähig und nachvollziehbar seine Entscheidungen für jetzt 380 Millionen Bürger und als Europa der 25 für 450 Millionen Bürger treffen muss. Es geht also nicht um etwas mehr oder weniger Technik bei der Abstimmung im Rat, um etwas mehr oder weniger qualifizierte Mehrheiten oder um etwas mehr oder weniger Kompetenzen. Es geht darum, ob Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und eine klare Zuordnung der Aufgaben auf europäischer und nationalstaatlicher Ebene in der künftigen europäischen Verfassung verankert werden. Die Grundrechte-Charta ist nicht so selbstverständlich, wie wir heute über sie reden. ({0}) Wenn man sich bei der Erarbeitung dieser Charta in weiten Teilen an der Europäischen Menschenrechtskonvention, aber auch an vielen Artikeln in unserem Grundgesetz orientiert und das auch festschreibt, zeigt das, dass der Wille da ist, sich auf ein gemeinsames Wertefundament zu verständigen. Deshalb ist es ganz selbstverständlich, dass die Grundrechte-Charta nicht in einem Protokoll versteckt werden darf, sondern mit ihrem Geist die Verfassung prägen muss und deshalb natürlich an den Anfang gehört. ({1}) Damit ist der Standort in der Verfassung eben nicht nur Technik, sondern bringt auch eine ganz klare Werteentscheidung zum Ausdruck. Die Arbeiten im Konvent, die wir von Anfang an unterstützt haben, folgen der Parlamentslogik und nicht mehr der Regierungslogik, wie wir sie von den Regierungskonferenzen her kennen. Deshalb sind wir froh, dass sich diese Methode auch mit dem, was bisher an Entwürfen vorgelegt wurde - bei aller Notwendigkeit gewisser Änderungen -, so erfolgreich gezeigt hat. Deshalb wollen wir natürlich, dass diese Konventsmethode nach erfolgreichem Abschluss der Arbeiten an einer europäischen Verfassung weiter bestehen bleibt und dass nach dieser Methode auch künftige grundlegende Weiterentwicklungen erarbeitet werden. Aber jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, läuft uns als nationales Parlament die Zeit davon. Es liegen erst die Texte für den ersten Teil der europäischen Verfassung vom Präsidium und vom Konventsplenum vor. Der zweite Teil ist überhaupt noch nicht konzipiert, mit Ausnahme des Teils über die Fragen der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes. Es wird für uns fast unmöglich werden, hier im Plenum einen gemeinsamen fundierten und soliden Standpunkt - dieser wäre aus unserer Sicht wünschenswert - zur gesamten europäischen Verfassung zu beziehen. Eine Bewertung der jetzigen Teile - auch eine Bewertung der Kompetenzen der Europäischen Union - kann aufgrund der Verzahnung mit all dem, was noch kommt, nicht abschließend sein; wir müssen alles im Zusammenhang sehen. Die FDP-Fraktion hat sehr frühzeitig in ihrem Antrag „Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung“ klar gesagt, wohin der Weg in der Europäischen Union gehen soll. Wir freuen uns sehr, dass weite Teile der jetzigen Beratungen im Konvent in die Richtung gehen, die wir in unserem Antrag sehr deutlich gekennzeichnet haben. Es gibt unstreitige Forderungen, die alle hier im Hause vertreten. Von meinen Vorrednern wurde zum Beispiel die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament erwähnt. Auch das ist nicht nur eine kleine Änderung! Wir müssen uns einmal vorstellen, was es bedeutet, wenn man sich darauf verständigt: Europa hat ein Gesicht und die Bürgerinnen und Bürger, die das Parlament wählen, treffen damit die Entscheidung darüber, wer denn an der Spitze der Kommission stehen soll. Damit werden wir die Bürgerinnen und Bürger mehr begeistern können. Wir personalisieren damit die Europawahl. Aber bitte lassen Sie - gerade Herr Fischer und auch Sie, Herr Bury - die Finger davon, eine Findungskommission aus gleichberechtigten Teilen des Europäischen Parlamentes und des Europäischen Rates für ein Vorschlagsrecht einzurichten. Eine Kungelrunde, in der europäischen Verfassung verankert, kann doch nicht unsere Vorstellung sein. ({2}) Wir wollen klare Texte in der Verfassung, aber doch nicht Gremien, in denen - wahrscheinlich mit vielen anderen personellen Besatzungen - ausgehandelt wird, was im Moment vielleicht am besten passt. Das Parlament schafft das allein; denn durch das Ergebnis der Europawahl sind die Mehrheitsentscheidungen getroffen worden. Dass das Parlament gestärkt werden muss, gehört für uns mit an die erste Stelle, neben allen anderen wichtigen Aspekten wie Kompetenzen, Subsidiaritätsgrundsatz und der Arbeitsweise im Rat. Deshalb sind das Haushaltsrecht des Parlaments auf der Ausgabenseite und natürlich die volle Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren für uns selbstverständlich. ({3}) Ich sage klar: Wir sind die Einzigen, die das fordern, was eigentlich erst ein Parlament ausmacht, nämlich das Initiativrecht. ({4}) Davor scheut man zurück. Wir haben das in unserem Antrag ausdrücklich gefordert. ({5}) In dem Kapitel über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird ein Initiativrecht der Mitgliedstaaten mit einem Quorum, wie es bisher schon der Fall ist, aufgeführt, aber kein Initiativrecht des Parlaments. Das darf auf keinen Fall so bleiben. Ich bitte da um Unterstützung unseres Vertreters im Konvent. Herr Meyer, Sie haben ausdrücklich darum gebeten, von diesem Podium aus Aufträge zu bekommen, die Sie dann im Konvent vertreten. Hier ist der zweite Auftrag. ({6}) Wir unterstützen die Kommission darin, kleiner zu werden. Die Begrenzung auf 15 Kommissare haben wir schon immer gefordert. Teilweise wurden wir etwas mitleidig nach dem Motto "Das ist doch illusorisch“ angeschaut. Jetzt steht es im Entwurf des Präsidiums des Konvents. Wir unterstützen das. Uns geht es aber nicht allein um die Zahl, sondern um das andere Denken, um die andere Struktur der Kommission. ({7}) Das ist für uns das Entscheidende. Entscheidend ist nicht der nationalstaatlich entsandte Kommissar, der in erster Linie die Interessen seines Mitgliedstaates vertritt. Entscheidend sind qualifizierte Fachleute - hoffentlich mit Erfahrung auf europäischer Ebene - die ihre Forderungen im Interesse der Europäischen Union formulieren. Zum Ratspräsidenten ist viel gesagt worden. Unser Antrag ist klar und eindeutig. Wir wollen keinen aufgewerteten Ratspräsidenten, der den Kommissionspräsidenten hinsichtlich seiner Aufgaben und seiner Funktion schwächen würde. Denn dort in der Kommission liegt die Integrationskraft und dort soll sie bleiben. Daher sind Änderungsanträge dringend notwendig, die deutlich machen: Ein fester Vorsitz für die Dauer von zwei Jahren ist richtig, nicht jedoch, dem Ratspräsidenten mehr Kompetenzen zuzuweisen. Wir brauchen natürlich auch den Außenminister in Europa. Wir brauchen mehr Europa in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. ({8}) Das haben wir als liberale Fraktion schon immer gesagt. Darüber hat es bislang keine Verwerfungen gegeben, wie wir sie in den letzten Wochen in der Europäischen Union erleben mussten. Man kann nur hoffen, dass die Konsultationsmechanismen, wie sie derzeit im Entwurf vorgesehen sind, dazu führen, dass es endlich wieder um den gemeinsamen Dialog und nicht um das Gegeneinander geht, dass wir solche Vierergipfel und isolierte Aktionen nicht mehr haben werden, sondern dass im Konvent darüber debattiert wird, was wir für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und besonders für eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik wollen. Das gehört in den Konvent. Wir wollen mit unserem Antrag, den wir eingereicht haben, den europäischen Pfeiler in der NATO stärken. Zum Schluss: Wir haben uns überhaupt noch nicht mit der Wirtschaftsverfassung befasst. Wir wollen, dass auch Wettbewerb und Marktwirtschaft als Kernelemente in der europäischen Verfassung stehen, ({9}) und wir wollen am Ende die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Ich freue mich, dass einige in diesem Haus gesagt haben: Eine Volksabstimmung über diese Verfassung ist wichtig. Wir müssen das Grundgesetz ändern. Eine rein konsultative Beteiligung reicht nicht aus; damit würde man dem Bürger etwas vormachen. Ich fordere Sie auf, der Initiative, die die FDP ergreifen wird, im Plenum zuzustimmen. Dann werden wir es schaffen, die Bürgerinnen und Bürger viel intensiver in diesen Prozess einzubeziehen. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, fraktionslos.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende Juni wird der Konvent den Entwurf einer EU-Verfassung vorlegen. Er betrifft alle EU-Staaten und natürlich alle Bürgerinnen und Bürger der EU. Insofern ist es höchste Zeit, dass sich der Bundestag damit befasst und auch eigene Ansprüche deutlich formuliert. Es liegt an uns, die EU-Verfassung so in die Öffentlichkeit zu bringen, dass sie wahr- und angenommen werden kann. Damit komme ich zu einem Punkt, der im Antrag der Regierungskoalition eher versteckt steht. Ich zitiere: Der Deutsche Bundestag bittet den Konvent zu prüfen, wie die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar im Wege eines Bürgerentscheids über die Annahme der europäischen Verfassung entscheiden können. Ich finde, der Bundestag sollte klarer dafür plädieren, dass die EU-Verfassung in Volksentscheiden angenommen wird. Das wäre der Größe angemessen und obendrein demokratischer. Ganz nebenbei würden wir im Bundestag auch noch die Hausaufgabe machen, die wir uns schon in der letzten Legislaturperiode vorgenommen hatten, nämlich Volksentscheide und direkte Bürgerbeteiligung auf Bundesebene endlich auch in der Bundesrepublik in Form eines Gesetzes Wirklichkeit werden zu lassen. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beginnt mit einem Bekenntnis zur EU. So weit, so gut. Allerdings sollten Sie sich in Ihrer Euphorie etwas bremsen; denn Sie lobpreisen in Ihrem Antrag als Erfolgsstory, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben können. Ich muss Sie doch wohl nicht an die fast 5 Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepublik oder an die weit über 20 Millionen Arbeitslosen in der EU erinnern. Auch gerade deshalb wiederhole ich die Auffassung der PDS, dass die EU jetzt und in der Zukunft vor allem eine starke soziale Komponente in der Verfassung braucht, die sich auch im wirklichen Leben niederschlägt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak zu erwarten, dass die angestrebte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von besonderer Relevanz ist. Der Ruf nach einer gemeinsamen euro-päischen Stimme ist daher sehr verständlich. Die Frage ist nur, was das Gemeinsame und das Einigende in der Außen- und Sicherheitspolitik ausmacht. Ich kann für die PDS nur wiederholen und muss warnen: Es darf nicht nur um die Frage gehen, der Militärmacht USA Paroli zu bieten oder ihr zu folgen. Es muss darum gehen, sich mit zivilen Ansprüchen von einer falschen US-Politik zu emanzipieren. Die Chance der EU liegt darin, dass sie wichtige Grundsätze der zukünftigen Verfassung ernst nimmt. Dazu gehören das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, das Engagement für Vollbeschäftigung sowie die Erhaltung des Friedens nach innen wie nach außen. Wir werden uns von dieser Vision allerdings noch weiter entfernen, wenn Sie in der Koalition beispielsweise an der Agenda 2010 des Kanzlers festhalten. Sie ist unsozial und gemessen an der künftigen Verfassung im Übrigen auch antieuropäisch.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Viele Kolleginnen und Kollegen haben - es sind heute leider nur wenige anwesend - die Europawoche genutzt, um Flagge für das großartige Projekt des vereinten Europas zu zeigen. Deswegen steht es auch dem Deutschen Bundestag gut an, in dieser Woche Flagge zu zeigen und denjenigen Unterstützung zuteil werden zu lassen, die sich der mühsamen Aufgabe, die Zukunft Europas aktiv zu gestalten, stellen. Das ist nicht einfach. Deswegen möchte ich von hier aus ein herzliches Dankeschön an Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten richten, die diese Kärrnerarbeit leisten. Aber nicht nur an sie. Ich möchte neben Jürgen Meyer und Martin Bury auch den Außenminister, den ich nicht zur Sozialdemokratie zähle, ({0}) und Klaus Hänsch nennen. Klaus Hänsch gehört dem Präsidium an. Das Präsidium hat erfolgreiche Arbeit geleistet - sie war sehr schwierig - und hat das, was vom Konventspräsidenten vorgeschlagen wurde, demokratischer werden lassen. Es steht uns auch deswegen gut an, weil der Konvent originär ein parlamentarisches Gremium ist. Dieses Gremium konnte durch unsere Aktivitäten und unser Engagement überhaupt erst eingesetzt werden. Dieser Konvent braucht parlamentarische Begleitung und Unterstützung; denn er ringt mit der zentralen Herausforderung, die uns tagtäglich auch im Bundestag beschäftigt: Wie können wir die Globalisierung politisch gestalten, und zwar in einer Zeit, in der nationalstaatliches Handeln zunehmend an seine Grenzen stößt? Eigentlich müssten hier nicht nur die Europaexperten sitzen, sondern auch die anderen, weil es um die Wirtschaft, den Verbraucherschutz, die Umweltpolitik und viele andere Themenbereiche geht. Wir müssen es irgendwann einmal schaffen, diese Vernetztheit des europäischen Handelns auch in unserem Parlament deutlicher werden zu lassen. Der Konvent hat zwei schwierige Aufgaben zu bewältigen, um die Globalisierung aktiv zu gestalten: Er muss mehr Demokratie wagen und den europäischen Institutionen sowie Europa insgesamt mehr Handlungsfähigkeit zuteil werden lassen. Die Vorschläge zu den institutionellen Reformen liegen jetzt endlich auf dem Tisch. Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen darüber rede, sagen sie, dass sie das alles nicht interessiert, und sie fragen mich, was das überhaupt soll. Bei aller verständlichen Skepsis sage ich: Michael Roth ({1}) Es geht hier um die Machtfrage in Europa. Wer hat was, wann, wie und an welchen Stellen zu entscheiden? Wir müssen mehr Demokratie wagen, damit das insgesamt ein Erfolg wird. Wir brauchen einen vitalen Parlamentarismus, wir brauchen starke, einflussreiche und selbstbewusste Parlamente auf der europäischen Ebene und wir brauchen nationale Parlamente, die sich dieser europäischen Aufgabe besser als bislang stellen. ({2}) Die Europäische Union ist nicht nur eine Union der Staaten - so wie das eben schon zum Ausdruck gebracht wurde -, sondern sie ist auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Offensichtlich herrscht darüber kein Konsens; denn sonst hätte der Präsident des Konvents, der ja nicht irgendeiner extremistischen Minderheit in Europa angehört, diese gefährlichen Vorschläge nicht unterbreitet. Es ist ein zum Teil gefährliches Selbstverständnis, das hier zum Tragen kommt und zum Ausdruck gebracht wird; denn die Europäische Union ist nicht allein die Domäne der Staaten und ihrer Regierungen. Was für ein demokratisches Selbstverständnis wäre das? Was heißt, mehr Demokratie für Europa wagen? Hier sind wir glücklicherweise einer Meinung. Das heißt zunächst einmal: Das Europäische Parlament muss ein starkes Parlament als Kammer der Bürgerinnen und Bürger sein. ({3}) Wir brauchen dabei selbstbewusste und vom Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger getragene Europaabgeordnete. Wir wissen doch, wie schwierig das ist. Das erfahren wir aus unseren Gesprächen mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem Europäischen Parlament. Deswegen ist es wichtig, dass wir Wahlkreise einrichten, um ihnen die Chance zu geben, näher bei den Bürgerinnen und Bürgern zu sein. Dadurch können sie - wie jeder Bundestagsabgeordnete auch - ein überschaubares Gebiet bearbeiten, sodass sie sich heimisch und von den Menschen, die sie oder ihn gewählt haben, getragen fühlen können. Wir müssen auch dem Prinzip „One man, one vote“ eine stärkere Durchschlagskraft verleihen; das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({4}) Herr Kollege Müller, wir wissen, dass eines dabei natürlich sehr deutlich sein muss: Bei den ganz kleinen Mitgliedstaaten wird es eine gewisse Mindestrepräsentanz geben müssen. ({5}) Zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat, der als Kammer der Staaten durch die Regierungen repräsentiert wird, muss bei der Gesetzgebung natürlich Gleichberechtigung herrschen. Der entscheidende Punkt ist, dass das Europäische Parlament den Chef der Exekutive wählen muss. Wir brauchen ein Gesicht für Europa. Ich verstehe die Kritik der Regierungen nicht, die im Zusammenhang mit dem Präsidiumsvorschlag einen Weg aufgezeigt haben, wie der Kommissionspräsident vom Parlament zwar gewählt werden, man aber doch irgendwie noch mitmischen kann. Wir brauchen hier eine klare Kante; es muss eine klare Regelung geben. Der Kommissionspräsident muss von der politischen Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig sein. Er muss von ihr gewählt, getragen und unterstützt werden. Ich glaube, das muss noch deutlicher werden; denn wenn wir es wirklich schafften, den europäischen Wahlprozess zu europäisieren, dann gäbe es auch europäische Spitzenkandidaten. Ich bin mir sicher: Wenn die Kolleginnen und Kollegen der konservativen Seite einen europäischen Spitzenkandidaten aufzustellen haben, dann werden sowohl Ministerpräsident Juncker als auch Ministerpräsident Aznar daran beteiligt sein, ihn zu benennen und ihm das Vertrauen zu schenken. Deswegen kann ich es nicht nachvollziehen, warum man dem Europäischen Parlament nicht das Vertrauen entgegenbringt, welches es braucht, um stark, einflussreich und mächtig sein zu können. Vielleicht schaffen wir es dann endlich, nicht länger nur über europäische politische Familien, sondern auch über kraftvolle europäische Parteien zu reden, die das tun, was auf europäischer Ebene notwendig ist. ({6}) Natürlich ist es wichtig, dass wir auch über uns selbst und über die Rolle der nationalen Parlamente sprechen. Ich kann die Skepsis mancher Kolleginnen und Kollegen durchaus verstehen. Ich habe das bei der Erarbeitung unseres Antrages gemerkt. Es gibt Vorbehalte. Diese erwachsen aus der Frage: Was wird aus uns, wenn mehr und mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert werden? Wir müssen uns aber vor allem als Partner des Europäischen Parlaments begreifen und eine Arbeitsteilung zwischen den Parlamenten vornehmen. Das bedeutet, dass wir innerstaatlich stärker am europäischen Handeln mitwirken und auch dann mitentscheiden, wenn es den Regierungen gelegentlich nicht gefällt. ({7}) Herr Kollege Hintze, Sie haben vorhin an einigen Punkten Kritik geübt. Wir müssen die Möglichkeiten, die in Art. 23 des Grundgesetzes zugrunde gelegt werden, offensiv nutzen. Ich glaube, dass es hier noch Spielraum gibt - das sage ich im Hinblick auf alle Fraktionen -, der ungenutzt brachliegt. Diesen sollten wir nutzen. Aber wenn der Verfassungsentwurf vorliegt, müssen wir uns wie nach dem Vertrag von Maastricht überlegen, welche Konsequenzen wir daraus für unser parlamentarisches Handeln auf der nationalen Ebene ziehen. Es darf keine Problemverlagerung auf die europäische Ebene geben, indem wir irgendeine Institution schaffen, über die die nationalen Parlamentarier in Brüssel entscheiden. Es darf keinen Kongress der Völker Europas und auch keine weitere Kammer für die nationalen Parlamente geben. Wir haben hier genug zu tun, um Europapolitik aktiv mitzugestalten. Das nämlich ist unsere Aufgabe. ({8}) Michael Roth ({9}) Die Europäische Union und die europäische Demokratie brauchen europataugliche nationale Parlamente, die die Europapolitik ihrer Regierungen effizient und durchschlagsfähig kontrollieren. Mehr Demokratie bedeutet aber auch eine Weiterentwicklung des Ministerrates zu einer starken Kammer, die öffentlich tagt und mit Mehrheit entscheidet. Wir wollen kein Einstimmigkeitsprinzip mehr. Daher unterstützen wir auch unseren Konventsdelegierten. Mehr Demokratie bedingt auch einen von der Mehrheit des Parlaments getragenen und nicht allein vom Wohlwollen der Regierungen abhängigen Kommissionspräsidenten. Aber mehr Demokratie verlangt auch eine engere Anbindung der Parlamente an die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ich bin stolz auf das, was wir im Deutschen Bundestag vor allem in der Verteidigungspolitik leisten; denn wir haben eine Parlamentsarmee. Weil wir uns als Seismographen der Gesellschaft verstehen und nah an den Bürgerinnen und Bürgern sind, kommen verteidigungspolitische Entscheidungen verantwortungsbewusst zustande. Ich glaube, dass dieses parlamentarische Verständnis von Verteidigungspolitik gut für unser Land ist. Es wäre auch gut für Europa, wenn wir das Europäische Parlament noch stärker an diesen grundlegenden Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik beteiligten. Weniger Demokratie bedeutete es aber, wenn wir einen mächtigen Ratspräsidenten hätten, der sich allein den Regierungen verpflichtet fühlt. Weniger Demokratie bedeutete es auch, wenn wir stur am Einstimmigkeitsprinzip festhielten, wenn es uns nationalstaatlich genehm ist. Der Koalitionsantrag, der schon einige Male angesprochen wurde - von der Kollegin Pau hätte ich mir gewünscht, sie hätte ihn etwas aufmerksamer gelesen -, soll Richtschnur und Stütze für unsere Konventsdelegierten sein. Er macht deutlich: Die SPD war, ist und bleibt eine Europapartei, die nicht nur theoretisiert, sondern sich tagtäglich abmüht, Europa menschlicher, solidarischer, gerechter und friedlicher werden zu lassen. Das ist unsere große Aufgabe. ({10}) Das Referendum ist angesprochen worden. Sie brauchen gar nichts mehr zu entwickeln oder vorzuschlagen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Diese Koalition hat einen Vorschlag für mehr plebiszitäre Elemente im deutschen Grundgesetz vorgelegt. Dieser Vorstoß ist aber jedes Mal vor allem an der CDU/CSU gescheitert. Deswegen schlage ich Ihnen vor: Wir debattieren über mehr plebiszitäre Elemente in der Bundesrepublik. Ich bin dann gespannt, wie sich die CDU/CSU verhalten wird; denn sie hat diesen Vorschlag auf nationalstaatlicher Ebene ständig abgelehnt. Aus diesem Grunde kann ich nicht verstehen, warum Herr Stoiber für die europäische Ebene jetzt etwas fordert, was er nationalstaatlich massiv abwehrt und dem er sich verweigert. Diese Frage müssen Sie uns beantworten. Genauso müssen Sie uns einmal sagen, was die CSU - bei aller Wertschätzung einzelner Kollegen - eigentlich will. Sie gefällt sich nämlich in fatalistischen Lamentos. Immer wieder hören wir im Ausschuss: Das alles können wir nicht machen. Wenn von unseren Delegierten im Europaausschuss berichtet wird, dann kommt von der CSU: Wir dürfen gar nicht richtig mitarbeiten. Ich stelle Ihnen nun die Frage: Was wollen Sie denn eigentlich? Wo bleiben denn Ihre konstruktiven Alternativvorschläge zu dem, was wir in unserem Antrag fordern? Zeigen Sie einmal Flagge und machen Sie deutlich, wo Ihre Alternativen liegen! ({11}) Die Machtfrage in Europa ist gestellt. Aus meiner Sicht kann diese Machtfrage nur demokratisch oder gar nicht beantwortet werden. Für die letzte Etappe wünsche ich allen viel Kraft und Ausdauer, aber auch die Bereitschaft zum Kompromiss. Deswegen habe ich auch Verständnis dafür, wenn sich der Außenminister mit einem Vorschlag zur Wahl des Kommissionspräsidenten, der uns vielleicht nicht unbedingt schmeckt, in den Konvent begibt und versucht, eine Kompromisslinie aufzuzeigen. Bei aller Kritik, die wir in dieser Frage vielleicht teilen, brauchen wir auch die Bereitschaft zum Kompromiss; anderenfalls kann das ganze Projekt nicht gelingen. Deswegen unseren Delegierten, unseren Schaffern vor Ort in Brüssel: Glück auf für die letzte Etappe! Danke schön. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Konvent war die richtige Antwort auf die großen Reformherausforderungen der Europäischen Union. ({0}) Er war nicht deshalb die richtige Antwort, weil die Delegierten so besonders gut sind. Das sind sie vielleicht auch, jedenfalls einige. Er war auch nicht deshalb die richtige Antwort, weil er in Brüssel und nicht an einem anderen Ort tagt. Vielmehr war er die richtige Antwort, weil er unter den Augen und unter der Kontrolle der Öffentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen tagt. Es ist im Laufe der letzten anderthalb Jahre immer wieder gelungen, die Aufnahme von Vorschlägen, die gefährlich und problematisch waren, dadurch zu verhindern, dass der Druck der öffentlichen Meinung mobilisiert worden ist. Dies zeigt, dass es in einer demokratischen Gesellschaft keine Alternative zu einer öffentlichen politischen Debatte gibt. ({1}) Dieser Konvent kann, wenn er den selbst gesteckten Erwartungen gerecht wird, ein wirklich historisches Ergebnis erreichen, mit dem Europa, die europäische Integration auf eine neue qualitative Stufe gestellt wird. Er wird aber - auch das müssen wir den Menschen draußen sagen - Europa nicht neu erfinden, nicht alles verändern und nicht alles in Frage stellen. Vielmehr soll er auf den Errungenschaften aufbauen, die seit 50 Jahren erreicht worden sind, sie verbessern und so ausgestalten, dass sie den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht werden. Das sind keine Schlagworte. Wenn wir über Bürgernähe und Demokratie reden, dann bedeutet dies in der heutigen Zeit zuvörderst, dass die Bürger die Möglichkeit haben müssen, mitzuentscheiden. Die Europäische Union ist kein Staat und wird durch diesen Konvent auch kein Staat, aber sie hat in vielen Bereichen Zuständigkeiten wie ein Staat. Daher muss sie auch wie ein Staat organisiert sein. Das heißt, die Bürger müssen die Möglichkeit haben, ihre Regierung zu wählen und abzuwählen. Deshalb ist die in diesem Konvent aufgeworfene Frage, ob das Europäische Parlament den Präsidenten der Europäischen Kommission wählt, keine technische Frage, sondern die entscheidende Frage nach Demokratie und Bürgernähe. ({2}) In diesem Zusammenhang richte ich an die Adresse des Vertreters der Bundesregierung die Bitte, noch einmal über Folgendes nachzudenken: Wenn wir mehr Demokratie und Bürgernähe erreichen wollen, dann passt der Vorschlag des Bundesaußenministers nicht dazu, dass nach der Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament - derjenige, der nach einer Europawahl im Europäischen Parlament die Mehrheit hat, wird gewählt - der Europäische Rat mit qualifizierter Mehrheit dann noch einmal darüber entscheidet, ob er diese Person auch tatsächlich ernennt. ({3}) Das wäre so ähnlich, als müsste der vom Bundestag gewählte Bundeskanzler anschließend mit absoluter Mehrheit vom Bundesrat bestätigt werden. ({4}) Das ist noch nicht einmal parlamentarische Monarchie; das ist vorparlamentarische Monarchie. Ich bitte Sie ganz herzlich: Denken Sie noch einmal darüber nach und ziehen Sie diesen Antrag zurück! Die gesamte Debatte über Ratspräsidentschaft und über institutionelle Arrangements - die die Bürger nur begrenzt interessieren, aber im Konvent so schrecklich wichtig sind - hat natürlich auch zum Gegenstand, wie man Europa so organisieren kann, dass es zu einem gerechten Interessenausgleich zwischen Großen und Kleinen in Europa kommt. Aus der Konventsarbeit der letzten Tage und Wochen muss man dazu sagen, dass das Misstrauen vor allen Dingen der kleinen Mitgliedstaaten in Bezug auf eine Bevormundung durch die großen wegen des Direktoriums gewachsen ist. Das hat nicht in erster Linie etwas damit zu tun, dass das Konventspräsidium Vorschläge gemacht hat, die an der einen oder anderen Stelle verbesserungsbedürftig sind, sondern damit, dass durch die Debatten der letzten Monate auch im Zusammenhang mit dem Thema Irak das Grundvertrauen in Europa beschädigt worden ist. Leider Gottes ist die Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal als gerechter Makler zwischen Groß und Klein ausgefallen. Ich bitte Sie, Herr Staatsminister Bury, helfen Sie mit, dies wieder zu reparieren. Davon hängt der Erfolg des Konvents in entscheidender Weise ab. ({5}) Meine Damen und Herren, so wichtig es ist, über Groß und Klein, über den Ausgleich zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd sowie zwischen Alt und Neu zu diskutieren, so sehr müssen wir darauf achten, dass dies nicht die einzigen Fragen sind, die die politische Debatte in Europa bestimmen. Wir müssen in Zukunft nicht über Groß und Klein diskutieren, sondern darüber, ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist und ob durch sie die Probleme gelöst werden. Dafür brauchen wir die Reform der politischen Institutionen. Wir müssen den Europäischen Rat und Europa insgesamt effizienter machen. Was nützt es den Bürgern, wenn Europa für die Lösung seiner Probleme in immer weiteren Bereichen zuständig ist, es aber zehn, 15, 17 oder 18 Jahre dauert, bis eine notwendige gesetzliche Maßnahme verabschiedet wird, und dann, wenn nach 15-jährigen Beratungen die europäischen Regierungschefs hinter verschlossenen Türen einen Kompromiss gefunden haben, die Beamten eine Woche lang darüber rätseln, was eigentlich beschlossen worden ist? Solche Entscheidungsverfahren können wir uns nicht mehr leisten. Aus diesem Grunde ist es so wichtig, dass wir das Prinzip der Mehrheitsentscheidung auf alles ausdehnen, was auf der europäischen Ebene zu entscheiden ist. Wir können es uns nicht länger leisten, durch einstimmige Entscheidungen und Vetorechte für jedes einzelne Land die Europäische Union erpressbar zu machen und die Blockademöglichkeiten zu vergrößern. Deshalb muss dort, wo Europa zuständig ist, in Zukunft mit Mehrheit entschieden werden. Dies setzt die Bereitschaft voraus, sich auch einmal überstimmen zu lassen; denn es ist besser, dass es zu einer Entscheidung kommt, als dass alles jahrelang blockiert wird. Wenn wir Europa effizient und fit machen, starke Institutionen haben und mit Mehrheit entscheiden, dann müssen wir aber auch dafür sorgen, dass klar ist, welche Ebene in Europa wofür zuständig ist, damit nicht über diese Mehrheitsentscheidungen immer mehr Zuständigkeiten schleichend auf die europäische Ebene abwandern. Deshalb ist es auch der Mühe wert, einmal darüber zu diskutieren, ob man bei einer Vergemeinschaftung des Asylrechts nicht sagen muss, wir wollen beispielsweise die Einwanderung weiterhin national regeln, weil die Mitgliedstaaten viel dichter an der Frage sind, wie viele Personen in den Arbeitsmarkt zuwandern können. Diese Debatte muss in den letzten Wochen im Konvent geführt werden. ({6}) Im Hinblick auf den europäischen Stabilitätspakt wollen wir erreichen, dass in Zukunft im Ministerrat nicht hinter verschlossenen Türen gekungelt wird, ({7}) ob ein Land einen blauen Brief bekommt oder nicht. Vielmehr muss die Kommission nach einem objektiven Verfahren die Mitgliedstaaten zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen anhalten. ({8}) In diesem Falle brauchen wir aber nicht noch eine zusätzliche Zuständigkeit der Europäischen Union für die Koordinierung der Wirtschaftspolitiken insgesamt. Das heißt, das Prinzip „Weniger, aber besser“ sollte für uns die Leitschnur bei der Neuordnung der Kompetenzen sein. Natürlich müssen wir die Verfahren zur Erhebung der Mehrwertsteuer und anderer indirekter Steuern so regeln, dass sie europaweit kompatibel sind. Aber brauchen wir wirklich eine eigene Steuer für die Europäische Union oder zahlen die Bürger nicht schon Steuern genug, sodass eigentlich Steuersenkungen, nicht aber weitere Steuererhöhungen erforderlich wären? Meine Damen und Herren, wir brauchen ein System der Kompetenzausübung, das auch dazu führt, dass der Europäische Gerichtshof aus der Kritik kommt. Der Europäische Gerichtshof ist aus exzellenten Juristen - Richtern und Generalanwälten - zusammengesetzt, die eine hervorragende Arbeit leisten und das europäische Recht so auslegen, dass es Wortlaut und Sinn der Europäischen Verträge entspricht. In der Vergangenheit wurden sie immer nur zugunsten der Integration ausgelegt. Wenn wir aber erreichen wollen, dass Mitgliedstaaten und Europäische Union über einen Kernbereich an Aufgaben verfügen, dann muss in Zukunft in bestimmten Bereichen auch zugunsten der Mitgliedstaaten entschieden werden können. Wenn wir die Kompetenzordnung so regeln, dann wird der EuGH auch dafür sorgen, dass die Kompetenzen der Mitgliedstaaten geachtet werden, genauso wie er es jetzt bei den Kompetenzen der Europäischen Union tut. Wir brauchen in Europa in der Tat endlich eine Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die diesen Namen verdient. Es gibt im Zeitalter der Globalisierung mit Ausnahme der Vereinigten Staaten von Amerika heute keine großen Länder mehr. Das haben nur noch nicht alle Länder bemerkt. Meine Befürchtung ist, dass es auch im deutschen Bundeskanzleramt nicht überall bemerkt worden ist. Sonst hätte man nicht im August letzten Jahres vom deutschen Weg in der Außenpolitik geredet. Das hat dazu geführt, dass in Europa Misstrauen entstanden ist. Das hat dazu geführt, dass die Verhandlungen im Konvent im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik schwierig geworden sind. Wir müssen klar machen: Wenn Europa etwas zu sagen haben und eine Rolle spielen soll, dann darf es in Zukunft weder für Deutschland noch für irgendein anderes Land einen nationalen Sonderweg geben, dann kann es nur gemeinsame europäische Entscheidungen geben. Meine Damen und Herren, wenn Europa funktionieren soll, mit Kompetenzen wie ein Staat, mit Institutionen, die stark und unabhängig sind, dann braucht es auch eine gemeinsame Identität. Denn nur wenn sich die Bürgerinnen und Bürger zu diesem Europa bekennen, wenn sie das Gefühl haben, in diesem Europa zu Hause zu sein, werden sie es auch auf lange Sicht unterstützen. Deshalb müssen wir zwei Dinge deutlich machen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern erstens deutlich machen: Dieses Europa wächst zusammen und es wird nach dieser großen Reform besser als zuvor in der Lage sein, ihre Probleme in dem Bereich zu lösen, für den Europa zuständig ist. Wir müssen ihnen aber auch die Angst nehmen, dass die europäische Integration irgendwann dazu führt, dass der Nationalstaat überflüssig wird und dass die eigene nationale Identität verloren geht. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir zum ersten Mal in der europäischen Verfassung eine Vorschrift haben werden - Art. 9 Abs. 6 -, die ausdrücklich besagt, dass bei der Anwendung der Kompetenzen der Europäischen Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten einschließlich der föderalen Gliederung und der kommunalen Selbstverwaltung zu achten ist. ({9}) Das ist ein wichtiger Fortschritt, weil er Ängste wegnimmt und dazu führt, dass die Akzeptanz von Europa verbreitert wird. Dazu gehört auch, dass wir unsere Grundwerte klarmachen und deutlich machen, woher wir kommen und auf welchen Traditionen wir aufbauen. Peter Hintze hat gesagt: Wir wollen einen Bezug zu Gott. Ich unterstreiche das nachdrücklich. Alle Redner haben gesagt, sie wollten, dass die Europäische Grundrechte-Charta rechtsverbindlich wird, damit sie unser europäisches Erbe zum Ausdruck bringt. Dazu gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung von Mann und Frau und vieles andere mehr. Wenn wir es schaffen, dies in verständlicher Form in die europäische Verfassung zu schreiben, dann ist sie weniger technisch und leichter verständlich. Ich komme zum letzten Punkt. Lieber Michael Roth, ich freue mich sehr, dass Sie gesagt haben: Wir stehen zu unseren Vorschlägen für ein europäisches Referendum und für mehr direkte Bürgerbeteiligung. Wenn ich aber sehe, wie panisch Herr Müntefering und Herr Scholz reagiert haben, als zwölf Kolleginnen und Kollegen von Ihnen ({10}) von dem Institut der Mitgliederbefragung Gebrauch gemacht haben, das in Ihrer eigenen Parteisatzung vorhan3564 den ist, dann sollten Sie auch über diesen Vorschlag noch einmal nachdenken. ({11}) Wir sollten alles tun, damit wir den Zeitplan einhalten, damit der Konvent in die Lage kommt, wie vorgesehen im Juni einen vernünftigen, einen weiterführenden Vorschlag zu unterbreiten. Wir sollten ihn dann in der Regierungskonferenz zügig verabschieden. Dann wird uns dieser neue Verfassungsvertrag in die Lage versetzen, dass wir uns endlich um das kümmern, was die Bürger von uns erwarten, nämlich die Lösung ihrer drängenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme. In diesem Sinne Glückauf! ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der nächste Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Altmaier, wenn es jemanden gibt, der keinen Anlass hat, mit Häme über Elemente der direkten Demokratie zu sprechen, dann glaube ich, dass das Ihre Fraktion ist. ({0}) Wir haben Ihre Fraktion seit Jahren in diesem Hause erlebt, wenn es darum ging, die Bürgerinnen und Bürger außerhalb von Wahlen direkt an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, wofür wir uns immer eingesetzt und auch entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt haben. So richtig auch vieles in Ihrer Rede meiner Meinung nach ist, Kollege Altmaier, bitte ich doch an dieser Stelle darum, parteipolitische Polemik außen vor zu lassen. Wir befinden uns in einer Situation - das hat die Debatte in diesem Hause gezeigt, die auf einem sehr hohen Niveau verläuft; es gibt viele Forderungen, die von diesem Hohen Haus gemeinsam nach Europa getragen werden -, in der wir auch ein großes Interesse daran haben müssten, die Menschen in diesem Lande mitzunehmen. Denn diese Debatte wird - das zeigt die geringe Zahl der Abgeordneten, die das Hohe Haus hier repräsentieren diesem Thema und seiner historischen Bedeutung nicht gerecht. Angesichts der Debatte in der Öffentlichkeit bzw. in den Medien dieser Republik kann nicht davon die Rede sein, dass es uns bisher gelungen ist, die Menschen in diesem Lande an diesen historischen Entscheidungen zu beteiligen, die Europa über Generationen hinweg prägen und die Grundlage für ein immer demokratischeres, friedliches, solidarisches, aber auch nachhaltiges Europa schaffen werden. In diesem Bereich gibt es Versäumnisse. Ich bitte Sie alle, zumindest eines mitzutragen, nämlich dass wir uns dafür einsetzen, dass diese europäische Verfassung in einer Sprache formuliert wird, die die Menschen in diesem Lande verstehen können. ({1}) Denn die technischen Formulierungen im Verfassungsentwurf verstehen nur Lobbyisten und Insider wie wir. Ich möchte noch versuchen, etwas richtig zu stellen, was sowohl von dem Kollegen Altmaier als auch von dem Kollegen Hintze dargestellt worden ist. Die Initiativen, die die deutsche Bundesregierung zusammen mit Frankreich, Belgien und Luxemburg unternommen hat, sind in dieser Darstellung aus meiner Sicht in der historischen Bewertung in ein völlig falsches Licht gerückt worden. Sie berauben sich auch der Chance, das umzusetzen, was Sie immer gewollt haben. Sie haben nämlich in Ihrem Antrag zum Élysée-Vertrag mit Recht genau das gefordert, Kollege Hintze, was die Bundesregierung jetzt initiiert hat, nämlich mit der Achse Paris-Berlin als Motor eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion voranzutreiben, und zwar nicht im Sinne eines Kerneuropas, das andere Länder ausschließt, sondern im Sinne eines Modells, mit dem jemand vorangeht und feststellt, dass es sich - vor allem nach den Ereignissen der letzten Zeit - um eine zentrale Frage europäischer Politik für die Zukunft handelt, europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik gemeinsam zu definieren und dafür Ressourcen zur Verfügung zu stellen. ({2}) Darin sollten wir uns einig sein und das sollten wir auch gemeinsam unterstützen. Bei dem Vierergipfel hat es sich keineswegs um ein Treffen von Spaltern gehandelt. Vielmehr sind die Impulse, mit denen wir Europa voranbringen wollen, auf Integration angelegt. Die Geschichte der Europäischen Union zeigt, dass es immer das Prinzip großer Veränderungen in Europa war, dass sich einige auf den Weg gemacht und Initiativen entwickelt haben. Oftmals mussten andere Staaten erst von diesen Vorschlägen überzeugt werden. Der EU-Vertrag ist voll von Initiativen einzelner Staaten. Schengen zum Beispiel geht auf eine Initiative von Deutschland und Frankreich zurück. Die Initiative zur Beschäftigungspolitik wurde von Schweden angestoßen. Die gesamte Umweltpolitik wurde im Grunde von einer deutsch-dänischen Achse in Europa vorangebracht. Die Unionsbürgerschaft ist von Spanien und Portugal entwickelt und in die EU hineingetragen worden. Europa lebt von solchen Initiativen. Wir sollten uns im positiven Sinne darauf beziehen, statt im Nachklapp zu Debatten, die hier geführt worden sind und in denen sich der eine oder die andere vielleicht unwohl gefühlt hat, zu mäkeln. Wir sollten in dem Wissen, dass wir die Thematik, die von den Teilnehmern des Vierergipfels andiskutiert worden ist, in der Europäischen Union geRainder Steenblock meinsam voranbringen wollen, nach vorne gerichtet diskutieren. Das sollte unser Interesse bestimmen. ({3}) Zum Schluss möchte ich noch auf einen Wert hinweisen, der gerade für die Fraktion der Grünen neben dem Wettbewerb und den Zielen der ökonomischen Entwicklung, die Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, für die FDP angesprochen haben, wichtig ist. Europa wird aus unserer Sicht nur dann eine Zukunft haben, wenn es ein Europa der Nachhaltigkeit ist, wenn es also zukünftigen Generationen Lebensperspektiven bietet und ein Europa ist, in dem die Ökonomie nicht zulasten der Schwachen, der Natur, die sich nicht wehren kann, und der zukünftigen Generationen, die sich nicht wehren können, entwickelt wird. Ein Europa der Nachhaltigkeit ist ein Europa, das mit seinen Ressourcen vernünftig umgeht, das zum Beispiel vom Erdöl wegkommt und eine eigene Energieversorgung auf der Grundlage regenerativer Energien schafft, ein Europa, das die Bildungspolitik und die Forschungspolitik als Ressourcen seiner zukünftigen Möglichkeiten erkennt, die exportiert werden können, ein Europa, das nicht danach strebt, andere zu unterdrücken, und das nicht auf Konkurrenz aufgebaut ist, sondern das im Kern solidarisch ist und dessen Länder füreinander einstehen. Diese Form der Nachhaltigkeit in Europa ist für uns ein Wert, für den wir besonders kämpfen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem Binnenmarkt, dem Euro und der Osterweiterung ist das Projekt eines europäischen Verfassungsvertrages ein weiterer großer Reformschritt. Ich finde die Debatte prima, die wir Parlamentarier geführt haben. Sie ist offen. Es gibt eine Schnittmenge an Vorschlägen, die über alle Fraktionsgrenzen hinweg als interessant betrachtet werden. Wir sind Deutsche, die ihre Positionen zu dem europäischen Verfassungsvertrag formulieren. Das intellektuelle Niveau der Debatte ist vielleicht auch deshalb so gut, weil die Bundesregierung daran fast gar nicht teilnimmt. Einerseits bedauere ich das. Herr Bury, ich meine nicht Sie persönlich. Auf der anderen Seite ist es schon erschreckend, dass bei der Diskussion über ein solches Projekt mit weit reichender Bedeutung wie das eines europäischen Verfassungsvertrages weit und breit kein Bundeskanzler und kein Bundesaußenminister zu sehen sind. Die gesamte Bundesregierung glänzt durch Abwesenheit. Das ist natürlich auch ein Affront gegen dieses Parlament. ({0}) Es ist zwar schön, wenn wir Abgeordnete uns einig sind bzw. gemeinsame Linien entwickeln. Aber entscheidend ist natürlich, welche Vorschläge der Bundesaußenminister in den Konvent einbringt. Ich hätte gern mit ihm hier vor der deutschen Öffentlichkeit über sein Konzept diskutiert. Er fährt stattdessen in Begleitung von zehn Fernsehkameras zu den Konventsitzungen in Brüssel, gibt anschließend Zwei-Minuten-Statements ab und verschwindet wieder. Das ist nicht dem Ernst und der Zukunftsbezogenheit dieses Projektes angemessen. ({1}) Lassen Sie mich im Angesicht unserer leibhaftigen Konventsvertreter, Herrn Altmaier und Herrn Professor Meyer, die sich in hervorragender Weise auch um den Kontakt zum Parlament bemühen, einige Anmerkungen aus der Sicht meiner Partei über den derzeitigen Diskussionsstand machen. Der Verfassungskonvent - Herr Altmaier hat schon darauf hingewiesen - ist keine revolutionäre Nationalversammlung im Sinne der von 1789 oder des Konvents von Herrenchiemsee. Wir versuchen vielmehr, Schritt für Schritt auf die Osterweiterung, auf ein Europa der 25 oder der 35, die passenden Antworten der Zusammenarbeit zu geben. Dabei wäre es zunächst einmal notwendig, eine Diskussion über die Finalität der Europäischen Union zu führen. Das bundesstaatliche Modell war die Antwort auf ein Europa der zwölf oder 15 Mitgliedstaaten. Nunmehr ist die politische Entscheidung gefallen, nächstes Jahr die Europäische Union auf 25 zu erweitern. Im Prinzip ist auch die Vorentscheidung gefallen, im nächsten Schritt die Europäische Union - unter anderem mit der Aufnahme der Türkei, Rumäniens und Bulgariens, möglicherweise auch von Balkanstaaten - auf 35 zu erweitern. An dieser Stelle verabschiedet sich die Europäische Union natürlich vom bundesstaatlichen Modell; denn ein solches Modell kann zwar mit zwölf Mitgliedern erfolgreich sein, nicht aber mit 35. Wir müssen diese Debatte miteinander ernsthaft führen. Die Prinzipien „Erweiterung“ - sofern man dies will - und „Vertiefung“ sind natürlich ein Stück weit widersprüchlich. Wir müssen eine Diskussion über das Thema „Nation und Europa“ führen. Wir müssen klären, welchen Stellenwert die Nation zukünftig im Verhältnis zur europäischen und zur regionalen Ebene hat. Herr Altmaier ist darauf eingegangen: Europa ist kein Staat; es wird auch in Zukunft auf Nationalstaaten aufbauen. Umgekehrt sind wir uns alle einig: Der Nationalstaat braucht auch Europa, weil kein Staat die zentralen Herausforderungen allein regeln kann. Was die Regelungsdichte angeht, sollte Europa das Große besser machen und sich aus dem Kleinen weitgehend zurückziehen. CDU und CSU haben ein Gesamtkonzept vorgelegt. Von der Bundesregierung, Herr Bury, liegt so etwas leider nicht vor. Es gibt zwar Änderungsanträge; aber wir wissen nicht, wohin Sie insgesamt wollen. Angesichts der Endphase der Arbeit des Konvents möchte ich, Herr Meyer und Herr Altmaier - Sie sind unsere Vertreter im Konvent -, einige Schwerpunkte kurz ansprechen. Erstens. Wir brauchen im Verfassungsvertrag eine nachvollziehbare Kompetenzordnung, eine klare Kompetenzabgrenzung - was macht Brüssel, was macht Berlin, was machen die Landesregierungen in Düsseldorf oder in München? -, die für den Parlamentarier und für den Bürger nachvollziehbar ist, und keine Ausweitung der Kompetenzen, so wie es sich jetzt abzeichnet. Von 1998 bis 2001 hat die Europäische Union allein im Umweltrecht 1 500 Rechtsakte erlassen! Zweitens. Die Zuständigkeiten liegen grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten. Neue Zuständigkeiten der EU müssen daher ausdrücklich mittels konkreter und klarer Einzelermächtigungen begründet werden. Herr Professor Meyer, die zuletzt vorgeschlagenen Zielbestimmungen - Vollbeschäftigung, Daseinsvorsorge, Gesundheitsschutz usw. - sind zu weit gefasst, da sie weit über die Handlungsbefugnisse der EU hinausgehen. Drittens. Die Europäische Union sollte nicht das Recht zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik besitzen - das ist jetzt vorgesehen -; denn eine Koordinierung der Wirtschaftspolitik, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Besuchertribüne und außerhalb des Plenarsaals, würde bedeuten, dass Brüssel in Zukunft die Generalermächtigung für die Bereiche der Arbeitsmarkt-, Steuerund Sozialpolitik hat. Wenn wir dies wollen, dann können wir sofort den Beschluss fassen, diese Bundesregierung abzuschaffen - das wäre das eine ({2}) und - das wäre das andere - den Bundestag aufzulösen. Wie Sie sehen, bleibt der Beifall an dieser Stelle aus. Auch unsere Bürgerinnen und Bürger wollen nicht, dass es die Bundesregierung und den Bundestag nicht mehr gibt. Viertens. Die Mitgliedstaaten müssen - das ist ein zentraler Punkt, über den sich alle Fraktionen dieses Hauses einig sind; im Europäischen Verfassungskonvent gibt es aber auch Vertreter, die eine entgegengesetzte Auffassung vertreten und das auch durch Änderungsanträge zum Ausdruck bringen - Herren der Verträge bleiben. Es ist daran festzuhalten, dass die Begründung oder die Änderung von Kompetenzgrundlagen, die in Teil I und Teil II des Verfassungsvertrages festgehalten sind, der Ratifikation durch die Parlamente der Mitgliedstaaten bedarf. ({3}) In diesem Punkt gibt es keinen Verhandlungsspielraum, auch nicht für Herrn Brok und andere Delegierte im Konvent. Fünftens - Herr Altmaier hat dies angesprochen -: der Wertebezug des Verfassungsvertrages. Die Europäische Union soll mehr als nur eine Freihandelszone sein. Die Gefahr, dass sie das wird, besteht natürlich, wenn sie um die Türkei, um den Kosovo und vielleicht auf 35 Mitgliedstaaten erweitert wird. Europa ist eine Wertegemeinschaft und deshalb kämpfen wir für einen Wertebezug, auch für einen Gottesbezug in der Verfassung. ({4}) Die Finanzierung der Europäischen Union muss weiterhin auf Beiträgen der Mitgliedstaaten beruhen. Die Schaffung einer Rechtsgrundlage für eine EU-Steuer ist abzulehnen. Wenn ich eine Hochrechnung auf Grundlage der neuen Vorschläge von Barnier anstelle, dann ist davon auszugehen, dass in zwei bis drei Jahren eine Mehrwertsteuererhöhung oder höhere Einnahmen aus der Tabaksteuer für die Finanzierung benötigt werden. Dies wollen wir nicht. ({5}) Der Bereich der Zuwanderung muss in nationaler Verantwortung bleiben. Damit komme ich zu einem zentralen Punkt. Parallel zu dieser Sitzung tagen in Brüssel die Innen- und Justizminister. Die Innen- und Justizminister entscheiden über ein neues Zuwanderungsrecht. Dazu gibt es Vorlagen. Nach den EU-Vorgaben sollen Asylbewerber mehr Leistungen erhalten und Flüchtlinge nach zwölf Monaten den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Das Europäische Parlament hat diese Vorschläge gebilligt und sich am 12. Februar mehrheitlich für eine weitgehende Öffnung des Arbeitsmarkts für Drittstaatler ausgesprochen. Ich spreche dieses aktuelle Beispiel an, weil die theoretische Forderung nach Mehrheitsentscheidungen natürlich Konsequenzen hat. Wenn wir die Mehrheitsentscheidung im Rat und die Mitentscheidung im Europäischen Parlament einführen, ist dieser Beschluss, nämlich die weitgehende Öffnung des Arbeitsmarkts für Drittstaatler, beispielsweise im Bereich der Zuwanderung, europäisches Gesetz, ohne dass sich der Deutsche Bundestag ein einziges Mal damit beschäftigt hat. Dies kann nicht die Zukunft der europäischen Gesetzgebung sein. ({6}) Deshalb gilt es natürlich, bei der Frage „Wo Mehrheitsentscheidungen und wo Einstimmigkeit?“ noch einmal genau hinzuschauen. Leider liegt der entsprechende Teil II des Vertragsentwurfs noch nicht vor, Herr Bury. Das kann man dann auch nicht innerhalb von drei Tagen leisten. Der Kollege Peter Hintze hat eine neue inhaltliche Forderung der CDU/CSU eingeführt. Ich würde mich freuen, wenn die Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen der SPD, der Grünen und der FDP dieses Thema anhand der Thematik „Befassung der Innen- und Justizminister mit der Zuwanderungsfrage“ einmal durchdenken würden. Wir schlagen eine Ergänzung des Art. 23 des Grundgesetzes vor. Wir wollen, dass im Deutschen Bundestag in Zukunft bei der Sekundärrechtsetzung im Zusammenhang mit grundlegenden Entscheidungen des Ministerrats - die Zuwanderungsentscheidung heute Nachmittag ist eine solche - wie folgt verfahren wird: Am Tag vor einer solchen grundlegenden Entscheidung oder in der Woche davor sollte der Innenminister, Herr Schily, in den Deutschen Bundestag kommen, seine Position darlegen, sich bei uns der Diskussion stellen, ein Votum mit nach Brüssel nehmen und so abstimmen, wie es der Deutsche Bundestag ihm mit auf den Weg gegeben hat. ({7}) Das muss die Zukunft sein. Wenn wir so verfahren, dann finden wir auch wieder Resonanz und Interesse beim Bürger und bei den Parlamentariern. Das Entscheidende ist: Wir bekommen wieder die Rückkopplung zum Bürger, zum Volk. Wir dürfen Europa nicht einfach nur obendrüber stülpen. Wir müssen die Themen beim Bürger verankern. Das nationale Parlament ist der Strang, an dem der Bürger die Gesetzgebung nach wie vor festmacht. Wir müssen die Kontrolle gegenüber dem Ministerrat durch diese Grundgesetzänderung effektiv ergänzen. Der Bundesrat hat sich dieses Recht längst geholt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl. Das ist ein Punkt, bei dem sich heute zu meiner großen Freude ein Stück Konsens abgezeichnet hat, bei dem wir aufeinander zugehen können. Wenn das nicht so geschieht, verabschieden wir den Verfassungsvertrag, geben weitgehende weitere Rechte nach Brüssel, an den Ministerrat und an das Europäische Parlament, ab, und in Zukunft wird kein Bürger mehr Interesse an dem haben und Notiz von dem nehmen, was im Deutschen Bundestag passiert. Das wollen wir alle nicht. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich am Schluss dieser Debatte, die wirklich eine Debatte ist, die Vorbildcharakter für das Parlament hat, weil sie sehr sachlich ist und weil sie die wirklich wichtigen Punkte herausarbeitet, noch einmal auf einen Punkt zurückkommen, der in den Beratungen des Konvents jetzt eine große Rolle spielen wird, nämlich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den Weg hin zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion. Wir haben dankenswerterweise den Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Sie fordern, dass die Initiativen des Brüsseler Vierergipfels nicht nur in die Debatte um den europäischen Verfassungskonvent eingebracht werden, sondern ihn auch, wie es im Titel heißt, in diese Richtung vorantreiben. Ich glaube, dass auch angesichts des heutigen historischen Datums des 8. Mai, des Jahrestages der Befreiung unseres Landes von Nationalsozialismus und Diktatur, das Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Frage, wie wir uns den Herausforderungen der Zeit und des internationalen Terrorismus stellen und die Sicherheitspartnerschaft in der NATO gestalten, heute zu behandeln sind, denn all diese Dinge spielen für Europa in Zukunft eine noch stärkere Rolle. Aber nicht nur das, sie müssen auch in der jetzt zu erarbeitenden europäischen Verfassung so strukturiert ausgearbeitet werden, dass diese Verfassung in Europa den Weg für eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungsunion bereitet. Lassen Sie mich auch das noch vorweg sagen: Ich kann zwar verstehen, wenn vonseiten der Opposition - der Kollege Hintze hat es ja getan - noch einmal eine kritische Rückschau auf die Dinge, die im Vorfeld des Vierergipfels geschehen sind, gehalten wird. Das Entscheidende ist aber, jetzt nach vorne zu schauen. Wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben uns die Frage zu stellen, was wir einbringen müssen und einbringen können, damit schon bei den Beratungen des Konvents zur europäischen Verfassung eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wirklich konkrete Gestalt annimmt. Ich finde es in diesem Zusammenhang schon interessant, dass der ehemalige Bundesaußenminister Genscher erklärt hat, dass die Vorschläge des Brüsseler Gipfels nicht nur auf der Linie der EU-Beschlüsse seit 1999 liegen, sondern auch einen richtigen und vernünftigen Beitrag für den Konvent darstellen. ({0}) - Richtig, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, deshalb gehört das in den Konvent hinein. Insofern lassen Sie mich auch noch einige Dinge zur Diskussion im Konvent sagen. Zunächst möchte ich unterstreichen - das erscheint mir für uns ganz wichtig -, dass sich die Initiative des Vierergipfels in vielen Dingen mit dem, was das Präsidium des Konvents vorgeschlagen hat, deckt. Diese Initiative unterstützt also die Dinge, die jetzt vom Präsidium eingebracht worden sind. Ich halte es auch, trotz aller Diskussionen im Zusammenhang mit diesem Vierergipfel, für sehr wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass die daran beteiligten Regierungen, also auch die Bundesregierung, ausdrücklich gesagt haben, dass ihre Initiativen zur Schaffung einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitsunion eine Stärkung des europäischen Pfeilers im transatlantischen Bündnis zum Inhalt haben. Dieser Punkt ist sehr wichtig; wir sollten ihn nicht zerreden, sondern da auch die Beteiligten beim Wort nehmen. ({1}) Die von uns gewünschte Stärkung kann aber nur erzielt werden, wenn wir alle Mitgliedstaaten - da rede ich jetzt nicht von den derzeit 15, sondern von den zukünftig 25 Mitgliedstaaten - auf diesen Weg mitnehmen und ihnen die Chance zur Beteiligung geben. Es ist auch ausdrücklich im Vorfeld und auch nach dem Vierergipfel gesagt worden, dass es sich bei der Initiative nicht um einen Closed Shop handelt, sondern sie in die Richtung gehen soll, im Konvent Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, alle Mitgliedstaaten auf den Weg hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mitzunehmen. Es lohnt sich deswegen auch noch einmal ein genauer Blick in den Entwurf für den Konvent, den das Präsidium vorgelegt hat. Ich bitte dabei die Kollegen Altmaier und Professor Jürgen Meyer, noch einmal auf einen Punkt in den Beratungen des Konvents ganz besonders zu achten: Im Verfassungsentwurf finden wir unterschiedliche Möglichkeiten der Zusammenarbeit: einmal die strukturierte Zusammenarbeit in Fragen von Sicherheit und Verteidigung sowie die engere Zusammenarbeit. So weit, so gut. Man muss aber insbesondere darauf achten, dass es bezüglich der strukturierten Zusammenarbeit heißt, dass hohe Ansprüche an die militärischen Fähigkeiten der EU-Mitgliedstaaten gestellt werden sollen, die daran teilhaben wollen. An der Stelle müssen wir darauf aufpassen, dass wir nicht im Verfassungsentwurf durch die Unterscheidung in strukturierte und vertiefte Zusammenarbeit ein Konstrukt schaffen, das das Ziel, alle auf den Weg hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mitzunehmen, erschwert. Es ist meine Bitte an die Konventsmitglieder, an dieser Stelle noch einmal genau aufzupassen. ({2}) Ich glaube, dass in diesem Punkt auch die Erklärung der vier Staaten vom Brüsseler Gipfel weiter geht. Dort heißt es ausdrücklich, dass es allen Staaten, die es wünschen, ermöglicht werden soll, im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit tiefere und weitgehendere militärische Verpflichtungen einzugehen. Dieser Geist von Brüssel, alle einzuladen und ihnen entsprechend ihren Fähigkeiten die Chance zu geben, mitzuwirken, ({3}) sollte auch die Leitlinie für die Beratungen im Konvent sein. ({4}) Wenn wir alle mitnehmen wollen, dann ist es wichtig, dass wir bereit sind, voranzugehen, als Bundesrepublik Deutschland das Signal zu setzen, dass wir auch in diesem Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bereit sind, nationale Souveränität abzugeben. Deswegen will ich an dieser Stelle die Vorschläge des Kollegen Professor Meyer ausdrücklich unterstützen, der im Konvent gesagt hat, dass wir für die GASP eine qualifizierte Mehrheit brauchen, dass wir wegmüssen von den einstimmigen Entscheidungen und dass es - so schlägt Professor Meyer vor, auch um Ängste zu beseitigen - auch bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik am Ende das Ziel sein muss, zu erhöhten qualifizierten Mehrheiten zu kommen. Ich glaube, das ist der richtige Weg. Wir sollten diese Initiative als deutsche Regierung und als deutsche Parlamentarier unterstützen. ({5}) Wenn alle auf dem Weg mitgenommen werden sollen, muss auch auf nationale Eigenheiten eingegangen werden können. Gerade vor dem Deutschen Bundestag betone ich, dass der Parlamentsvorbehalt für mich essenzieller Bestandteil der deutschen Kultur ist, wenn es um militärische Entscheidungen geht, und dass dieser Parlamentsvorbehalt deshalb nicht stiekum über eine europäische Verfassung oder über europäische Entscheidungen ausgehöhlt werden darf, zumindest so lange nicht, wie es keine Parlamentarisierung der europäischen Verteidigungspolitik hin zum Europäischen Parlament gibt. Wenn es einen Parlamentsvorbehalt für das Europäische Parlament gäbe, könnten wir uns darüber sicherlich auch im nationalen Entscheidungsrahmen unterhalten, aber solange das nicht der Fall ist, muss es hier in diesem Hause den Parlamentsvorbehalt bei militärischen Entscheidungen geben. ({6}) Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen: Die große Chance, in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik durch den jetzt zu verabschiedenden Verfassungsentwurf zu guten Regelungen zu kommen, ist da und wir sollten sie gemeinsam nutzen. Sie ist auch eine Herausforderung; denn ich glaube, nur wenn wir es schaffen, durch eine gute europäische Verfassung eine Grundlage zu schaffen, die uns zwingt, uns alle miteinander zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zusammenzuraufen, haben wir die Möglichkeit, durch eine solche Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an Gewicht zu gewinnen, und zwar - das betone ich an dieser Stelle - nicht gegen die USA, nicht gegen die transatlantische Zusammenarbeit. Im Gegenteil, wer für die transatlantische Zusammenarbeit ist, braucht ein starkes Europa. Nur dann kann sie funktionieren. In diesem Sinne hoffe ich, dass der Konvent zu guten Ergebnissen kommt. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 15/950. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Die Grünen auf Drucksache 15/548 mit dem Titel „Der europäischen Verfassung Gestalt geben - Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren vereinfachen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/577 mit dem Titel „Das neue Gesicht Europas - Kernelemente einer europäischen Verfassung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/ CSU angenommen. Zusatzpunkte 6 und 7: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/918 und 15/942 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie Zusatzpunkt 8 auf: 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Heinz Seiffert, Leo Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Förderung des Finanzplatzes Deutschland - Drucksache 15/748 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Finanzplatz Deutschland weiter fördern - Drucksache 15/930 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt zwei Faktoren, die den Finanzmarkt von anderen Märkten abheben: Erstens ist hier der internationale Konkurrenzdruck besonders hoch. Zweitens hat der Finanzmarkt eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung. Ein gut funktionierender Finanzmarkt mit einem modernen rechtlichen Rahmen ist eine notwendige Voraussetzung für eine gut funktionierende Volkswirtschaft. Aus diesen Gründen muss die Politik die Finanzmarktentwicklung aktiv begleiten und gestalten. Traditionell herrscht hierüber in diesem Hohen Hause Einigkeit und dementsprechend ein kooperativer Geist. Von daher stimmen wir einigen Vorschlägen aus dem Eckpunktepapier von Bundesminister Eichel zum Finanzmarktförderplan 2006 zu. Gleiches gilt - zumindest auf dem Papier auch für den von den Regierungsfraktionen vorgelegten Antrag. Aber wie alles, was uns Rot-Grün zur Überwindung des wirtschaftlichen Stillstands in Deutschland präsentiert, ist der Plan Eichels kein Teil eines schlüssigen Gesamtkonzepts. Es werden einzelne Punkte formuliert, ohne dass absehbar wäre, welches Ziel Rot-Grün erreichen möchte. Das Thema Finanzplatz ist sehr komplex. Deshalb ist in diesem Bereich ein umfassender politischer Ansatz notwendig. Einen solchen Ansatz bietet unser Antrag „Förderung des Finanzplatzes Deutschland“ auf Drucksache 15/748, der nicht ohne Grund 50 Punkte umfasst. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass wir es angesichts der Vielschichtigkeit des Themas für sehr unglücklich halten, dass die Zahl der zur geplanten Anhörung geladenen Sachverständigen auf zwölf begrenzt wurde. Meine Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und ich sind einhellig der Auffassung, dass diese mit den Stimmen der übrigen Fraktionen beschlossene Einschränkung bei diesem Thema unangemessen ist. ({0}) Wir hätten sehr gerne noch mehr hochkarätigen Sachverstand gehört oder man hätte sich von Anfang an auf ein internes Fachgespräch beschränken sollen. Doch zurück zu unserem Antrag. Er verbindet eine klare Konzeption mit konkreten Detaillösungen. Nur wer beides, übergeordnetes Ziel und untergeordnete Schritte zur Erreichung des Zieles, zusammen betrachtet, kann eine gute Finanzmarktpolitik betreiben. Unsere Konzeption ist klar: bewährte Strukturen des Finanzplatzes Deutschland behutsam weiterentwickeln und klare Rahmenbedingungen schaffen, damit die Marktteilnehmer ihre Aufgaben weiterhin optimal erfüllen können. Die Schaffung optimaler Finanzierungsbedingungen für die gesamte deutsche Volkswirtschaft und insbesondere auch für den Mittelstand ist dabei unser Leitmotiv. ({1}) Wir bleiben jedoch nicht bei der Definition des Zieles stehen. Vielmehr zeigen wir detailliert auf, welche Schritte notwendig sind, um seitens der Finanzmarktpolitik zu mehr Wachstum und Beschäftigung beizutragen. Neben den grundsätzlichen Punkten - hier geht es etwa um die Zukunft der Dreigliedrigkeit des deutschen Bankensystems sowie um die Umsetzung der EU-Finanzmarktpolitik - legen wir in fünf Schwerpunktbereichen konkrete Vorschläge vor. Diese fünf Bereiche sind: erstens der rechtliche Rahmen, zweitens das Thema Altersvorsorge, drittens die Frage der Bilanzierungsregelungen, viertens das Thema Aufsicht sowie fünftens steuerrechtliche Rahmenbedingungen. Im Folgenden möchte ich kurz einige ausgewählte Einzelpunkte nennen. Im Bereich des rechtlichen Rahmens plädieren wir unter anderem für eine Fortentwicklung des Übernahmerechts. Wir fordern zudem einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen von Anlegern, Emittenten und Marktintermediären. Es gilt hier, übertriebenen Anlegerschutz zu vermeiden. Besonders wichtig, auch mit tagesaktuellem Bezug, scheint uns zudem die rechtliche Förderung von Verbriefungsmärkten, den so genannten Asset Backed Securities, zu sein. Des Weiteren sprechen wir uns konkret für eine Verstärkung und Fortentwicklung der Corporate Governance aus. Wir sind - übrigens im Einklang mit den rot-grünen Vorschlägen - der Ansicht, dass sich die bisherige Struktur der öffentlich-rechtlichen Börsenorganisation bewährt hat. Im Bereich der Rechnungslegung und Bilanzierung sollten die von der EU ermöglichten Wahlrechte bei der Einführung des Standards IAS weitgehend ausgeschöpft werden. IAS sollte nicht für die Steuerbemessung relevant sein. Wie bereits kurz erwähnt, plädieren wir mit der Bundesregierung und den Fraktionen von Rot-Grün für die Schaffung einer privatrechtlichen EnforcementInstitution. Ebenfalls ein hohes Maß an interfraktioneller Übereinstimmung besteht im Bereich der Kapitalmarktund Bankenaufsicht. Dies ist insbesondere beim Thema Basel II der Fall, bei dem wir im Finanzausschuss immer wieder an einem Strang gezogen, zur Verblüffung einiger also dieselbe Richtung eingeschlagen haben. Allerdings gehen wir bei der Aufsicht über das hinaus, was die Regierung und die rot-grünen Fraktionen vorschlagen. So fordern wir etwa eine klare Regelung für graue Kapitalmärkte sowie die Ansiedlung europäischer Bankaufsichtsgremien auch in Deutschland. Wir setzen uns für eine erhöhte Rechtssicherheit für ausländische Finanzdienstleister ein. Last, but not least möchte ich auf die Notwendigkeit zu sprechen kommen, den Finanzplatz Deutschland auch im Bereich der Steuergesetzgebung zu unterstützen. Auch hier unterbreiten wir konkrete Vorschläge: Verzicht auf Kontrollmitteilungen, ({2}) Einführung einer Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge, Beseitigung der steuerlichen Benachteiligung von Auslandsfonds. Zur steuerpolitischen Flankierung des Finanzplatzes haben sich nun auch die Fraktionen von Rot-Grün in ihrem Antrag geäußert. Man sollte sich einmal auf der Zunge zergehen lassen, was Rot-Grün im vorliegenden Antrag fordert - ich zitiere -: Steuerliche Regelungen, die den Standort Deutschland fördern, stärken auch den Finanzplatz Deutschland. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, zu dieser Erkenntnis könnte man Ihnen eigentlich nur gratulieren. Es scheint fast so, als ob Sie seit dem unsäglichen Entwurf zum Steuervergünstigungsabbaugesetz dazugelernt hätten. Dieser Eindruck drängt sich noch mehr auf, wenn man weiterliest - ich zitiere wiederum -: Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei der Ausgestaltung steuerlicher Maßnahmen stärker deren Auswirkungen auf die Finanzierungsbedingungen der Unternehmen und den Finanzplatz Deutschland zu berücksichtigen … Wer hat in den letzten fünf Jahren die steuerpolitischen Beschlüsse der Regierung flankiert und als Regierungsfraktion unterstützt? Jetzt aber fordert man die eigene Regierung auf, etwas zu unternehmen, was man vorher selber in eine andere Richtung entwickelt hat. ({3}) Ich darf in Erinnerung bringen: Noch vor einigen Wochen wollten Sie in einem Gesetzentwurf Verlustvorträge beschränken, Abschreibungsmöglichkeiten verschlechtern und die Verlustverrechnung bei Unternehmensübernahmen verbieten. Dies alles waren Maßnahmen, die die Finanzierungsbedingungen nachhaltig verschlechtert hätten und die wir verhindert haben. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn Sie endlich begreifen würden, auf was es im Bereich der Finanzierungsbedingungen für Unternehmen ankommt, um endlich durch anständige Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu sorgen. ({4}) Ich glaube aber nicht daran, dass Sie diesen Erkenntnisprozess schon vollzogen haben. Sie haben im Schnellverfahren einen Antrag in Ihrer Fraktion durchgedrückt - er liegt jetzt vor -, den wahrscheinlich insbesondere die SPD-Linke noch gar nicht richtig gelesen hat. Wissen Sie, was passiert, wenn die Damen und Herren, die momentan im sozialpolitischen Bereich jeden Mut zur Veränderung vermissen lassen, begreifen, was im vorliegenden SPD-Antrag im steuerpolitischen Teil gefordert wird? ({5}) Dann beginnt Ihre steuerpolitische Kakophonie von vorne, die wir nun seit Jahren erdulden müssen. Begreifen Sie denn nicht, wie schädlich dieses ewige Hin und Her für das Vertrauen von Investoren, Unternehmen und Konsumenten ist? ({6}) Die mangelnde Verlässlichkeit von Rot-Grün ist gerade in der Steuerpolitik ein massives Hindernis dafür, die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands voranzutreiben. Deshalb: Unterlassen Sie Ankündigungen, die Sie ohnehin nicht einhalten können, ja wahrscheinlich in Ihrer Gesamtheit noch nicht einmal einhalten wollen! Die in Ihrem Antrag genannten Vorschläge zur steuerpolitischen Flankierung des Finanzplatzes Deutschland sind in Anbetracht dessen, was Sie in den letzten fünf Jahren hier abgeliefert haben, völlig unglaubwürdig. ({7}) Unser Antrag hingegen passt auch steuerpolitisch in das Gesamtkonzept der Union. Die Punkte, die ich hierzu genannt habe - keine Kontrollmitteilungen, grundsätzliche Zustimmung zu einer Abgeltungsteuer auf alle Kapitalerträge im Rahmen eines in sich stimmigen Gesamtkonzeptes -, machen dies deutlich. Was bleibt als Fazit? Der Antrag zum Finanzplatz Deutschland vollzieht im Bereich Finanzmarktpolitik das nach, was für die Union in der Wirtschafts- und Finanzpolitik das Leitmotiv ist: gute Rahmenbedingungen schaffen, sodass die privaten Marktakteure mehr Wachstum und Beschäftigung generieren können. Wir sind gerne bereit, in den Bereichen, in denen wir das Gleiche wollen, zusammenzuarbeiten. Ich erwähne hierzu noch einmal: Basel II, bessere Vertretung deutscher Interessen auf EU- bzw. auf internationaler Ebene und die Förderung des ABS-Markts. Aber hören Sie auf, vorschnelle Anträge einzubringen, deren zentrale Forderungen in Ihren eigenen Fraktionen so nicht durchsetzbar sind! Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Nina Hauer, SPDFraktion. ({0})

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Herr Dautzenberg, Sie haben die Ziele des CDU/CSU-Antrags geschildert und unsere Instrumente genannt, mit denen diese Ziele - die wir auch haben - erreicht werden sollen. Sie machen immer wieder Anwürfe auf unsere Steuerpolitik, jetzt auch auf das, was in unserem Antrag zur Steuerpolitik enthalten ist. Sie müssen sich einmal die Vorstellungen zur Steuerpolitik, die in Ihrem Antrag enthalten sind, anschauen: Da fordern Sie weiterhin eine massive Absenkung der Steuersätze in Deutschland. ({0}) Bei dieser Haushaltslage, Herr Dautzenberg, ist das grob fahrlässig. Fragen Sie einmal die Ministerpräsidenten der von Ihnen regierten Länder, ob sie eine weitere Senkung der Steuersätze verkraften! Herr Dautzenberg, ausgerechnet in Hessen, sozusagen in der Heimat des Finanzplatzes in Deutschland, wird der Haushalt verfassungswidrig, wenn man die Steuerpolitik betreiben würde, die Sie hier vorschlagen. ({1}) Das kann kein ernsthafter Umgang und keine ernsthafte Stärkung des Finanzplatzes in Deutschland sein. ({2}) Sie wissen genau: Das, was der Finanzplatz an Steuerpolitik brauchte, haben wir mit viel Kraft und auch mit viel Erfolg begonnen. Wir haben die Steuersätze breit gesenkt: bei den Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen, aber natürlich auch bei den Unternehmen. Wir haben den niedrigsten Körperschaftsteuersatz aller Zeiten. Wir haben viel Kraft aufgewendet, um den Standort Deutschland auch in dieser Hinsicht wieder wettbewerbsfähig zu machen, ({3}) und zwar so, dass es für die öffentlichen Haushalte verkraftbar bleibt. Ich denke, dass die Zeichen, die wir für den Investitionsstandort Deutschland, aber auch für den Finanzplatz Deutschland gesetzt haben, deutlich waren. Wenn Sie sich die Auslandsinvestitionen anschauen, dann sehen Sie, dass wir mit unserem Weg großen Erfolg gehabt haben. ({4}) Sie sprechen immer wieder die Abgaben an. Da sind wir wahrscheinlich sogar einer Meinung - nicht über die Ursachen, aber über die Ziele. Auch wir wollen die Belastungen, die mit dem Faktor Arbeit einhergehen - wir haben diese Belastungen in Rekordhöhe von Ihnen geerbt - reduzieren. Das nützt unserem Standort und das nützt letztendlich denen, die an diesem Standort Arbeit suchen und Unternehmen gründen. ({5}) Wir haben in den letzten Jahren einiges für die Stärkung des Finanzmarktes getan, an das ich hier noch einmal erinnern will. Wir haben mit dem Übernahmegesetz rechtlich verbindliche Regelungen für die Übernahme börsennotierter Unternehmen geschaffen. Gerade die Umstrukturierungen in der internationalen Wirtschaft zeigen, dass wir diese Regelungen zum richtigen Zeitpunkt geschaffen haben und dass sie gut anwendbar sind. Mit der geänderten Struktur haben wir der Bundesbank die Chance gegeben, als Vertretung der deutschen Volkswirtschaft innerhalb der Europäischen Union unseren Interessen Gewicht zu verleihen. Wir haben mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht eine moderne Aufsichtsbehörde gegründet, die dazu beitragen wird, dass die vielen Produkte und die sektorübergreifenden Innovationen, die am Finanzmarkt zu finden sind, jetzt auch mit einer gemeinsamen Aufsicht kontrolliert werden können. Das war vorher nicht der Fall. Das gehört im europäischen Rahmen mittlerweile dazu; unsere BaFin ist auch in dieser Hinsicht vorbildlich. ({6}) Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur GmbH haben wir das Schuldenmanagement des Bundes ausgelagert, um sicherzustellen, dass wir für den Bundeshaushalt nicht unnötig Gelder verlieren, dass wir auf Entwicklungen am Markt leichter und ohne großen Aufwand reagieren und auch dazu beitragen können, dass das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit am Finanzmarkt auch von staatlicher Seite erhalten bleibt. Mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz haben wir den Handlungsspielraum für die Börsen erweitert. Das ist die wichtigste Plattform des Finanzmarktes für den Handel. Für den Anlegerschutz im Aktiengeschäft haben wir das Bild des Verbrauchers überhaupt erst ins Gesetz aufgenommen, für bessere Aufsicht gesorgt und dazu beigetragen, dass auch da Schadensersatzforderungen geltend gemacht werden können. Das, was bei jedem anderen Kauf möglich ist, muss auch am Finanzmarkt möglich sein. Abgesehen davon haben wir hier höhere Transparenzanforderungen gestellt. Nun ist der Finanzmarkt aber keine starre Angelegenheit, die sich über viele Jahre nicht verändert; im Gegenteil. Im Moment gibt es viele Veränderungen. Es gibt neue Finanzprodukte, es gibt neue innovative Ideen im Ausland, aber natürlich auch an unserem Finanzplatz. Allein durch die Regelungen für die Altersvorsorge im Rahmen der Rentenreform eröffnen sich neue Innovationsmöglichkeiten, die in den nächsten Jahren ein immer größeres Gewicht bekommen werden. Wir sind uns wahrscheinlich alle darüber einig, dass die Altersvorsorge in den nächsten Jahren eine immer größere Rolle spielen wird und der Kapitalmarkt dafür natürlich große Chancen bietet. Es gibt dort sicher viele Möglichkeiten, die wir heute vielleicht noch gar nicht sehen. Es ist deshalb notwendig, den Innovationen auch in diesem Bereich den Weg zu ebnen. Das Investmentgeschäft wird in den nächsten Jahren eine größere Rolle spielen. Die Unternehmensumstrukturierungen verlangen das. Durch die veränderten Vorschriften, die wir im Rahmen von Basel II diskutieren, gibt es auf dem Markt auch noch ganz andere Veränderungen, zum Beispiel die Ratingagenturen. Wir tun gut daran, schon jetzt zu prüfen, wie wir denen die Türen nach Deutschland öffnen und dafür sorgen können, dass sie ihre Arbeit hier unter bestimmten Bedingungen machen können. Das ist ein Markt, in dem wir noch nicht gut vertreten sind. Das gehört aber zu einem Finanzplatz. Wir tun unseren kleinen Unternehmen, die sich diese Dienstleistung nicht auf dem internationalen Markt kaufen können, Gutes, wenn wir diese Agenturen auch in Deutschland zur Verfügung haben. ({7}) Zur Verbriefung von Bankforderungen: Dieser Tage steht in allen Medien der Finanzwelt, dass diesbezüglich die erste Gesellschaft gegründet werden soll. Wir haben mit unserem Kleinunternehmerförderungsgesetz bereits einen Anstoß gegeben, die Verbriefung von Kreditforderungen zu erleichtern. ({8}) Wir haben in diesem Bereich insbesondere für die kleinen Unternehmen noch einiges zu erledigen. Letztendlich zeigen die verschiedenen Entwicklungen, dass der Finanzmarkt jedes Interesse hier im Deutschen Bundestag verdient, weil er ein Motor für Beschäftigung, für wirtschaftliches Wachstum und für neue innovative Produkte, die wir anbieten können, ist und in Zukunft noch verstärkt sein wird. Das bedeutet natürlich auch, dass in diesem Bereich auf die Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geachtet werden muss, dass wir am Ball bleiben müssen, um in diesem Bereich das beste Ausbildungsangebot zu haben. Wir müssen natürlich auch alle Entwicklungen um den Finanzplatz Deutschland herum beobachten und erforschen. Es wird ein neues Feld für Beratungen geben, und zwar nicht nur für den Bereich der Altersvorsorge, sondern für alle Bereiche, die mit dem Kapitalmarkt zu tun haben. Die Menschen interessieren sich dafür, legen trotz der schlechten Situation am Aktienmarkt viel Geld in Aktien oder Fonds an. Diese brauchen Beratung. Ich denke, dass sich allein in diesem Sektor beschäftigungspolitisch einiges tun wird. Nicht zuletzt wird es bis 2005 einen einheitlichen europäischen Finanzmarkt geben. Die europäische Wertpapierdienstleistungsrichtlinie wird derzeit überarbeitet. Gerade weil das bei den kleinen und unabhängigen Finanzdienstleistern immer wieder Thema ist, will ich noch einmal deutlich machen: Ziel unserer Fraktion bei diesen Verhandlungen ist es, unnötige Belastungen in diesem Bereich zu vermeiden, dafür zu sorgen, dass nicht mehr Bürokratie aufgehäuft wird und die Wettbewerbsfähigkeit gerade der kleinen und unabhängigen Finanzdienstleister erhalten bleibt, und zwar am deutschen Finanzmarkt, aber auch international. Wir reagieren auf die Veränderungen am Finanzmarkt. Wir sind weiterhin der Meinung - dazu nehmen wir auch in unserem Antrag Stellung -, dass wir eine zentrale Aufsicht über die Börsen brauchen und dass eine Zusammenführung stattfinden muss. Auch wenn einige Länder das vielleicht nicht so sehen, ist dies dringend notwendig. Die deutsche Börse ist das Asset unseres Finanzmarktes. Dafür brauchen wir eine zentrale Aufsicht. Wir stellen mit dem Finanzmarktförderplan die notwendigen Weichen. Ein Investmentgesetz muss kommen. Sie, Herr Dautzenberg haben das angesprochen. Wir sind einer Meinung: Wir wollen die Wettbewerbsnachteile in diesem Bereich beseitigen, die Genehmigungsverfahren straffen, die gesamte rechtliche Grundlage flexibler machen und letztendlich die steuerlichen Regelungen überarbeiten, damit ausländische und inländische Fonds in gleicher Weise behandelt werden. Wir gehen auch einen mutigen Schritt bei der Zulassung von Hedgefonds. Wir sind der Meinung, dass es mittlerweile möglich ist, in diesem Bereich die Anlegersicherheit durch Information und Transparenz zu gewährleisten. Einen rechtlichen Schutz mag es für denjenigen, der das Risiko eingehen will, in Hedgefonds zu investieren, nicht geben. Wir müssen die Anleger aber über die Risiken informieren. Das tun wir, indem wir eine Informationspflicht einführen wollen. Diese gibt es in anderen Ländern bereits, in denen auf die Möglichkeit eines Totalverlustes hingewiesen werden muss. Ich glaube, dass unter diesen Bedingungen auch der deutsche Finanzmarkt reif dafür ist, dass Hedgefonds zugelassen werden können. ({9}) Wir wollen alle rechtlichen Regelungen durchforsten, wie die Möglichkeiten einer Verbesserung des Rahmens für die Emission von Asset Backed Securities sind und wie in diesem Bereich ein Handel ermöglicht werden kann. Für die Banken, aber auch für die Unternehmen ist das ein zentrales Thema. Wir haben auf die Tagesordnung natürlich auch die Stärkung des Anlegervertrauens gesetzt. Diesen Punkt vermisse ich in Ihrem Antrag leider völlig. Es ist nicht so, dass viele Regularien und Gesetze den Anleger schützen. Die Anleger in Deutschland haben heute viel mehr Erfahrungen mit dem Finanzmarkt, als das noch vor zwei oder drei Jahren der Fall war. ({10}) Aber wir müssen gewährleisten, dass es Transparenz gibt, damit die Anleger nachvollziehen können, welches Risiko bei einem bestimmten Produkt besteht, welche Chancen es gibt, wie es finanziert wird, wer es anbietet und wie es funktioniert. Sie müssen die Möglichkeit haben, auf diese Informationen zuzugreifen. Deswegen legen wir Wert darauf, den Anlegerschutz weiter zu stärken. Zu diesem Zweck werden wir die Regelungen dafür klarer machen und öffentlich dafür werben. Ein starker Finanzmarkt bedeutet nicht nur das Vorhandensein starrer Regulierungen und die Bevormundung des Anlegers - das sieht man auch im internationalen Vergleich -, sondern das Vorhandensein von Transparenz und klaren Haftungsregelungen. Ich finde, es war an der Zeit, zu fragen, wieso Vorstände und Aufsichtsräte für den Unfug, den sie verzapfen, nicht mit ihrem eigenen Vermögen haften. Dieser Gedanke ist in unserem 10-Punkte-Programm enthalten. Wenn etwas schief geht, weil Manager ihren Job nicht richtig machen, sind die Beschäftigten, um deren Arbeitsplätze es geht, wie auch die Anleger, um deren Aktien es geht, betroffen. Aber diejenigen, die dafür verantwortlich sind, sind nie betroffen. Deswegen glauben wir, dass die Prüfung einer Organhaftung, die diejenigen, die die Verantwortung tragen, einbezieht, dringend notwendig ist. ({11}) Ich glaube, wir tun unserem Finanzmarkt einen Gefallen, wenn wir zu mehr Transparenz und zu mehr Sicherheit für den Anleger kommen. Dann wird er wettbewerbsfähig sein und für diejenigen, die hier investieren wollen - ob aus dem Ausland oder dem Inland -, attraktiv bleiben. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hatte bereits im Januar einen Antrag zu diesem Thema eingebracht. Die anderen Fraktionen sind dem nun gefolgt. Das sage ich völlig ohne kritischen Unterton, weil man bei Durchsicht dieser Anträge zu dem Ergebnis kommen kann, dass gemeinsam, über die Fraktionsgrenzen hinweg eine vernünftige Initiative gestaltet werden könnte. ({0}) Sicher gibt es Bereiche, bei denen wir uns nicht treffen werden; gerade in der Steuerpolitik dürfte das schwierig werden. Aber angesichts der finanzmarktspezifischen Anregungen in den verschiedenen Anträgen glaube ich, dass es möglich sein sollte, eine gemeinsame Initiative zu starten. Diese wäre für die Stabilität, für das Ansehen und für das Vertrauen des deutschen Kapital- und Finanzmarktes dringend notwendig. Es wäre sehr hilfreich, wenn uns das gelingen würde. ({1}) In meiner sehr kurzen Redezeit will ich nur einige allgemeine Bemerkungen machen und nicht auf Einzelheiten eingehen. Erste Bemerkung: Es geht darum, dass die Rahmenbedingungen für den Finanzmarkt in Deutschland ökonomisch so gestaltet werden, dass wir mit den zentralen Finanzplätzen auf dem Kontinent, aber auch - global gesehen - in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Japan wettbewerbsfähig sind. ({2}) Das heißt, wir dürfen uns nicht daran orientieren, was wir gerne hätten, sondern daran, was der Wettbewerb uns vorgibt. Wir sind nicht in der Lage, das zu bestimmen. Wir müssen dafür Sorge tragen - das liegt schließlich in unserer Verantwortung -, dass der Kapitalmarkt in Deutschland wieder so funktionsfähig wird, dass insbesondere die mittelständische Wirtschaft, die heute aus mehrerlei Gründen größte Probleme hat, ihre Investitionen zu finanzieren, wieder die Chance erhält, über einen funktionsfähigen Kapitalmarkt an Fremd- und Eigenkapital heranzukommen. ({3}) Wenn uns das nicht in kürzester Frist gelingt, wird die Zahl der Insolvenzen weiter dramatisch zunehmen. Das kann die deutsche Volkswirtschaft wirklich nicht mehr verkraften. Zweite Bemerkung: Man muss erkennen, welche Bedeutung der Kapitalmarkt für diese ökonomischen Zusammenhänge hat und dass die Rahmenbedingungen so gestaltet werden müssen, dass das Vertrauen wiederhergestellt werden kann. Ich weiß, dass wir uns in wesentlichen Punkten der Steuerpolitik nicht treffen werden; das muss aber nicht Kern dieser Diskussion sein. Ich muss aber zugeben, dass die Bundesregierung lernfähig ist. Die Diskussion über die Abgeltungsteuer zeigt, dass hier eine gewisse Bereitschaft besteht, einen vernünftigen Weg zu beschreiten. Ich hoffe, dass auch die Mehrheiten in den dazugehörigen Fraktionen das so sehen werden. Wir wollen abwarten, bis die Bundesregierung ihre Entwürfe vorlegt. ({4}) Es geht aber nicht nur um die steuerlichen Rahmenbedingungen, sondern auch um die Börsen- und Finanzmarktaufsicht sowie um die staatsanwaltschaftliche Überprüfung von möglicherweise auftretenden wirtschaftskriminellen Machenschaften. Das alles ist notwendig, um bei den Investoren, dem großen Publikum weltweit, Vertrauen zu schaffen, damit sie das Gefühl haben, dass es eine sichere Sache ist, in der Bundesrepublik Deutschland Geld anzulegen, und dass sie nicht Gefahr laufen, hier über den Tisch gezogen oder betrogen zu werden. Hier bedarf es also einer strikten Kontrolle, die nicht schlechter, sondern eher besser als in den Vereinigten Staaten sein muss, wenn ich an die Dinge denke, die in den letzten Jahren dort vorgekommen sind. ({5}) Frau Staatssekretärin, ich glaube, wir haben alle Chancen, das Umfeld so zu gestalten, dass wir einen solchen Vertrauenshorizont in Deutschland aufbauen können. Die Börsenaufsicht ist heute noch Ländersache. In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass es dringend erforderlich ist, dass Bund und Länder zusammenkommen, um eine gemeinsame Aufsicht zu organisieren. Der ehemalige Wirtschaftsminister in Hessen, der jetzt leider nicht mehr im Amt ist, Dieter Posch - er ist Mitglied meiner Partei -, hatte bereits vor der Landtagswahl angekündigt, dass er bereit wäre - er führte die zentrale Aufsicht durch, da Frankfurt der zentrale Börsenplatz ist -, seine Rechte in ein solches gemeinsames Objekt einzubringen, damit es zu einer gemeinsamen Börsenaufsicht für die Bundesrepublik Deutschland kommen kann. Das internationale Publikum kann die bisher gegebene Aufsplitterung nämlich überhaupt nicht verstehen. Wir müssen hier zentraler denken; denn der deutsche Finanzmarkt wird als ein einheitlicher Finanzmarkt angesehen. Man sieht nicht die einzelnen Börsen in Düsseldorf, Stuttgart und wo auch immer. Das muss einheitlich geregelt werden. Schließlich möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen. Von besonderer Bedeutung für den Finanzplatz Deutschland ist natürlich die Gestaltung unserer Altersvorsorge. Der Schritt der rot-grünen Regierung in die private Altersvorsorge war aber richtig. Das haben wir als FDP immer so gesehen und unterstützt. Die Umsetzung war aber eine Katastrophe. Die vielen einschränkenden Bedingungen und bürokratischen Auflagen haben dazu geführt, dass dieses Instrument keinen, jedenfalls nicht den notwendigen, Erfolg am Markt erzielt hat. Wenn es gelänge, diese unnötigen Einschränkungen und bürokratischen Regelungen abzuschaffen eigentlich brauchen wir bei der privaten Altersvorsorge nur eine Bedingung, nämlich dass sie der Altersvorsorge dient und nur ab einem gewissen Alter ausgezahlt wird; alles andere ist unnötig -, würde dadurch ein riesiges Finanzvolumen freigesetzt. Dies soll der deutschen Volkswirtschaft in ihrem Investitionsprozess und den deutschen privaten Haushalten bei ihren Investitionen, etwa beim Hausbau, dienen. Dies würde auch die Refinanzierung der deutschen Investitionen deutlich verbessern und verbilligen und eine große Unterstützung für den Finanzplatz Deutschland bedeuten. Ich meine, wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass wir in diesem Bereich vorankommen. Ich hoffe, die Anhörung bringt vernünftige Ergebnisse. Ich halte den Streit, der hierzu geführt worden ist, für unnötig. Ich wünsche mir, dass wir zu einer gemeinsamen Initiative kommen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bündnis 90/Die Grünen.

Hubert Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003649, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Solms, Sie haben in meinen Augen gerade ein gutes Beispiel dafür abgeliefert, wie man auch fraktionsübergreifend über ein ganz zentrales Anliegen, nämlich den Finanzplatz Deutschland, einmal positiv reden kann. Wir leiden in ganz starkem Maße darunter, dass wir in diesem Parlament vieles überflüssigerweise schlecht reden. Das trifft natürlich ganz besonders für die Opposition zu. Herr Dautzenberg, Sie haben dies heute nur ansatzweise und nicht in der Form gemacht, wie es Ihre Fraktion normalerweise tut. ({0}) Wir sollten die Diskussion über den Finanzplatz Deutschland exemplarisch dazu nutzen, vorwärts gerichtet zu argumentieren, damit wir alle zusammen die Wirtschaft dieses Landes voranbringen. ({1}) Die Diskussion um den Finanzplatz Deutschland bietet dazu eine gute Gelegenheit. Beispiel: Viertes Finanzmarktförderungsgesetz. Dieses Gesetz hat die rotgrüne Regierung auf den Weg gebracht und wurde, soweit ich das richtig verstanden habe, von Ihnen nicht groß torpediert. Aber dieses Vierte Finanzmarktförderungsgesetz ist - das müssen Sie der rot-grünen Regierung neidlos zugestehen - ein großer Wurf für den Finanzplatz Deutschland. ({2}) Stichwort BaFin: Mit der BaFin ist es gelungen, eine zentrale Finanzdienstleistungsaufsicht zu schaffen, die wirklich die gesamten, früher problematischen Schnittstellen kontrolliert und überwacht. Sie führt das zusammen, was früher in vielen kleinteiligen Lösungen betrachtet wurde. Die Rahmenbedingungen, die durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz geschaffen wurden, sind klar. Sie sind flexibel und vor allen Dingen hoch effizient. Insgesamt kann man hier eine sehr positive Bilanz ziehen. Es wurden jedoch noch andere Dinge auf den Weg gebracht: Stichwort Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz. Hier ist der rechtliche Rahmen für Übernahmen von börsennotierten Unternehmen geschaffen worden. Das Bundesbankgesetz wurde angepasst und eine ganze Reihe von weiteren Dingen wurde in die Wege geleitet. Der Finanzmarkt ist dynamisch. Immer gibt es internationale Veränderungen, an die unsere Verordnungen angepasst werden müssen. Dies geschieht auch: Stichwort Finanzmarktförderplan. Die Hedgefonds wurden bereits mehrfach angesprochen. Auch solche Instrumente müssen wir an unserem Finanzplatz zulassen und etablieren und dafür den entsprechenden Rahmen schaffen. Aber gerade als Grüner will ich eines ganz besonders hervorheben: Wir müssen bei dem Stichwort Aktie anders argumentieren. Insbesondere vor dem Hintergrund des Niedergangs der Aktie weltweit, aber auch an den deutschen Börsen müssen wir deutlich machen, welchen Stellenwert die Aktie in unserem Wirtschafts- und Finanzsystem hat und haben muss. Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir in diesem Lande beim Thema Aktie immer noch einen gewissen Nachholbedarf haben. Ich habe es schon einmal gesagt, will jedoch erneut daran erinnern: 1914, vor dem Ersten Weltkrieg, gab es in Deutschland mehr börsennotierte Unternehmen als in den Vereinigten Staaten. Das war ein großer Erfolg. Durch die beiden Weltkriege ist vieles kaputtgegangen. Es gibt in Deutschland - auch diese Zahl sollte nachdenklich stimmen - mittlerweile mehr als 12 Millionen Aktionäre. Das heißt, die meisten Aktionäre in Deutschland sind Kleinaktionäre. Auch dieser Entwicklung müssen wir Rechnung tragen. Hierbei wende ich mich insbesondere an die eigenen Reihen: die Grünen und auch die SPD. Wir sollten höllisch aufpassen, weitere Diskussionen über die Besteuerung der Aktienmärkte zu führen. Sie sind schädlich für den Finanzplatz und auch für sehr viele Kleinaktionäre in diesem Lande. ({3}) Ein weiteres Problem kommt hinzu: Die deutschen Unternehmen sind klassisch kreditfinanziert. Angelsächsische Unternehmen sind klassisch aktienfinanziert. Darin liegt ein großes Defizit. Die Eigenkapitalschwäche deutscher Unternehmen hängt ganz klar mit diesem Umstand zusammen. Sie ist natürlich auch mit einem weiteren Problem in unserem Steuersystem verknüpft: Die Bildung von Eigenkapital in Unternehmen wird schlichtweg nicht gefördert; es wird eben nur die Aufnahme von Fremdkapital gefördert. Aber auch da müssen sich alle Parteien, wie sie hier sitzen, an die Nase fassen. Auch das ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Allerdings hat die rot-grüne Regierung dieses Problem in dem vorliegenden Papier aufgegriffen und gesagt, davon müssen wir zumindest mittelfristig weg, dazu müssen wir uns andere Steuergesetze geben, das ist ganz elementar für unsere Unternehmen. ({4}) - Da haben Sie Recht. Ein weiterer für uns als Grüne ganz zentraler Punkt ist die private Altersvorsorge. Die Riester-Rente ist zweifelsohne ein Schritt in die richtige Richtung; auch die Einbeziehung von selbstgenutztem Wohnraum in die private Altersvorsorge ist wichtig. Ein weiteres, sehr wichtiges Element ist ein individuelles Altersvorsorgekonto. Wir als Grüne haben dazu entsprechende Vorschläge gemacht. Gerade bei der privaten Altersvorsorge spielt natürlich auch der Aktienmarkt eine zentrale Rolle. Ein weiterer Punkt wurde ebenfalls angesprochen - wir haben ihn in unseren Vorschlägen hervorgehoben -: eine zentrale Staatsanwaltschaft, um Delikte im Finanzbereich entsprechend verfolgen zu können. Man muss sich zum Beispiel klar machen: 90 Prozent der Ermittlungen in Bezug auf Delikte, die von der BaFin an deutsche Staatsanwaltschaften gegeben wurden, wurden eingestellt. Das hängt zum Teil schlichtweg mit einer Überforderung bestimmter Staatsanwaltschaften zusammen, die auf diesem Gebiet einfach keine Erfahrung haben. Die Staatsanwaltschaften in Frankfurt und in München kennen sich mit solchen Delikten aus und gehen angemessen damit um. ({5}) Deshalb sage ich für die Grünen: Wir sollten eine zentrale Staatsanwaltschaft schaffen und sie in Frankfurt etablieren. Vielleicht hat dann auch Herr Koch ein gewisses Interesse daran, die Börsenaufsicht zugunsten einer zentralen Börsenaufsicht abzugeben, wenn er dafür die zentrale Staatsanwaltschaft erhält. Man sollte in der Politik ja immer versuchen, solche Anreize zu setzen. Außerdem haben wir in unserem Papier die Organisation der Börsen angesprochen. An dieser Stelle sollte man auch Folgendes erwähnen: Die öffentlich-rechtliche Organisation der deutschen Börse hat sich bewährt und bedeutet für diesen Standort einen echten Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Standorten. Sie ist hochflexibel, hat eine hohe Rechtsverbindlichkeit und integriert vor allen Dingen die Marktteilnehmer. Das bedeutet eine hohe Schnelligkeit bei den entsprechenden Entscheidungen und deren Umsetzung. Ein Beispiel hierfür ist die Neusegmentierung, Stichwort Neuer Markt. Das Verschwinden des Neuen Marktes, der wirklich nicht sehr erfolgreich war, hängt genau mit diesen Möglichkeiten einer schnellen Reaktion zusammen. Die zentrale Börsenaufsicht, wenn sie denn kommt - wie ich die Vertreter der Opposition verstanden habe, gibt es dort ähnliche Initiativen; also hoffe ich, dass auch bei den Ländern eine entsprechende Mehrheit zu finden sein wird -, hätte natürlich den enormen Vorteil, dass dann, wenn in Brüssel entsprechende Verhandlungen stattfinden, Deutschland mit einer Stimme sprechen würde. Heute sind dort 16 Länder mit zahlreichen Vertretern beteiligt, wodurch es zu enormen Abstimmungsproblemen kommt. Gerade bei der zentralen Börsenaufsicht muss gelten: ein Recht, eine Aufsicht, eine Auslegung des Rechts. Wie ich eingangs bereits sagte, halte ich es für ganz wichtig, dass wir hinsichtlich dieser Dinge den Standort positiv reden. Das gilt beim Finanzplatz, aber natürlich auch bei den Steuergesetzen insgesamt. Die aktuelle Diskussion um die Agenda 2010 macht häufig auf negative Art und Weise klar, wie verrückt wir uns in unserer Rolle als Regierung bzw. als Opposition verhalten. Obwohl die CDU/CSU am letzten Wochenende ein Papier vorgestellt hat, das von der Agenda 2010, von den rot-grünen Vorhaben, gar nicht weit entfernt ist, wird immer noch so getan, als gäbe es elementare Widersprüche zu überbrücken, anstatt genau an dieser Stelle die Chance zu ergreifen und zu sagen: Hier machen wir etwas Gemeinsames; wir sehen da ein gemeinsames großes Problem in diesem Land, das wir gemeinsam anpacken und dessen Lösung wir gemeinsam umsetzen. Dafür stehen Sie nun einmal mit in der Verantwortung, nicht nur wegen der 16 Regierungsjahre, in denen Sie die Grundsteine für vieles gelegt haben, was wir heute wegräumen müssen, sondern auch und gerade, weil Sie über den Bundesrat in diesem Lande mitregieren. Daher sind Sie auch aufgefordert, diesbezüglich entsprechende Schritte zu unternehmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ulrich, Sie haben natürlich Recht: Wir sollten uns nicht damit beschäftigen, den Finanzplatz schlecht zu reden. Gleichwohl muss es erlaubt sein, auch einmal zu analysieren, wo die Probleme des Finanzmarktes und Finanzplatzes Deutschland überhaupt liegen. Die Situation des Finanzplatzes Deutschland ist insbesondere durch die dramatische Schwäche der internationalen Finanzmärkte geprägt, die mittlerweile seit dem Jahre 2000 anhält. Dazu kommt eine anhaltende Wachstumsschwäche der deutschen Volkswirtschaft. ({0}) Unsere Wirtschaft ist in den letzten Jahren nur sehr schwach gewachsen; damit erzähle ich Ihnen allen nichts Neues. Im letzten Jahr hatten wir eine Wachstumsrate von 0,5 Prozent und die Prognosen für dieses Jahr sind weiß Gott nicht besser. Diese anhaltende Schwächeperiode hat zu einem drastischen Anstieg der Unternehmenspleiten in unserem Lande geführt. Im letzten Jahr stieg die Zahl der Insolvenzen auf über 40 000 an. Von der steigenden Zahl der Unternehmensinsolvenzen und den daraus resultierenden höheren Kreditausfällen sowie der Entwertung an den Aktienmärkten sind die deutschen Banken sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Diese Entwicklungen schaden natürlich dem Finanzplatz und insbesondere den deutschen Finanzdienstleistern. Vor allem die deutschen Banken haben seit einiger Zeit Ertragsprobleme, weil die Margen im zinsunabhängigen Geschäft sinken, während sich die Verwaltungskosten nicht verändert haben. Ich betone aber, dass es keine Liquiditäts- oder Bonitätskrise in der deutschen Finanzwirtschaft gibt. Dies hat kürzlich auch der Internationale Währungsfonds festgestellt, indem er bemerkt hat, dass die Stabilität des deutschen Finanzsystems nicht gefährdet sei. Für die Ertragsprobleme der Banken ist eine Reihe interner wie externer Faktoren ursächlich. Es ist Aufgabe der Politik, klare und verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Unser gemeinsames Ziel - darüber sind wir uns in diesem Hause sicherlich einig - muss sein, die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes im Allgemeinen und der Finanzdienstleister im Besonderen zu stärken. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben deshalb einen 50 Punkte umfassenden Antrag in diesem Hause eingebracht. Unser Ziel und unsere Vision sind es, dass der Finanzplatz insgesamt stärker, innovativer und transparenter gemacht wird, damit er seine Aufgaben auch in Zukunft erfüllen kann. Wir brauchen einen wettbewerbsfähigen Finanzplatz, um eine ausreichende Versorgung der Unternehmen mit Eigen- und Fremdkapital zu gewährleisten. Der zentralen Funktion, die Wirtschaft mit Kapital zu versorgen, kann der Finanzmarkt im Augenblick nicht in ausreichendem Maße nachkommen. Stefan Müller ({2}) Dies hat zweierlei Ursachen: Die Beschaffung von Eigenkapital über die Börse ist aufgrund der anhaltenden Wachstums- und Börsenschwäche immer schwieriger geworden. Der Markt für Aktienneuemissionen ist in den letzten zwei, drei Jahren fast vollständig zum Erliegen gekommen, weil sich private und institutionelle Anleger fast vollständig aus diesem Markt zurückgezogen haben. Ich habe mir einmal die Zahlen angeschaut: Im Jahre 2000 hatten wir noch 152 Emissionen zu verzeichnen, im Jahr 2001 gab es noch ganze 21 und im vergangenen Jahr gerade noch sechs Neuemissionen an der deutschen Börse. Darüber hinaus ist die Beschaffung von Fremdkapital über die Banken immer schwieriger geworden; auch dieser Tatsache müssen wir einfach ins Auge sehen. Die Kreditvergabepolitik der Banken hat sich in den letzten Jahren verändert. Sie ist differenzierter und in ihrer Tendenz sicherlich auch restriktiver geworden. Das hängt auch mit der Zunahme von ratinggestützten Kreditprüfungen sowie mit einer Differenzierung von guten und schlechten Bonitäten zusammen. All dies macht sich bei den mittelständischen Unternehmern bemerkbar. Gerade die kleinen und mittleren Betriebe haben fast keine andere Möglichkeit, als sich über Fremdkapital, über Banken zu finanzieren, weil aus Kostengründen andere Finanzierungsformen in aller Regel ausscheiden. Wenngleich wir davon ausgehen, dass sich die vorherrschende Fremdfinanzierungskultur in Deutschland kurzfristig zumindest nicht verändern wird, werden sich auch künftig mittelständische Betriebe stärker anderen Finanzierungsalternativen zuwenden, beispielsweise der Finanzierung über Anleihen oder Verbriefungen. Wir begrüßen - das möchte ich ausdrücklich in diesem Zusammenhang sagen - selbstverständlich auch die Bemühungen der deutschen Kreditwirtschaft, mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau eine gemeinsame Zweckgesellschaft zu gründen, um Kreditforderungen verbriefen zu können. Wir begrüßen es insbesondere dann, wenn dadurch gewährleistet ist, dass es den Banken künftig wieder leichter möglich ist, vor allem der mittelständischen Wirtschaft wieder Kredite auszugeben. ({3}) Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen. Natürlich wird die Finanzierung über Beteiligungskapital in Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen. Auch dieser Markt ist in den letzten Jahren fast vollständig zum Erliegen gekommen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf schwierige steuerrechtliche Gegebenheiten. Bei den Beteiligungsgesellschaften herrscht zurzeit eine große Verunsicherung vor allem in steuerlicher Hinsicht. Vor diesem Hintergrund haben wir in unserem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, die steuerlichen Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass weder die Fonds noch die Investoren im internationalen Vergleich benachteiligt werden. ({4}) Wir brauchen auch einen starken Finanzplatz, damit Anlegern gute und attraktive Anlagemöglichkeiten geboten werden. Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Struktur in unserem Land, die die sozialen Sicherungssysteme vor große Probleme stellt, ist eine private Vorsorge unumgänglich. Auch da sind wir uns in diesem Hause einig. Insbesondere im Hinblick auf den Aufbau von privatem Kapital zur Altersvorsorge gilt es vor allem, Verbesserungen herbeizuführen und die Rahmenbedingungen insbesondere für die kapitalgedeckte Altersvorsorge zu verbessern. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Ihre Ansätze in der Rentenreform mit der Riester-Rente mögen vielleicht ein gut gemeinter Anfang gewesen sein. Frau Hauer, Sie haben vorhin dazu etwas gesagt. ({5}) Der große Wurf, Herr Tauss, ist Ihnen damit weiß Gott nicht gelungen. Heute war in der „Welt“ zu lesen, die Riester-Rente werde zum Ladenhüter. ({6}) Das Interesse an der Altersvorsorge sei zwar insgesamt gestiegen, aber die Bereitschaft, einen Riester-Vertrag abzuschließen, gehe zurück, heißt es bei der Allianz, weil das Förderverfahren und insbesondere die Zulagenanträge viel zu kompliziert seien. Das schreckt ab. Mit der Riester-Rente ist eine unübersehbare bürokratische Steigerung einhergegangen. Die Überreglementierung hat dazu geführt, dass die Altersvorsorgeprodukte, die angeboten werden, nicht wirklich attraktiv für die Anleger sind. ({7}) Darüber hinaus muss die betriebliche Altersvorsorge als dritte Säule gestärkt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, auch hier Vorschläge für eine Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge vorzulegen. Neben all diesen Fragen, die insbesondere das Finanzmarktrecht betreffen, müssen wir uns sehr wohl damit befassen, wie wir die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen insgesamt verändern können, weil auch die besten Vorschläge und Änderungen im Kapitalmarktrecht nichts helfen werden, wenn die Rahmenbedingungen nicht passen. Deutschland leidet nach wie vor unter einer Wachstumsschwäche und strukturellen Problemen am Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen. Hinzu tritt eine überhöhte Steuer- und Abgabenlast. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, Sie müssen sich sehr wohl den Vorwurf gefallen lassen, ({8}) dass Sie es in den letzten Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht geschafft haben, diese Probleme in den Griff zu bekommen. ({9}) Stefan Müller ({10}) Sie haben vielmehr durch Ihre falschen Konzepte diese Probleme noch verschärft. ({11}) Ihr ständiges Hin und Her bei allen wichtigen Fragen hat - dieser Tatsache müssen Sie ins Auge sehen - zu einer mangelnden Verlässlichkeit politischer Entscheidungen geführt und den Arbeitnehmern und Unternehmern in diesem Land die dringend notwendige Planungssicherheit genommen. Das alles belastet die deutsche Volkswirtschaft im besonderen Maße und schwächt damit die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes und der deutschen Finanzdienstleister. ({12}) Wir fordern die Bundesregierung und die sie stützenden Fraktionen daher auf, endlich die nachhaltigen Strukturreformen durchzuführen. Die CDU/CSU hat an diesem Wochenende ein Programm beschlossen. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir imstande, solche Beschlüsse schnell zu fassen. Sie brauchen dafür Sonderparteitage, Regionalkonferenzen und Mitgliederbegehren. Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommen wird. Wir freuen uns darauf. Zu den dringend notwendigen Reformen gehören insbesondere die Schaffung eines einfachen und transparenten Steuerrechts, ein flexibler Arbeitsmarkt und Strukturreformen in den Sozialsystemen in Verbindung mit mehr Eigenverantwortung und Vorsorge. Nur dadurch werden die Investitionstätigkeit der Unternehmen und der Konsum der privaten Haushalte in diesem Lande tatsächlich gefördert. Beides sind Elemente, die dem Finanzplatz unmittelbar helfen werden. ({13}) Zu den Rahmenbedingungen gehört auch der Abbau bürokratischer Hemmnisse. Darüber werden wir sicherlich reden müssen; denn die Finanzwirtschaft ist davon betroffen. Es gibt wohl keinen anderen Wirtschaftszweig in Deutschland, der so stark reguliert ist. Keine andere Branche wird durch Auferlegung von Kontrollund Meldepflichten in dieser Weise zu staatlichen Aufgaben herangezogen. Ohne einen Streit vom Zaun brechen zu wollen, müssen wir das meines Erachtens nüchtern analysieren. Der bürokratische Aufwand geht zulasten der Kunden, die letztlich die Kosten tragen müssen. ({14}) Wir verkennen auch nicht - das haben wir in unserem Antrag deutlich gemacht -, dass ein Großteil der Kapitalmarktgesetzgebung von der EU entschieden wird. Hier gilt es, Benachteiligungen der deutschen Wirtschaft zu verhindern. Der Finanzplatz Deutschland muss sich in Brüssel klar und vernehmbar positionieren, damit rechtzeitig auf die Entscheidungsprozesse Einfluss genommen werden kann. Frau Staatssekretärin, wir haben mit Wohlwollen vernommen, dass Sie in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Brüssel den Bereich der Finanzdienstleistungen personell aufgestockt haben. Ich denke, es war ein wichtiger und richtiger Schritt, die Mannschaft in Brüssel zu verstärken. ({15}) Eine auf die Stärkung des Finanzplatzes ausgerichtete Politik erfordert vor allem eine positive Grundeinstellung gegenüber der Finanzwirtschaft. Insofern gebe ich Ihnen Recht, Herr Ulrich. Nach Auffassung vieler Akteure ist allerdings - beispielsweise im Gegensatz zu Großbritannien - diese positive Grundeinstellung am Finanzplatz selber nicht vorhanden. Daran wie auch an dem Verständnis für die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Finanzsektors als solchen werden wir sicherlich noch arbeiten müssen. Wir müssen die Finanzdienstleistungsbranche als einen Beitrag zur gesamten Wertschöpfung betrachten. Es bleibt festzuhalten - damit komme ich zum Schluss -: Ein guter und leistungsfähiger Finanzplatz bietet der Wirtschaft günstige Finanzierungsmöglichkeiten, den Investoren attraktive Anlagemöglichkeiten und den Finanzdienstleistern angemessene Erträge. Ein leistungsfähiger Finanzplatz sichert Wohlstand und Beschäftigung für ganz Deutschland. Wir alle sind aufgefordert, unseren Teil dazu zu leisten. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Lothar Binding von der SPD-Fraktion.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Allen drei Anträgen - ich schließe den von der FDP vorgelegten Antrag mit ein - ist es ein gemeinsames Anliegen, den Finanzplatz Deutschland durch die Schaffung verlässlicher politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen zu stärken. Die Anträge stehen damit in einer sehr guten Tradition des parteiübergreifenden Konsenses, der die Finanzmarktförderung und die Kapitalmarktgesetzgebung in Deutschland auch in der Vergangenheit geprägt hat. Dennoch sind Unterschiede festzustellen, und zwar im Umfang, im Grad der Detaillierung und in der Wortwahl. FDP, CDU und CSU bestechen, gestützt auf tagesaktuelle Betrachtungen, durch die bekannte Krisen- und Untergangsrhetorik und vergessen dabei zu untersuchen, wie Deutschland heute für die Zukunft aufgestellt ist. Eigentlich ist es unsere Aufgabe, über Wahltage hinaus zu denken. Aus der Sicht von 1998 leben wir heute in der Zukunft. Wir stellen fest: Damals war Deutschland schlecht aufgestellt. Unser Antrag verweist auf die bisherigen Erfolge und die guten Voraussetzungen für die weitere Entwicklung, übrigens auf einer fast immer gemeinsam beschlossenen Basis. Ich erinnere an die erfolgreiche Finanzmarktfördergesetzgebung der Bundesregierung, die BundesLothar Binding ({0}) bankreform, die Gründung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, die Deutsche Finanzagentur und an das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz. Nur das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz ist schließlich im Vermittlungsausschuss gelandet. - Es wird deutlich, dass wir über eine sehr breite, kooperative und parteiübergreifende Basis verfügen. - Last, but not least erinnere ich an die Initiative zur Entwicklung des Corporate Governance Kodexes, die in Deutschland eine wichtige Bedeutung erlangt hat. All diese gesetzgeberischen Initiativen sind in die Mitwirkung der Bundesregierung an der Schaffung eines integrierten europäischen Marktes für Finanzdienstleistungen bis zum Jahr 2005 eingebettet, also mit dem EUAktionsplan für Finanzdienstleistungen der Europäischen Kommission koordiniert. Das Finanzministerium teilt mit, dass schon über drei Viertel der ursprünglich 42 Maßnahmen des Aktionsplanes umgesetzt seien. ({1}) Ein Erfolg dieser Finanzmarktförderungspolitik zeigt sich konkret zum Beispiel darin, dass sich die Zahl der Aktionäre und der Fondsanteilsinhaber im vergangenen halben Jahr gesteigert hat. Hier besteht ein echter Zusammenhang mit den positiv-regulatorischen Maßnahmen der Bundesregierung. Dabei muss uns allen allerdings klar sein, dass die schönsten Gesetze, die feinsten Regelungen und passgenaue Rahmenbedingungen dauerhaft nur dann weiterhelfen, wenn auch die Akteure Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Verhältnismäßigkeit walten lassen sowie Kompetenz aufweisen. Ich erinnere an Insidergeschäfte und an Bilanzfälschungen, um den Blick in diese Richtung zu lenken. Kompetenz ist dabei nicht unbedingt am Jahresgehalt zu erkennen - Verhältnismäßigkeit schon gar nicht -, sondern an der Zukunftsfähigkeit der Entscheidungen. ({2}) Deshalb bestimmen Unternehmer, Manager bzw. Vorstandsvorsitzende, Mitglieder von Aufsichtsräten sowie auch Finanzberater und Börsenjournalisten entscheidend, wie sich der Finanzplatz Deutschland entwickelt. Die bisherige Arbeitsteilung - wenn es nicht gut läuft, wird mit dem Finger auf die Politik gezeigt; wenn es nicht schlecht läuft, dann steigen die Gehälter der Topmanager - sollten wir nicht mitmachen. ({3}) Es ist sicherlich kein Zufall, dass in allen drei Anträgen die Schaffung einer Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Verfolgung von Finanz- und Kapitalmarktdelikten angesprochen wird; denn die Strafverfolgung im Kapitalmarktbereich krankt in Deutschland an der sehr hohen Zahl von Verfahrenseinstellungen. Dies ist die Folge der oft geringen Expertise und des hohen Aufwandes, der bei diesen Delikten betrieben werden muss. Hier wollen wir auf eine Zusammenarbeit mit den Ländern hinwirken, um den Anlegerschutz durch eine Stärkung der Verfolgungsbehörden zu verbessern. Ich denke, auch darüber besteht parteiübergreifend Konsens. Daran sollten wir weiter arbeiten. ({4}) Der FDP-Antrag ist in seiner Reduktion auf den Finanzplatz Frankfurt im Verhältnis zu den abstrakt definierten Zielen widersprüchlich. In der Formulierung „Die Bedeutung des Finanzplatzes für die Finanzierung der Volkswirtschaft …“ - und das reduziert auf Frankfurt - wird dieser Widerspruch besonders deutlich. Zwar stimmt es, dass Frankfurt als Bankenplatz und Sitz des größten deutschen Börsenbetreibers am Finanzplatz Deutschland eine herausragende Stellung einnimmt. Doch gibt es in Deutschland auch andere Finanzzentren, etwa München und Köln/Bonn in der Versicherungsbranche, sowie starke Regionalbörsen in Stuttgart, Düsseldorf, München und Berlin/Bremen. Vielleicht geht dieser Irrtum der FDP auf die Annahme des Kollegen Solms zurück, der in der gestrigen Finanzausschusssitzung sagte, die Regionalbörsen seien Mitglieder der Deutsche Börse AG in Frankfurt. Tatsächlich waren die Regionalbörsen früher mit einem Anteil von etwa 10 Prozent am Kapital der Deutsche Börse AG beteiligt. Dieser Anteil wurde aber abgebaut. Heute befinden sich mehr als 80 Prozent der Anteile an der Deutsche Börse AG interessanterweise in der Hand ausländischer institutioneller Investoren. Die Regionalbörsen in Deutschland treten also als Konkurrenten auf und sollten deshalb unseres Erachtens nicht unter den Tisch fallen. Der CDU/CSU-Antrag enthält, wie schon erwähnt, eine Reihe vernünftiger Ansätze, die sich auch im Programm der Regierung bzw. in unserem Antrag wiederfinden. Jedoch - auf die Zahl von 50 Unterpunkten wurde schon mehrfach hingewiesen - fällt die extreme Kleinteiligkeit des Antrags auf, die sich als positives Signal für den Finanzplatz Deutschland nicht unmittelbar eignet. Bei vielen Punkten im CDU/CSU-Antrag kann man erahnen, welche Lobbygruppe an dem Brainstorming beteiligt war. ({5}) Wenn man zum Beispiel unter Punkt II. 10 - da geht es um das Übernahmerecht - nachschaut, dann wird rasch deutlich, wer an der Formulierung beteiligt gewesen sein könnte. Dahinter steckt natürlich Sachverstand, möglicherweise aber auch ein ganz konkretes individuelles Interesse. Wir aber sollten für alle Menschen Politik machen und diese Form eher hintanstellen. ({6}) Viele der aufgeführten Aspekte, nämlich die guten, werden im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen - elegant, wie ich meine; so viel Eigenlob muss sein durch den Hinweis auf das Zehnpunkteprogramm der Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes sowie auf den Finanzmarkt3580 Lothar Binding ({7}) förderplan 2006 des Bundesfinanzministeriums integriert. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen enthält in hinreichendem Schärfegrad vernünftige Aspekte aus den beiden anderen vorliegenden Resolutionen. Dort, wo FDP und CDU/CSU den Finanzplatz Deutschland am Rand des Abgrunds wähnen, verweist unser Antrag auf die bisherigen Erfolge bei der Finanzplatzförderung - in, wie ich denke, angemessener Form. Gleichwohl weisen wir auf die notwendige Weiterentwicklung hin; denn Fortschritte bei der Entwicklung des Finanzmarkts haben herausragende Bedeutung für den Erfolg der deutschen Volkswirtschaft. Verlässliche politische und rechtliche Rahmenbedingungen sind eben eine der Voraussetzungen für das Funktionieren des Finanzmarkts als Motor für Wachstum und Beschäftigung. Ohne die Finanzierungsfunktion des Kapitalmarkts - mit Fremdkapitalaufnahme durch Kredite oder Anleihen bzw. mit Eigenkapital durch die Begebung von Aktien - werden keine Investitionen getätigt und die volkswirtschaftliche Entwicklung wird gehemmt. Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten. Über die Diskriminierung von Eigenkapital gegenüber Fremdkapital haben wir schon einiges gehört. In diesem Zusammenhang muss zumindest die Problematik der Dauerschuldzinsen noch einmal betrachtet werden. Dabei bieten das Zehnpunkteprogramm der Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes sowie der Finanzmarktförderplan 2006 des BMF eine hervorragende Grundlage. Ich möchte einige wichtige Maßnahmen aus diesem Arbeitspensum nennen. Erstens: Entwicklung eines international konkurrenzfähigen Verbriefungsmarktes, Asset Backed Securities Initiative der KfW mit den großen Geschäftsbanken und den Genossenschaftsbanken. Durch die Verminderung der Risikopositionen der Kreditinstitute aus Kreditforderungen und -risiken wird Eigenkapitalentlastung herbeigeführt. Dies führt zu einem großen Freiraum für neue Kredite. Die Finanzierungsmöglichkeiten werden dadurch auch für kleinere und mittlere Unternehmen essenziell verbessert. Die steuerliche Entlastung der Zweckgesellschaften, auf die solche Kredite oder Kreditrisiken übertragen werden sollen, gleicht den Nachteil des Finanzplatzes Deutschland aus. Zweckgesellschaften müssen nicht länger aus gewerbesteuerlichen Gründen ins Ausland ausweichen. Dies ist ein riesengroßer Fortschritt. ({8}) Zweitens. Das Investmentgesetz 2003 wird Wettbewerbsnachteile, die die deutsche Fondsindustrie in den vergangenen Jahren wiederholt beklagt hat, beseitigen. Vorteile von Standorten wie Irland oder Luxemburg werden damit ausgeglichen. Im Rahmen der anstehenden Umsetzung bestimmter EG-Richtlinien wird das Umfeld für die Auflegung und Verwaltung von Investmentfonds in Deutschland einer kritischen Überprüfung unterzogen. Ziel sind dabei die Entschlackung des Gesetzes und die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Fondsgesellschaften. Drittens: Schaffung eines Enforcement-Mechanismus zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit konkreter Unternehmensabschlüsse. Es ist im Grunde erschreckend, dass wir so etwas brauchen; aber die vorhin genannten Stichworte zeigen, dass dies ein wichtiges Ziel ist, um das Anlegervertrauen zurückzugewinnen. ({9}) Viertens: Stärkung der Verantwortlichkeit der Gesellschaftsorgane Vorstand und Aufsichtsrat durch die Schaffung einer persönlichen Haftung für falsche Kapitalmarktinformationen; Verbesserung der Organaußenhaftung; Ausdehnung der bisherigen Haftung, die allein die Gesellschaft trifft. Fünftens: Weiterentwicklung des Corporate Governance Codex. Ziel ist die Etablierung einer verantwortlichen und vernünftigen Unternehmensführung und -leitung. Sechstens: Verbesserung der Aufsicht über den grauen Kapitalmarkt durch Einführung einer Prospektpflicht für öffentlich angebotene Kapitalbeteiligungen, zum Beispiel stille Beteiligungen oder Kommanditbeteiligungen. Zusammenfassend möchte ich an die lange Tradition der Gemeinsamkeiten in diesen Fragen erinnern. So wurde, wie bereits erwähnt, lediglich das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz schließlich im Vermittlungsausschuss verhandelt. Hintergrund dafür waren aber weniger parteiliche Differenzen als vielmehr Konflikte zwischen dem Bund und den Ländern. An diese Tradition sollten wir hinsichtlich der Gesetzgebung zur Finanzmarktförderung zum Wohle des Finanzplatzes Deutschland anknüpfen und den Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen unterstützen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/748 und 15/930 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({1}), Cornelia Pieper, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ({2}) - Drucksache 15/935 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gemeinschaftsaufgaben sollen nach unserer Verfassung erfolgreich dazu beitragen, dass von Bund und Ländern etwas für die Gesamtheit gefördert wird und dass die Lebensverhältnisse aller verbessert werden. Wir haben in diesem Hause Konsens darin, glaube ich, dass alles das, was Bildung, Forschung und Wissenschaft fördert, in dem Sinn Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern ist. ({0}) Dieser Konsens ist gewachsen. Er ist fest verankert, weil wir wissen, dass Bildung und Forschung Lebenschancen für den Einzelnen, Entwicklungschancen für die Gesellschaft, für den Wohlstand, für die Wirtschaft und für Nachhaltigkeit bedeuten, dass das Zusammenwirken vieler Beteiligter von Bund und Ländern im Bereich von Bildung, Wissenschaft und Forschung, die Vernetzung, wichtig ist. Das brauchen wir erst recht im Bildungsbereich, auch wegen der Mobilität innerhalb von Deutschland und innerhalb von Europa. Schließlich geht es auch immer um langfristige Fragen. Langfristige Fragen lassen sich am besten in Zusammenarbeit behandeln. ({1}) Deshalb haben frühere Generationen von Regierungen und Parlamentariern diese Gemeinschaftsaufgaben 1969 im Grundgesetz verankert. Die Aufgaben sind von den Ländern umgesetzt worden. Wir möchten von unserer Seite aus hier ausdrücklich festhalten: Im Bund-Länder-Abkommen für Bildungsplanung sind sie sowohl in der Absicht als auch in der Praxis erfolgreich umgesetzt worden. Dies können wir seit 30 Jahren so feststellen. ({2}) Es ist erfolgreich gewesen - in Bezug auf den gewaltigen Aufwuchs, den wir in Bildung und Forschung in Deutschland erlebt haben, und in Bezug auf die Modernisierung der Institutionen - und es hat durchaus auch der Stabilisierung gedient, etwa dann, wenn Finanzminister oder andere Interessen Angriffe auf den Bereich von Bildung und Forschung gestartet haben. Wir wollen ausdrücklich anerkennen, dass Kooperation von Bund und Ländern auch stabilisieren kann, wenn es bestimmte Interessen gibt, die diesen Zukunftsbereich zurückstufen wollen. Es ließe sich jetzt aus der umfangreichen Geschichte referieren, was in der strategischen Bildungsplanung, in der Vernetzung vieler Einrichtungen - vom Kindergarten bis zur Hochschule - gemacht worden ist und was in der Forschungsförderung aufgebaut worden ist. Ich erinnere nur daran, dass im Zuge der deutschen Einheit der Aufwuchs von Forschungseinrichtungen in den neuen Bundesländern unter anderem über die Bund-Länder-Kooperation erfolgreich mit organisiert worden ist. Es gibt Wissenschafts- und Hochschulprogramme, schließlich auch Modellversuche - immerhin 300 seit 1970 -, die, gut gebündelt, dazu beigetragen haben, dass es im Bildungsbereich immer wieder Erneuerung, Innovation, gegeben hat. - So weit, so gut. Umso erstaunter, wenn nicht erschrockener waren wir Bildungspolitiker, als wir im März dieses Jahres eine Erklärung aus dem zuständigen bayerischen Staatsministerium vorfanden, deren erster Satz lautete: Die Bildungsminister der CDU/CSU-regierten Länder haben sich darauf verständigt, aus der Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung auszusteigen. So damals Herr Zehetmair. Diese Kampfansage, vor dem Hintergrund auch anderer Äußerungen des Ministers - ich will nur beispielhaft aus dem erfolgreichen Diskussionsprozess des Forums Bildung zitieren: „Jeder mit unnützen Zuständigkeitsdebatten vergeudete Tag ist ein verlorener Tag für unsere Kinder.“ -, ({3}) hat beim Bundeselternrat, Frau Hendriks, bei der GEW oder bei Herrn Eckinger, VBE - das ist vielleicht neutraler -, Reaktionen hervorgerufen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Man darf keine Krähwinkelpolitik betreiben. Wir brauchen den kooperativen Föderalismus. Die BLK ist eine wichtige Gelenkstelle, um im Föderalismus Bildung und Forschung kooperativ nach vorn zu bringen. Wir waren uns sicher, auch nach Erfahrungen, die schon 1980 in diesem Parlament gemacht worden waren, dass auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dies so sehen würde. Da lagen wir falsch. Wir mussten feststellen, dass erstmals in 30 Jahren erfolgreicher BLK-Geschichte auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Auffassung ihrer Bildungsminister teilt. Das finden wir sehr bedauerlich. Deshalb möchten wir - bewusst SPD, Grüne und FDP gemeinsam - aus diesem Parlament heraus mit diesem Antrag ein klares Bekenntnis zur gemeinsamen Verantwortung von Bund und Ländern für die Bildungspoli3582 tik, die Bildungsförderung sowie die Forschungspolitik und auch die Forschungsförderung abgeben. ({4}) Wir möchten mit diesem Antrag, von dem eine sehr aufmerksame und liebevolle Kollegin - sie ist leider nicht hier - gesagt hat, dass es doch eigentlich ein ziemlich harmloser Antrag sei, durchaus nachdrücklich auf einen Punkt aufmerksam machen, indem wir in ihm sowohl den Bund wie auch die Länder nachdrücklich auffordern und an sie appellieren, Kooperation nicht aufzukündigen. Das Wort „Aufkündigung“ enthält die Wertung, dass es sich hierbei immer um einen einseitigen Vorgang handelt. Es darf eine Aufkündigung, eine einseitige Veränderung, weder von Länderseite noch von Bundesseite geben. Vielleicht wird unser Antrag auf beiden Seiten als politisches Wollen in all seinen Konsequenzen verstanden. ({5}) In der Konsequenz heißt das nicht, dass es keine Veränderungen geben könnte. Natürlich hat es Veränderungen gegeben und natürlich wird es auch weiter Veränderungen geben müssen. Aber es ist doch etwas anderes, ob diese in Form einer Aufkündigung, einer Kampfansage, eines einseitigen Ausstiegs oder auf der Basis einer im Konsens getroffenen Vereinbarung geschehen. Dieser letzte Punkt ist uns wichtig: Wir brauchen im ganzen Veränderungsprozess Konsens. Darauf sollten wir uns in dieser Sache verständigen. ({6}) Schließlich brauchen wir schnelle und klare Entscheidungen. Denn es liefe etwas verkehrt, wenn zukünftig Attentismus einträte, weil man nicht mehr weiß, wie man Bund-Länder-Zusammenarbeit organisieren soll. Das können wir uns im Bildungs- und Forschungsbereich nicht leisten. Weiterhin haben wir in dem Antrag dargelegt, dass wir uns vor allen Dingen eine Konzentration dieser sehr erfolgreichen Bund-Länder-Zusammenarbeit auf strategische Bildungsplanung wünschen. Ich bin sicher, dass andere Kollegen das noch entsprechend unterstützen werden. Ich darf mit einem Appell schließen, den Bundespräsident Rau auf dem Abschlusskongress des Forums Bildung, eines der letzten großen, nachhaltig wirkenden Vorhaben der Bund-Länder-Kommission im PISA-Prozess, gesagt hat. Er hat daran erinnert: Die Zusammenarbeit all derer, die im Bildungsgeschehen zusammenwirken müssen, ist möglich. Man muss sie wollen. Wir dürfen an die Adresse der CDU/CSU sagen: Wir wollen diese Kooperation, wir brauchen sie, wir brauchen aber auch Sie als CDU/CSU, damit diese Kooperation auch in Zukunft gelingt. Wir wollen keine Einseitigkeiten, sondern wollen Perspektiven aufzeigen. Wir haben deshalb die Hoffnung, dass dann, wenn dieser Antrag aus den Ausschüssen, an die er heute überwiesen werden soll, zurückkommt, auch mit Ihrer Zustimmung hier im Parlament beschlossen wird. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von der CDU/CSU-Fraktion.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte steht im Zusammenhang mit der grundlegenden Neuordnung der Gemeinschaftsaufgaben zwischen Bund und Ländern. Es geht um Kompetenzabgrenzungen, die Klärung von Zuständigkeiten und auch um mehr Wettbewerb. Die Zukunft der gemeinsamen Bildungsplanung im Rahmen der Bund-LänderKommission ist ein Teil dieser übergeordneten Föderalismusdiskussion. An der Entscheidungsfindung scheint sich übrigens der Bundeskanzler, Frau Bulmahn, nicht sonderlich beteiligen zu wollen, denn es war Frau Zypries, die in der „FAZ“ vom 16. April eine Umgestaltung der Finanzierung von Forschung und Hochschulen in Deutschland vorschlug, über den Kopf der zuständigen Ministerin hinweg. ({0}) Das BMBF scheint auch aus dem Lenkungsausschuss der Chefs der Staatskanzleien fern gehalten zu werden, wo der Komplex der Föderalismusreform bearbeitet wird. Ich glaube, deutlicher kann der Bundeskanzler die Bedeutungslosigkeit der Bundesbildungsministerin wirklich nicht signalisieren. ({1}) Die Aufregung, die jetzt bei Rot-Grün und auch bei der FDP herrscht, hat ihre Ursache in einem Beschluss der Ministerpräsidenten aller 16 Länder. Schauen wir uns in aller Ruhe einmal die Tatsachen an: Es gab am 27. März dieses Jahres eine Ministerpräsidentenkonferenz in Hamburg, die Folgendes beschlossen hat: Die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung soll abgeschafft werden, wobei eine Koordinierung unter den Ländern sicherzustellen ist. Die Forschungsförderung ist auch in Zukunft als Mischfinanzierung fortzuführen. ({2}) Dabei handelt es sich nun keineswegs um einen Alleingang der Ministerpräsidenten von der Union, sondern alle Ministerpräsidenten haben das beschlossen, übrigens auch mit Zustimmung der in den Ländern mitregierenden FDP. Zum Beispiel unterschrieb der stellvertretende Parteivorsitzende der FDP Döring den baden-württembergischen Koalitionsvertrag. Dieser enthält den Passus: Wir werden allem entgegentreten, was den Bewegungsspielraum der Länder in diesem Zusammenhang - im Zusammenhang mit der Kernkompetenz Kulturpolitik weiter einengt. Dazu gehören eine Deregulierung bei der geplanten Novellierung des Hochschulrahmengesetzes, der Verzicht der Bund-Länder-Kommission auf den Bereich Bildungsplanung ({3}) sowie eine weitere Stärkung des Selbstauswahlrechts der Hochschulen. ({4}) Es beschleicht einen die Vermutung, Rot-Grün und die FDP vergössen nun in ihrem gemeinsamen Antrag, der sich für die Fortsetzung der gemeinsamen Bildungsplanung ausspricht, Krokodilstränen. Vergessen werden darf nämlich auch nicht eine nicht ganz unwesentliche Vorgeschichte. Ich erinnere an den Beschluss der BundLänder-Kommission vom Juni des vergangenen Jahres, der Budgetzuwächse in Höhe von bis zu 3,5 Prozent für alle Wissenschaftsorganisationen im Haushalt 2003 beinhaltete. Der Bund hat diesen einmütig gefassten Beschluss einseitig und ohne Absprache mit den Ländern über Nacht aufgekündigt. Das ist ein noch nie dagewesener Wortbruch. ({5}) Ich glaube, die Länder sind es leid, dass die Bundesministerin den Gedanken der gemeinsamen Bildungsplanung immer wieder dazu benutzt, sich in die Kulturhoheit der Länder einzumischen. Das Kerngeschäft ihrer Aufgaben, die Forschungspolitik, hat Frau Bulmahn vernachlässigt. Sie flüchtet sich nun in die Bildungspolitik, für die sie laut Grundgesetz gar keine Kompetenzen hat. ({6}) Es ist allein der Initiative der unionsgeführten Länder in der Kultusministerkonferenz zu verdanken, dass es zu einer Einigung über die Einführung gemeinsamer Bildungsstandards gekommen ist. Die KMK ist hier viel weiter als der Bund. Die Vorschläge von Frau Bulmahn zur Einrichtung einer nationalen Agentur zur Entwicklung und Evaluierung von Bildungsstandards bedeuten eine weitere unerwünschte Einmischung in die Hoheit der Länder. Auch der Vorschlag von Frau Bulmahn, eine achtbzw. neunjährige Regelschule einzuführen und somit quasi das gegliederte Schulsystem abzuschaffen, ist anmaßend, rein ideologisch und verfolgt offensichtlich das Ziel einer Einheitsschule. ({7}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt politisch das Vorgehen der Ministerpräsidenten. Zum einen ist aus der gemeinsamen Bildungsplanung seit Jahren keine weiterführende Initiative entstanden und zum anderen existiert mit der KMK ein Gremium, das den Koordinierungsbedarf der Länder durchaus abdeckt. ({8}) Darüber hinaus könnten durch Ad-hoc-Arbeitsgruppen bildungs- und berufsbildungspolitische Fragen abgedeckt werden. Gegebenenfalls könnte auch das Bundesinstitut für Berufsbildung den Berufsbildungsteil ganz übernehmen. Insgesamt wäre ein Ausstieg aus der gemeinsamen Bildungsplanung auch ein Beitrag zu mehr Transparenz und Effizienz im Bildungswesen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Reiche, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde gern fortfahren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Keine Zwischenfrage!

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gleichzeitig begrüßen wir auch das Festhalten der Länder an der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern. Der Zwang für Bund und Länder, sich abzustimmen, wirkt quasi wie ein Puffer gegen extreme Schwankungen in der Forschungspolitik. ({0}) Nun beabsichtigt die Bundesregierung, im Zusammenhang mit einer Föderalismusreform die Forschungslandkarte in Deutschland neu zu ordnen. Der Kanzler will sich - so zumindest die „FAZ“ vom 2. Mai - forschungspolitisch ein „Riesenreich“ schaffen. Die Forschungsorganisationen der Fraunhofer-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft sollen mit einem Forschungsvolumen von über 5 Milliarden Euro in die alleinige Zuständigkeit des Bundes überführt werden. ({1}) Die vom Bund vertretene Position bedeutet die Aufkündigung der gemeinsamen Finanzierung. Politisch läuft die Position des Bundes auf eine Gleichschaltung der Spitzenforschung hinaus. ({2}) In unseren Augen gefährdet sie damit die Unabhängigkeit der Forschungseinrichtungen. ({3}) Die Stärke des Wissenschaftsstandortes Deutschlands liegt gerade in seiner föderalen Struktur unter einer politikfreien wissenschaftlichen Begleitung durch Topgremien wie zum Beispiel die Gutachter der DFG. Dieses Pfund darf nicht verspielt werden. DFG und MPG sind die Flaggschiffe der deutschen Forschungslandschaft mit einem international hervorragenden Renommee. Jetzt erfahren sie aus der Presse, dass der Bund die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung faktisch aufkündigen will. Ich frage mich: Was ist das für ein Stil? ({4}) Wenn durch die Entscheidung der Bundesregierung der Fortbestand dieser Einrichtungen in die Grauzone gestellt würde, würde dies das Ansehen beider Einrichtungen auch in der internationalen Wahrnehmung beschädigen. Nun zu den Leibniz-Instituten. Die Einrichtungen der Leibniz-Gemeinschaft sollen nach den Plänen der Bundesregierung in der alleinigen Zuständigkeit der Länder verbleiben. Dies ist wohl der Gipfel der Scheinheiligkeit. ({5}) Diese Einrichtungen werden vom Bund und von den Ländern zu jeweils 50 Prozent finanziert. Strukturell und organisatorisch sind die Institute der Leibniz-Gemeinschaft die ländernächsten und liegen mit ihren Schwerpunkten vor allem in den neuen Ländern. Was passiert nun, wenn sich der Bund daraus verabschiedet? Insbesondere die neuen Länder wären gar nicht in der Lage, alle Institute zu 100 Prozent zu übernehmen. Die Entscheidung des Bundes würde eine wenn nicht flächendeckende Schließung, so doch vermutlich große Anzahl von Schließungen von Leibniz-Instituten in den neuen Ländern zur Folge haben. Frau Bulmahn betont immer wieder, dass sie keine bildungspolitische Kleinstaaterei will. Was sie jedoch mit der Wilhelm-Leibniz-Gemeinschaft vorhat, ist forschungspolitische Kleinstaaterei; denn jedes Land soll sich um seine eigenen Leibniz-Institute kümmern. Gerade in der Forschung brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Vernetzung. ({6}) Wir wissen nicht, ob die Überlegungen des Bundes nur als Schachzug zu bewerten sind, die Länder durch die Drohung mit dem Ende der gemeinsamen Forschungsförderung dazu zu bewegen, den Bund weiterhin in der Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung mitbestimmen zu lassen. Gleichwohl sollten sie ernst genommen werden. Die rot-grüne Bundesregierung zeigt nämlich mit diesen Vorschlägen ihr wahres Gesicht: ({7}) die Vernachlässigung der Forschung in den neuen Ländern und eine Monopolisierung der deutschen Forschungslandschaft in der Hand des Bundes. Die Forscher - das kann ich hier sagen - sind hochgradig verunsichert. ({8}) Einige Berufungsverfahren sind unterbrochen, da sich die Wissenschaftler momentan nicht auf diese Ungewissheit einlassen wollen. Wir werden das nicht mitmachen. Ich hoffe, dass es die Länder bei ihrem Gespräch mit dem Bundeskanzler am 26. Juni zu verhindern wissen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom Bündnis 90/Die Grünen.

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem destruktiven Beitrag vorweg eine gute Nachricht: ({0}) Es kommt glücklicherweise Bewegung in die Bildungslandschaft. Der Jahresbericht der Bund-Länder-Kommission zeigt uns, liebe Kollegin Reiche, wie erfolgreich konstruktive Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg sein kann. ({1}) Nicht nur auf PISA hat die BLK sachgerecht reagiert. Sie hat Empfehlungen für die Sprachförderung erarbeitet, die schon jetzt in den meisten Bundesländern - zum Beispiel in Schleswig-Holstein und Niedersachsen - umgesetzt werden. Sie hat das Ansehen des Studiums in Deutschland mit dem äußerst erfolgreichen Marketing für unsere Unis im Ausland entscheidend verbessert und sie hat auch in den Jahren Ihrer Regierungzeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, einige Schritte für die Modernisierung des Bildungssystems getan. ({2}) Ich denke dabei zum Beispiel an die drei Hochschulsonderprogramme oder an den Aufbau des Hochschulwesens in den neuen Ländern. ({3}) Deswegen ist es für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, wenn nicht nur die unionsgeführten Länder, sondern sogar Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion in diesem Hause, aus der gemeinsamen Bildungsplanung aussteigen wollen. Sie berauben sich damit doch Ihrer eigenen Gestaltungskompetenz. Dies mit der PISA-Studie zu begründen ist ziemlich fadenGrietje Bettin scheinig. Die bayerischen Schulen mögen bundesweit und oberflächlich betrachtet vielleicht relativ gut dastehen. International gesehen spielen sie jedoch allenfalls in der zweiten Liga. ({4}) Das Bildungsniveau dort wird sicher nicht leiden, nur weil wir in der BLK darüber sprechen. Außerdem erkaufen Sie sich diesen insgesamt mäßigen Erfolg damit, dass zum Beispiel Bayern auf Kosten der anderen Bundesländer viel zu wenige Abiturientinnen und Abiturienten ausbildet, und wenn, dann sind das erwiesenermaßen meist Kinder reicher Eltern. Für diese will die CSU jetzt auch noch in Elitestudiengänge investieren, wie heute im „Tagesspiegel“ zu lesen war. Glauben Sie, das ist das richtige Signal zu dieser Zeit? - Ich glaube es nicht. ({5}) Grünes Ziel ist es - das sollte auch Ihres sein -, die faktische soziale Auslese in der Schule zu beenden und allen begabten jungen Menschen einen hohen Bildungsabschluss zu ermöglichen. Nahezu alle Bildungsexpertinnen und -experten fordern für dieses Ziel eine längere gemeinsame Schulzeit. Darin liegt wohl auch der wahre Grund für den angekündigten Ausstieg der Union: Das gegliederte Schulsystem ist der Union noch immer so heilig, dass sie lieber die gemeinsame Bildungsplanung auf dessen Altar schlachten möchte. Bund und Länder müssen nach PISA und IGLU große bildungspolitische Aufgaben bewältigen. Es geht um nichts Geringeres als um die Zukunftschancen unserer Kinder. Bildungsstandards sollen die Qualität der Bildung überall in Deutschland sicherstellen. Sie müssen gemeinsam entwickelt werden, weil sie nicht nur schulische Bildung, sondern eben auch Kindergärten und Weiterbildung betreffen. Darüber hinaus stehen uns auch massive Reformen im Bereich der beruflichen Bildung ins Haus, die wir ohne BLK und ohne gemeinsame Kooperation von Bund und Ländern gar nicht anpacken könnten. Die Forschungsfinanzierung wäre ohne die BLK höchst ineffizient. Wir alle wollen die Forschung in Deutschland stärken und international wettbewerbsfähig erhalten. Wir können uns aus meiner Sicht ein planloses Nebeneinander in der Forschung absolut nicht leisten. ({6}) Lassen Sie uns also zuerst über die gemeinsamen Ziele sprechen, die wir in der Bildungspolitik - vom Kindergarten bis zur Weiterbildung - erreichen wollen! Sie werden feststellen, dass wir vielfach gar nicht so weit auseinander liegen. Lassen Sie uns anschließend über die Strukturen diskutieren, die wir brauchen, um diese Ziele zu erreichen! Für eine solche Diskussion ist die BLK das ideale Forum. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, an dem gemeinsamen Antrag der Koalition und der FDP sehen Sie, dass Sie mit Ihrem Ausstieg aus der gemeinsamen Bildungsplanung absolut allein dastehen. ({8}) Deshalb: Kehren Sie zum bewährten Konsens in diesem Hause zurück! Setzen Sie sich mit uns für die gemeinsame Bildungsplanung vor allem im Interesse der jungen Menschen in unserem Land ein! Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDPFraktion.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand in diesem Hause - auch Sie nicht, Frau Reiche - wird ernsthaft behaupten, wir bräuchten in der Bildungsplanung keine Koordination und keine Kooperation zwischen Bund und Ländern. ({0}) Der einheitliche Bildungsraum Europa, die Herausforderungen im internationalen Wettbewerb der Bildungsmärkte und die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns nach der PISA-Studie machen dies mehr als deutlich. Wer zu diesem Zeitpunkt, liebe Kollegen von der CDU/CSU, die Position der Länder - das sage ich mit sehr großem Ernst - eins zu eins, also kritiklos, und damit auch ihren sehr emotionsgeladenen Ärger nach dem Motto: „Nimmst du unser Schippchen weg, dann geben wir dir das andere wieder und hauen wir noch einmal drauf“ übernimmt und damit zu einem Beschluss kommt, der rational kaum zu begründen ist, steigt mit einem Paukenschlag aus der gemeinsamen Bildungsplanung aus und zerstört das kleine Pflänzchen gemeinsamen bildungspolitischen Handelns, das wir mühsam gepflegt haben. ({1}) Wenn PISA ein Signal gab, dann ist es nicht das, dass jeder für sich allein für mehr Qualität des Bildungswesens in unserem Lande kämpfen soll, sondern das Signal, dass alle gemeinsam das tun sollten. Wenn Sie die Menschen in unserem Lande fragen, so stellen Sie fest, dass sie genau das bestätigen: Wir sollen zusammenarbeiten und nicht gegeneinander arbeiten. ({2}) Dazu brauchen wir die BLK als das einzige über Jahrzehnte hinweg funktionierende Scharnier zwischen Bund und Ländern. Anders übrigens als die Kultusministerkonferenz - da bin ich ganz anderer Meinung als Sie -, die zwar oft in den Medien ist, aber wenig bewegt, ist die Bund-LänderKommission in der Öffentlichkeit eher unbekannt, dafür aber sehr erfolgreich. ({3}) Die zahlreichen Vorhaben - Kollege Rossmann hat es eben schon aufgeführt - von Wissenschaftsprogrammen und Marketing bis hin zu beruflicher Bildung und der gemeinsamen Bildungsplanung, auch im Bereich der Frauenförderung, haben in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass es sich hier um eine Institution handelt, die es wert ist, dass um sie gekämpft wird, Frau Reiche. ({4}) Sicher war nicht alles erfolgreich. Es gibt übrigens individuelle Modellversuche in den Ländern. Das Land Baden-Württemberg ist so ein Fall. ({5}) Es hat sich an vielen Modellversuchen, die die BLK auf den Weg gebracht hat, nicht beteiligt, stattdessen eigene Modellversuche durchgeführt. Dass viele Modellversuche der BLK nicht erfolgreich waren, soll doch aber nicht heißen, dass wir deswegen die gesamte Struktur zerschlagen müssen. Natürlich muss sich die BLK ständig weiterentwickeln. Wir sind die Letzten, die dagegen sind, dass diese Institution effizienter arbeitet. Natürlich benötigt sie Reformen; da sind wir mit Ihnen einer Meinung. Trotzdem hieße das, was Sie jetzt propagieren, bewährte Strukturen zu zerschlagen, ohne etwas Neues zu haben, was wir den Menschen draußen im Lande anbieten können. ({6}) Damit schaffen Sie Verunsicherung und blockieren dringend erforderliche Verbesserungen für unsere Schulen und Hochschulen; Herr Schlegel hat uns das letzte Woche sehr deutlich gemacht. Wir kommen jetzt zum Beispiel bei der vorschulischen Bildung, für die das Herz übrigens aller Kollegen schlägt, nicht weiter. Die BLK sitzt fest, weil durch diese unselige Diskussion wichtige Entscheidungen blockiert worden sind. ({7}) Was wollen Sie stattdessen? Bereits im Ausschuss habe ich angesichts Ihres Vorschlages irritiert geschaut. Sie wollen doch wohl nicht wirklich vorschlagen, dass wir die Bund-Länder-Kommission durch die Kultusministerkonferenz - diese Landschildkröte der Bildungslandschaft - ersetzen? ({8}) An dieser Stelle will ich genauso klar sagen, dass für mich zur Bund-Länder-Kommission auch die andere Seite der Medaille gehört: Wer gemeinsame Bildungspolitik für Deutschland will, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, der kann sich bei der gemeinsamen Forschungsförderung nicht wegducken. ({9}) Ich bin froh, Herr Dr. Rossmann, dass Sie eben so deutlich gemacht haben, dass Sie offensichtlich bereit sind, als Fraktionen dafür zu kämpfen; ({10}) denn das, was Frau Ministerin Zypries in einer Zeitung angekündigt hat - da teile ich absolut die Meinung von Frau Reiche -, können wir uns auf diesem hoch sensiblen Gebiet nicht leisten. Die Forschungsinstitutionen sind geradezu eruptionsartig verunsichert gewesen. Wir brauchen keine Schnellschüsse, sondern wir brauchen eine inhaltlich und fachlich wohl vorbereitete Diskussion zu diesem Thema, dem schwierigsten Thema, das wir überhaupt in den nächsten Monaten vor uns haben. Wer Wissenschaft optimieren und Verantwortung transparenter machen will, der geht eben nicht über die Medien an das Thema heran. Ich kann uns allen raten, bei dieser Diskussion etwas zurückhaltender zu sein. Wir haben in den letzten Jahren so viel auf den Weg gebracht - wir mit Bio-Regio, Sie mit Inno-Regio. All dies ist in Gefahr, wenn wir jetzt, die Forschungsförderung so gröblich misshandeln, wie das offensichtlich im Augenblick geplant ist. ({11}) Deswegen habe ich zum Abschluss noch eine Bitte an Sie. Diese Diskussion ist die schwierigste, die wir in den nächsten Jahren vor uns haben. Sie ist auch die schwierigste, die ich als Parlamentarierin erlebt habe; denn sie geht über den Zuständigkeitsbereich unseres Ausschusses weit hinaus, sie betrifft ebenso viele andere Ausschüsse. Wir müssen also kooperieren und müssen in diesem Fall zusammenhalten. Ich freue mich, dass es das Angebot der Regierungsfraktionen gibt. Ich würde mich sehr freuen, Frau Reiche, wenn auch die CDU/CSU mit uns an einem Strang ziehen würde. Ich glaube, das wäre gut für dieses Land. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Matschie.

Christoph Matschie (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001434

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, den föderalen Staatsaufbau im Sinne einer neuen Verantwortungsteilung zwischen Bund und Ländern grundlegend zu überprüfen. ({0}) Dieser Prozess der Überprüfung hat in den Ländern und auch beim Bund stattgefunden. Ich denke, es versteht sich von selbst, dass bei dieser Überprüfung auch unterschiedliche Vorstellungen zutage getreten sind. Die Länder erwarten ein Mehr an Kompetenzen und Finanzmitteln. Der Bund tritt für eine Stärkung seiner eigenen Möglichkeiten ein. Dass aber die Union ausgerechnet im Feld der Bildungsplanung versucht, einen neuen Weg zu gehen und einen Alleingang zu machen, war nicht unbedingt zu erwarten. ({1}) Ich glaube, man muss in dieser Debatte noch einmal darauf hinweisen: Der Föderalismus ist ein zweckmäßiges System, aber im jetzigen System knirscht es auch; es gibt Reibungsverluste. Deshalb müssen wir die Aufgabenverteilung neu diskutieren. Das erklärte Ziel der Bundesregierung ist dabei, national, aber auch international, etwa auf der Ebene der Europäischen Union, wieder mehr politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Das setzt klare Verantwortlichkeiten, aber auch transparente und effiziente Verfahren voraus. Diese Reformen sollen Schwachstellen beseitigen, aber - das sage ich hier klipp und klar - sie sollen nicht bewährte und notwendige Mittel und Instrumente der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zur Disposition stellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach [FDP] Deshalb glaube ich, ein Ausstieg aus der gemeinsamen Bildungsplanung wäre keine Verbesserung. Vielmehr würde er Bund und Länder eines wichtigen Instruments berauben, das wir in Anbetracht der Reformbedürftigkeit unseres Bildungssystems heute vielleicht noch dringender brauchen als in der Vergangenheit. ({2}) Deshalb kann die Bundesregierung den Wunsch, aus der gemeinsamen Bildungsplanung auszusteigen, nur mit Bedauern und Unverständnis zur Kenntnis nehmen. Wir fordern in diesen Verhandlungen im Gegenteil, dass diese gemeinsame Bildungsplanung zu einem verpflichtenden Verfassungsauftrag ausgestaltet wird. Warum tun wir das? Auf die Erfolge der gemeinsamen Bildungsplanung ist hier schon hingewiesen worden. Lassen Sie es mich noch einmal sagen, Frau Kollegin Reiche, wenn Sie meinen, diese Aufgabe könnten auch die Länder allein erfüllen: Ein erfolgreiches Bildungssystem ist immer mehr als die Summe seiner Teile. Wir haben nicht nur die einzelnen Teile in den Bundesländern, sondern wir haben auch den Prozess des lebenslangen Lernens zu betrachten, der im Kindergarten beginnt und über Schule, Berufsbildung und Universität bis in die Erwachsenenbildung reicht. Um einen solchen Prozess erfolgreich gestalten zu können, müssen diese Bereiche miteinander verknüpft werden. Dabei brauchen wir die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Ländern. ({3}) Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt aber auch, dass die Vernetzung mit anderen Politikbereichen, insbesondere mit den Bereichen Familie, Arbeit, Wirtschaft und Finanzen, nur über eine gemeinsame Bildungsplanung möglich ist. Auch deshalb brauchen wir sie weiterhin. Ich erinnere an die in diesem Hause geführte Diskussion über die zunehmende Mobilität, die den Menschen in diesem Land abverlangt werden muss. Auch sie macht ein stärker koordiniertes, bundeseinheitliches Vorgehen im Bildungssystem, harmonisierte Regelungen und vergleichbare Standards in ganz Deutschland erforderlich. Wir können mit Fug und Recht sagen: Die gemeinsame Bildungsplanung hat einer weiteren Zersplitterung des Bildungssystems entgegengewirkt. Auch dafür brauchen wir sie in der Zukunft. ({4}) Einzelne Programme - ich weise auf das Hochschulsonderprogramm und das internationale Marketing für den Bildungsstandort Deutschland hin - sind nur dank einer gemeinsamen Anstrengung von Bund und Ländern möglich gewesen. Würde die gemeinsame Bildungsplanung aufgegeben, könnten diese Programme leider nicht fortgesetzt werden. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen von der Union: Überdenken Sie Ihre Position zur gemeinsamen Bildungsplanung noch einmal! Die Bundesregierung wird sich für die Beibehaltung dieses Instruments einsetzen, weil sie es für notwendig hält. Unterstützen auch Sie - andere Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus haben das schon deutlich gemacht - die gemeinsame Bildungsplanung. Überdenken Sie Ihre Position noch einmal und stimmen Sie für den vorgelegten Antrag. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Rachel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen eine intensive Debatte über die Reform des Föderalismus in Deutschland und über die Neuregelung der Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern. Mit dem heutigen Antrag versuchen SPD, Grüne und FDP letztlich bereits Fakten zu schaffen, indem sie den Erhalt der Bildungsplanung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung festschreiben wollen. Alles soll so bleiben, wie es in den letzten Jahrzehnten war. Die Dinge sind aber nicht mehr so, wie sie waren. Für ein fruchtbares Zusammenwirken von Bund und Ländern in einem Gremium wie der BLK ist es erforderlich, dass alle Beteiligten von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns sowie von der Notwendigkeit und Effizienz der Institution überzeugt sind. Genau dies ist aber nicht mehr der Fall. Die Bundesländer haben in der KMK die notwendigen Konsequenzen nach PISA selbst gezogen. Ich nenne die nationalen Bildungsstandards und die einheitlichen Abschlussprüfungen in den verschiedenen Schulformen. Die Ministerpräsidenten der SPD-geführten und der unionsgeführten Länder haben am 27. März entschieden, die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung abzuschaffen und sie zur reinen Ländersache zu machen. Damit hat sich die Ausgangslage in Deutschland verändert. ({0}) Wir Christdemokraten haben Verständnis dafür, dass sich die Länder aus der Bildungsplanung im Schulbereich zurückziehen wollen; denn die Schulpolitik gehört nun wirklich in den ausschließlichen Kompetenzbereich der Bundesländer. Die ständigen Versuche von Bildungsministerin Bulmahn, in die Schulpolitik der Bundesländer, für die sie überhaupt keine Kompetenz hat, hineinzuregieren, sind überflüssig und schädlich. Für dieses Verhalten hat Frau Bulmahn von den Bundesländern die Quittung erhalten. ({1}) Angesichts der Meinungsbildung aller Bundesländer mutet das Föderalismuskonzept von Gerhard Schröder geradezu kurios an. Wenn die Bundesregierung fordert, die gemeinsame Bildungsplanung zu einem verpflichtenden Verfassungsauftrag umzugestalten, so zeigt dies, dass Schröder lange nicht mehr mit den Ministerpräsidenten der sozialdemokratisch geführten Länder gesprochen hat. ({2}) Der heute vorliegende Antrag zur Bildungsplanung der BLK ist letztlich ein Trick; denn er versucht ausschließlich, den Sektor der Bildungsplanung zu thematisieren und alle anderen Fragen des Zusammenwirkens bei Bildung und Forschung - auch das ist Gegenstand der Föderalismusdebatte - auszuklammern. Aber das werden wir nicht durchgehen lassen. So ist es bezeichnend und geradezu entblößend, dass der Antrag von SPD und Grünen zwar die Fortsetzung der Bildungsplanung, nicht aber die Fortsetzung der Forschungsförderung in der BLK gefordert hat. ({3}) In Wirklichkeit will diese Bundesregierung nämlich aus der gemeinsamen Forschungsförderung der Bund-Länder-Kommission aussteigen und das zweite Standbein der BLK absägen. So viel zur Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit dieses Antrages. ({4}) Kein Wort verlieren SPD und Grüne in ihrem Antrag zu dem Willen der Bundesregierung, die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 des Grundgesetzes aufzuheben. Auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer haben dies gefordert. Wo bleibt der Mut der sozialdemokratischen und grünen Bundestagsabgeordneten, sich zu diesem Thema zu bekennen? ({5}) Ich habe dazu in dieser Debatte nichts gehört. Wir Christdemokraten können uns zum Beispiel nicht für die vollständige Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes aussprechen. ({6}) Natürlich muss das HRG entschlackt und entbürokratisiert werden. Auch dies hat Ministerin Bulmahn bisher nicht geschafft; das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die Grundsätze des Hochschulwesens sollten auch in Zukunft durch das HRG bundeseinheitlich geregelt werden. ({7}) Weiterhin fordert die Bundesregierung, dass die jetzige Gemeinschaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von Hochschulen“ den Ländern übertragen wird. Auch die Ministerpräsidenten wollen dies. Was meint eigentlich die SPD-Bundestagsfraktion dazu? ({8}) Auch dazu hören wir nichts. Wir meinen, dieser Punkt sollte noch einmal gründlich bedacht werden. ({9}) Wer garantiert eigentlich, dass der Bund den Ländern auf Dauer den hohen Millionenbeitrag für den Hochschulbau zur Verfügung stellt? ({10}) In der Vergangenheit war es von Vorteil, dass der Ausbau der Hochschulen auch zwischen den Bundesländern abgestimmt wurde, ({11}) damit Dubletten im inhaltlichen Profil vermieden wurden und nicht nur nach regionalpolitischen Gesichtspunkten entschieden wurde. ({12}) Geschickt versuchen SPD und Grüne mit ihrem Antrag, die öffentliche Aufmerksamkeit nur auf den Aspekt der Bildungsplanung zu lenken. ({13}) In Wirklichkeit befasst sich die BLK in gleichem Maße mit der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern. Dies wird bei Ihnen nicht angesprochen, obwohl die Bundesregierung gerade die Entflechtung der Forschungsförderung nach Art. 91 b des Grundgesetzes fordert. Sie will nämlich die Forschungsorganisationen Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft und Deutsche Forschungsgemeinschaft in die alleinige Zuständigkeit des Bundes und die Institute der so genannten blauen Liste in die alleinige Zuständigkeit der Länder überführen. So lautet das vergiftete Angebot der Bundesregierung. Wenn aber nur der Bund oder nur die Länder für die Forschungsorganisation zuständig sind, gibt es auch keinen Gegenstand für eine gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern mehr. Das, was Ihre Bundesregierung vorhat, bedeutet das Aus für die BLK in der Forschungsförderung. ({14}) Das ist die Wahrheit, die Sie hier heute unter den Teppich kehren wollen. ({15}) Wir Christdemokraten halten Ihre Politik der Zerschlagung der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern wissenschaftspolitisch für verfehlt, finanziell für die betroffenen Forschungsorganisationen für gefährlich und von der Sache her für kurzsichtig. Noch nicht einmal die Betroffenen wurden gefragt, Herr Staatssekretär. Die Betroffenen haben aber sehr wohl eine Meinung dazu. Für die Leibniz-Gemeinschaft hat sich die gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern bewährt und ist sinnvoll. Hans-Olaf Henkel spricht von Ihren Plänen als unlogisch, die Entflechtung führe zu einer Kleinstaaterei in der Forschung. Tatsächlich ist der Ansatz der Bundesregierung verfehlt. Eine Neustrukturierung der Forschungslandschaft kann man diskutieren, aber sie darf nicht allein von finanziellen und administrativen Überlegungen abhängig gemacht werden. Sie muss vielmehr von inhaltlichen Gesichtspunkten ausgehen. Das ist aber bei Ihnen nicht der Fall. Die Forschungsinstitutionen dürfen nicht zu einem Verschiebebahnhof für Finanzströme zwischen Bund und Ländern werden. ({16}) Die gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern hat einen guten Grund. Sie verhindert bei wissenschaftlichen Aufgaben von überregionaler Bedeutung eine Zersplitterung der Ressourcen. Statt 16 Forschungspolitiken der Länder und einer des Bundes gibt es eben nur eine gebündelte Forschungspolitik in Deutschland. Auch nach Ansicht der Deutschen Forschungsgemeinschaft - DFG - hat sich diese gemeinsame Forschungsförderung bestens bewährt. Als schon bösartig muss man die Absicht der Bundesregierung bezeichnen, gerade die Leibniz-Gemeinschaft künftig nicht mehr mitzufinanzieren, sondern dies ausschließlich den ostdeutschen Ländern zu überlassen, die dazu nicht in der Lage sind. Damit wird gerade die für den Osten Deutschlands so wichtige Forschungslandschaft beschädigt. Dies werden wir Christdemokraten auf keinen Fall mitmachen. Die Herausnahme der Leibniz-Gemeinschaft ist bösartige Willkür. ({17}) Wäre nur noch der Bund für die meisten Forschungsorganisationen zuständig, stiegen die Risiken des einseitigen Handelns der Bundesregierung. Damit haben die Forschungsorganisationen in diesem Jahr schon schlechte Erfahrungen gemacht. Die von dieser Bundesregierung und den 16 Bundesländern bereits zugesagten Budgetzuwächse hat die Bundesregierung einseitig gekündigt und fallen gelassen. Eine solche Willkür hat es vorher noch nie gegeben. Die korrigierende und abfedernde Wirkung der Zusammenarbeit mit den Bundesländern hat immerhin noch der DFG geholfen. Wäre nur der Bund zuständig, würde jede Haushaltsentscheidung des Bundes voll und unbarmherzig auf alle Forschungseinrichtungen durchschlagen. Angesichts der Verlässlichkeit dieser rot-grünen Bundesregierung und ihrer Wortbrüche ist dies eher eine abschreckende Perspektive. ({18}) Die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung in der Bund-Länder-Kommission hat auf jeden Fall zu einer sachorientierten Beratung der Forschungsschwerpunkte geführt und auch eine gewisse Politikferne garantiert. Wenn diese Bundesregierung alleine für die außeruniversitäre Forschung zuständig ist, wird die Wissenschaft zum Spielball der Bundesregierung. Das wollen wir nicht. ({19}) Es ist nicht erkennbar, wo das Problem liegt, für das Sie durch die Entflechtung der Forschungsförderung die Lösung suchen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung zerschlägt wissenschaftlich wertvolles Porzellan. Für uns Christdemokraten hat die Forschungsfreiheit einen hohen Rang. ({20}) Deshalb unterstützen wir das Leitbild einer von der Wissenschaft selbst verwalteten und inhaltlich selbst gesteuerten Forschungsförderung. Dazu hat die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung von Bund und Ländern mit der BLK den notwendigen und sachgemäßen Rahmen geboten. Sie hat sich bewährt und sollte deshalb erhalten bleiben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Berg von der SPD-Fraktion. ({0})

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rachel, ich war etwas überrascht. Ich glaube, Sie haben unseren Antrag nicht gelesen. Es ging hier um Bildungsplanung und nicht um Forschungsförderung. ({0}) Wir sind gerne bereit, uns auch über die Forschungsförderung noch einmal in aller Ausführlichkeit zu unterhalten. Sie werden dann vielleicht überrascht sein, welche Position wir dabei einnehmen. ({1}) Heute möchte ich aber auf den von uns gestellten Antrag und auf das Thema Bildungsplanung eingehen. Ich komme jetzt also zum eigentlichen Thema. „Schaffen Sie die Kulturhoheit der Länder ab! Wir brauchen einheitliche Strukturen innerhalb Deutschlands.“ Diese Forderung stellten die Wirtschaftsjunioren aus meinem Wahlkreis auf einer Neujahrsveranstaltung im Januar dieses Jahres. So äußert sich auch Dominique Döttling, Bundesvorsitzende der Wirtschaftsjunioren Deutschland. Wie wir gerade gehört haben, äußern sich die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ganz anders. Diese wollen den Ansatz einer gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern vollständig aufgeben. Ganz abgesehen davon, dass Sie sich als Bundesbildungspolitiker damit quasi selbst die Kompetenz absprechen, bahnen Sie so einer Politik den Weg, die in die Sackgasse führt. ({2}) In einer Welt, die immer globaler wird und die jedem und jeder Einzelnen abverlangt, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, können wir uns eine bildungspolitische Kleinstaaterei einfach nicht leisten. ({3}) Wir brauchen den breiten Horizont und den Überblick, um die bildungspolitischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte für die gesamte Bundesrepublik zu meistern und den Bildungsstandort Deutschland im globalen Wettbewerb wieder an die Spitze zu führen. Allerdings führt auch die Forderung der Wirtschaftsjunioren nach einer vollständigen Abschaffung der Kulturhoheit der Länder in die Irre. ({4}) Unsere Fraktion, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, steht ausdrücklich zu dem Modell des kooperativen Föderalismus. ({5}) Ich möchte hinzufügen: Ein wenig Wettbewerb unter den Ländern kann nicht schaden. Die langfristige Zusammenarbeit der Länder mit dem Bund ist dabei möglich und von uns gewollt, denn viele Herausforderungen können nicht in Ad-hoc-Arbeitsgruppen, wie sie Katherina Reiche einmal gefordert hat, bewältigt werden. ({6}) Schauen wir uns die Herausforderungen an, denen sich Deutschland in Zukunft stellen muss. Die tief greifenden soziokulturellen und ökonomischen Umwälzungen unserer Gesellschaft, die Internationalisierung von Wirtschaft und Arbeitsmärkten fordern von einem rohstoffarmen Land wie der Bundesrepublik vor allem eines: Investitionen in Köpfe, Bildung und Wissen. Das nutzt dem einzelnen Menschen, aber auch der Gesellschaft insgesamt. Nur so können wir international bestehen und unseren Wohlstand für uns und unsere Kinder erhalten. Die Ergebnisse der oft zitierten PISA-Studie haben gezeigt, dass die Bundesrepublik insgesamt noch deutlich nachlegen muss. ({7}) Leider nutzen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, die PISA-Studie nur als argumentativen Steinbruch, um in selbstgefälliger Rechthaberei die Bildungspolitik der SPD-regierten Länder und der Bundesregierung zu kritisieren. Wenn es aber um Konsequenzen und Lösungen geht, dann kneifen Sie, Herr Rachel. Das wird unter anderem an Ihrer Verweigerungs- und Verzögerungstaktik bei der Einführung von nationalen Bildungsstandards deutlich, die Niveau und Gleichwertigkeit im Bildungsbereich sichern helfen. Das ist eine verantwortungslose Politik auf Kosten von Eltern und Kindern. ({8}) In einer Zeit, in der an Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und deren Familien immer größere Anforderungen an Mobilität gestellt werden - Christoph Matschie hat das eben schon unterstrichen -, ist es nur folgerichtig und unumgänglich, dass deren Kinder in ganz Deutschland vergleichbare Bedingungen im Bildungswesen vorfinden. ({9}) Ich selber bin im Übrigen ein gebranntes Kind. Meinen eigenen Kindern wurde bei einigen Umzügen von einem in ein anderes Bundesland durchaus einiges zugemutet. Ich möchte Ihr Augenmerk aber noch speziell auf den Hochschulbereich lenken. Alle Anstrengungen, die in der Vergangenheit gemeinsam von Bund und Ländern unternommen wurden, hatten das Ziel, die Hochschullandschaft in der gesamten Bundesrepublik weiterzuentwickeln und dafür zu sorgen, dass es in bestimmten Regionen nicht zu weißen Flecken kam. Das war besonders für die neuen Länder wichtig, für die wir enorme Kraftanstrengungen unternommen haben. ({10}) Frau Reiche, ich wundere mich, warum Sie dazu nichts gesagt haben. Gerade im Hochschulbereich ist Europäisierung und Internationalisierung unübersehbar und unverzichtbar. Mit dem Bologna-Prozess werden zum Beispiel an den Hochschulen europaweit vergleichbare Studiengänge und Abschlüsse geschaffen. Unsere Hochschulen werden im Wettbewerb mit den übrigen europäischen Universitäten aber nur dann bestehen können, wenn aus einer gesamtstaatlichen Perspektive ihre Schwächen und Stärken beurteilt und sodann die Schwächen behoben und die Stärken ausgebaut werden. Wenn aber Absprachen und Vereinbarungen zwischen den Ländern Europas und darüber hinaus übereinstimmend als richtig und wichtig bewertet werden: Warum dann, bitte schön, nicht auch im nationalen Bereich? ({11}) Ich nenne jetzt einige Beispiele, die diese These untermauern. Gemeinsame Bildungsplanung ist dort besonders sinnvoll, wo es um die Finanzierung von hochschulpolitischen Vorhaben geht, die die Kräfte eines einzelnen Bundeslandes überfordern, oder wo es um die Notwendigkeit geht, kostspielige Parallelprojekte in mehreren Bundesländern zu vermeiden, oder wenn es darum geht, die Herausforderung zu meistern, die Zahl der Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik zu steigern, weil wir diese in Zukunft auf dem deutschen Arbeitsmarkt dringend benötigen. Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Klaus Landfried nennt daher zu Recht ihre Verabschiedung aus der gesamtstaatlichen Bildungsplanung „Kraftmeierei auf Kosten des Wissenschaftsstandorts Deutschland“. ({12}) Abschließend kann ich daher nur sagen: Ich hoffe, dass Sie meine Argumente und die eben vorgetragenen Argumente meiner Fraktion, der FDP und von den Grünen und die anderer renommierter Vertreter aus dem Wissenschafts-, Wirtschafts- und Bildungsbereich überzeugt haben und Sie wie in der Frage der Ganztagsschulen letztlich doch noch einlenken. Das wäre ein kleiner Schritt für Sie, aber ein großer Schritt für unser Land. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/935 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sperrzeiten für Außengastronomie verbraucherfreundlicher gestalten - Drucksache 15/674 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten Redezeit erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Ernst Burgbacher von der FDP das Wort.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum Glück liegen jetzt einige sonnige Tage hinter uns; ich hoffe, viele solcher Tage liegen noch vor uns. Da wird dieses Thema natürlich wieder aktueller. Es ist auch gut, wenn man den aktuellen Bezug zum Thema wirklich selbst empfindet. Es zieht die Menschen ins Freie - das wissen wir -, aber in vielen Ländern heißt es nach wie vor: Um 22 Uhr ist Schluss mit lustig. Das kann nicht sein. Deshalb haben wir heute einen Antrag zur Änderung dieser Regelung vorgelegt. ({0}) Wir halten immer noch daran fest, dass Freiluftgaststätten in der Regel um 22 Uhr schließen müssen. Das Konsumentenverhalten hat sich aber in den vergangenen Jahren längst verändert, indem Besuche in Gaststätten in die späteren Abendstunden verlegt wurden. Wir haben längere Ladenöffnungszeiten. Obwohl wir seit langem die Sommerzeit haben, hat sich an diesen Regelungen jedoch nichts geändert. Das kann doch nicht sein. Die Erfahrungen aus südeuropäischen Ländern besagen, dass die Menschen dies genießen. Wenn sie zu uns kommen, ist es auf einmal wieder vorbei. ({1}) Meine Damen und Herren, wir sind über Fraktionsgrenzen hinweg dabei, den Tourismusstandort Deutschland attraktiver zu machen. Dazu gehört es eben auch, eine ausgeprägte Biergarten- und Außengastronomiekultur zu haben. ({2}) Ich sage Ihnen ganz ernsthaft: Die Lage in der Gastronomie - diejenigen, die sich damit beschäftigen, wissen es ist im Augenblick katastrophal. Die Gastronomen sind im Augenblick froh über jeden Strohhalm, den wir bieten. Es ist durchaus ein Thema für die Gastronomie, ob die Gäste bei diesem Wetter um 22 Uhr hineingehen müssen oder ob es noch ein, zwei Stunden gibt, in denen man Umsatz machen kann. ({3}) - Wenn Sie hier lächeln, dann verkennen Sie wirklich die Lage; sie ist ernst. Wir als Politiker haben alles dafür zu tun, dass sich diese Lage ändert und bessere Voraussetzungen geschaffen werden. ({4}) Deshalb haben wir diesen Antrag vorgelegt. ({5}) Weil ich mir denken kann, welche Kritik nachher geäußert werden wird, will ich gleich einiges zum Vorgehen sagen. Es ist richtig, dass die Länder dies regeln. Allerdings haben die Erfahrungen gezeigt, dass die Länder mit ihren Regelungen ganz schnell an Grenzen stoßen, weil dann immissionsschutzrechtliche Vorschriften ins Feld geführt werden und es Gerichtsverfahren gibt. Deshalb müssen wir als Bund die entsprechenden Voraussetzungen schaffen, bevor die Länder wirklich tätig werden können. Nichts anderes bezwecken wir mit unserem Antrag. Wir wollen - dazu fordern wir auf - einen unbürokratischen, verbraucherfreundlichen und praxistauglichen Vorschlag zur Änderung des Bundesimmissionsschutzrechtes vorlegen. Wir haben das auch auf anderen Gebieten getan - in der TA Sportstätten wurde etwas Identisches geregelt - und wollen jetzt nur, dass parallel dazu für die Außengastronomie etwas Entsprechendes festgelegt wird. ({6}) Damit erhielten wir Lärmschutzwerte, die an die Realität angepasst sind, denn menschliches Lachen ist eben etwas anderes als Sägen, Hämmern oder Bohren. In dieser Hinsicht sollten Sie sich wirklich ein Stück weit öffnen. ({7}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es schon toll: Sie lachen über Probleme, obwohl Sie ganz genau wissen, wie viele Betroffene nur darauf warten, dass dieses Parlament dies endlich seriös behandelt und auch die notwendigen Änderungen beschließt. ({8}) Sie sollten auch einmal die Sorgen der Leute draußen ernst nehmen und nicht nur theoretisch darüber reden, was wir für den Tourismusstandort tun sollten. Es sind keine schönen Reden, sondern konkretes Handeln gefragt. Heute haben Sie hier dazu die Möglichkeit. ({9}) Meine Damen und Herren, natürlich gibt es bei diesem Thema auch noch eine zweite Komponente, den Schutz betroffener Anwohner. Weil dieses Argument sicherlich gleich kommen wird, sage ich dazu noch etwas. Dies ist eine Frage der Toleranz. Es gibt viele gute Beispiele dafür, wie es mit gegenseitiger Toleranz, nicht aber mit scharfen gesetzlichen Vorschriften funktioniert. Gastronomen reden mit ihren Gästen; so etwas wird eher akzeptiert, als wenn man von vornherein eine Regelung darüber stülpt. Man muss vernünftig damit umgehen und herausfinden, was möglich und was nicht möglich ist. Uns geht es hier überhaupt nicht darum, mehr Bürokratie zu schaffen. Im Gegenteil, wir wollen die bundespolitischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Länder und Gemeinden diese Frage so regeln können, wie sie es für richtig halten, aber eben auch im Sinne der Bedürfnisse der Gäste und vieler geplagter Gastronomen. Sie, meine Damen und Herren, können heute beweisen, ob Sie das ernst nehmen oder wieder mit oberflächlichen Argumenten darüber hinweggehen. Ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen, auch wenn er von der Opposition kommt. Viele Menschen werden Ihnen dankbar sein. Danke schön. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt. ({0})

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Gastronomie und natürlich auch die Außengastronomie sind ein Teil des modernen Lebens in unserem Lande, insbesondere des urbanen Lebens. Straßencafés und Biergärten prägen und beleben das Erscheinungsbild der Innenstädte. Das alles bleibt völlig unbenommen. Gerade jetzt zu Beginn des Sommers steht außer Frage, dass sich Biergärten außerordentlicher Beliebtheit erfreuen. Ich vermute, dass viele Menschen auch das südliche Flair nachempfinden, das sie im Urlaub nicht nur am Tage, sondern auch am Abend und in der Nacht genießen. Das ist schön und harmonisch und wir lieben es alle. Aber es führt auch kein Weg daran vorbei, dass dies mit Geräuschen verbunden ist. Des einen Freud‘ ist am Ende des anderen Leid. Ich kann dies gut beurteilen, weil in einer so dicht besiedelten Stadt wie meiner Heimatstadt Berlin viele Konflikte dieser Art leider auch vor ordentlichen Gerichten ausgetragen wurden. Der Schlaf suchende, entnervte Anwohner - so drücke ich es einmal aus -, der nicht die gewünschte Ruhe findet, wenn draußen bis in die Nachtstunden hinein vielstimmig geschwätzt und gelacht wird, darf in der Gesamtbetrachtung natürlich auch nicht außer Acht gelassen werden. Die Bundesregierung hat also diese gegenläufigen Interessen zu beachten: auf der einen Seite die Gastwirte und Besucher solcher Außengaststätten und auf der anderen Seite die benachbarten Anwohner. Für den Gesetz- und Verordnungsgeber gilt es, stets einen möglichst sachgerechten und fairen Interessenausgleich zu finden. ({0}) Diejenigen, die dafür zuständig sind, bemühen sich, eine faire Kompromisslinie zu ziehen. Ihr Antrag tut dies allerdings nicht. ({1}) Bereits vor einem knappen Jahr haben wir dieses Thema im Lichte einer großartigen Biergartenfete gleich gegenüber in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft miteinander debattiert. Ich sehe keine neuen Argumente, die eine erneute Befassung rechtfertigen könnten. ({2}) Der FDP-Antrag spricht sich im Ergebnis wieder für eine flächendeckende Festlegung der Sperrzeit für die Außengastronomie auf 24 Uhr aus. ({3}) Das würde in der Praxis Folgendes bedeuten: Angenommen, die Gastronomie schließt um Mitternacht. Dann beginnt der Aufbruch der Gäste und es wird halb eins oder eins. Das bedeutet am Ende, dass in ganz erheblichem Umfang die Nachtruhe, die ein hohes gesundheitliches Gut ist, in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Wir wiederholen deshalb, dass wir im FDP-Antrag keinen vernünftigen und sachgerechten fairen Kompromis sehen, weil er die Anwohnerinteressen vernachlässigt. Die geltende Sperrzeitenregelung - ich will es noch einmal sagen - ist Länderrecht. ({4}) Die Länderbestimmungen sehen eine Delegation an die Kommunen vor. Die Kommunen sind dadurch in der Lage, unter Berücksichtigung der jeweiligen lokalen Verhältnisse sachgerechte Lösungen zu treffen. Der FDP-Antrag hingegen fordert den Bundesgesetzgeber zu einer bundeseinheitlichen Regelung ({5}) durch imissionsschutzrechtliche Änderungen auf. Geht es bei der Sperrzeitenregelung wirklich darum, gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse zu schaffen? Das wäre eigentlich die Voraussetzung dafür, wenn wir die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund geltend machen wollten. Ich habe da meine Zweifel. Der Bereich der Sperrzeiten zeichnet sich gerade durch eine besondere Abhängigkeit von regionalen Gegebenheiten aus. ({6}) In Berlin wird sicherlich manches anders entschieden als in einem Flächenstaat. ({7}) Ich glaube, dass der FDP-Antrag auch vor dem Hintergrund der Verfassungslage jedenfalls mit Vorsicht zu genießen ist. In den Ländern ist bereits seit einiger Zeit eine Liberalisierung der Sperrzeiten zu verzeichnen. In Hamburg und Brandenburg wurde die Sperrzeit für die Außengastronomie allgemein auf 23 Uhr festgelegt. Hier setzt auch der Bundeswirtschaftsminister an. Wir appellieren, wie übrigens schon Herr Müller in der Vergangenheit, an die Landesregierungen und die Kommunen: Machen Sie nach bestem Wissen und Gewissen und immer orientiert am Einzelfall Regelungen möglich, die genau die Spielräume schaffen, damit sich die Menschen im Sinne eines fairen Interessenausgleichs in ihrer Freizeit vernünftig im Biergarten bewegen können, aber im Zweifel auch die Gelegenheit haben, ruhig zu schlafen, wenn 22 Uhr oder 23 Uhr erreicht sind. Ich finde, das muss man im Sinne der Subsidiarität, für die Sie auch plädieren, bei Ländern und Kommunen belassen und nicht den Bund in einer Weise mit einer Regelung belasten, die unangemessen ist. ({8}) Wir reden von Entbürokratisierung und davon, dass wir in vernünftiger Weise die Aufgaben in unserem Lande auf Bund, Länder und Kommunen verteilen. Wenn die Öffnungszeiten von Biergärten zur Bundesan3594 gelegenheit werden, dann weiß ich nicht, was wir uns demnächst noch alles an die Lampe hängen und hier im Bundestag debattieren. ({9}) Vielleicht werden wir dann eines Tages ein gutes Kommunalparlament sein, das sich mit diesen Fragen und den entsprechenden Beschwerden der Bürgerinnen und Bürger zu befassen hat. Ich hoffe auf großzügige und liberale Regelungen in den Kommunen und Ländern. Wir aber sollten uns mit solchen Detailfragen hier nicht befassen. Danke. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Hinsken von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- Im Museum. Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zwei Reden haben zu diesem heutigen Thema bereits stattgefunden, eine pragmatische Rede des Kollegen Burgbacher, der sehr wohl sieht, welche Bedürfnisse die Mitbürger haben, und vor allen Dingen eine abwehrende Rede von Herrn Dr. Staffelt, um zu verhindern, dass sich etwas tut und sich die Situation der Außengastronomie, insbesondere des Hotel- und Gaststättengewerbes, verbessert. ({0}) Sommerzeit ist Biergartenzeit. Ich gehe davon aus, dass viele - unabhängig davon, auf welcher Seite sie sitzen - gern einen Biergarten besuchen, um sich einen schönen Abend zu machen. ({1}) Die Zeit der langen Tage und kurzen Nächte ist angebrochen. Vielerorts lebt die Biergartenkultur auf, und zwar oft in einer sehr gepflegten Atmosphäre. Ich meine, bei dieser Gelegenheit darauf verweisen zu müssen, dass sich gut ein Drittel - das sind 80 000 bis 90 000 - der 240 000 bis 250 000 gastronomischen Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland auch der Außengastronomie verschrieben haben, sei es in Form eines Biergartens, sei es in Form eines Straßencafés oder eines Hoteloder Restaurantgartens. Manche stellen im Sommer Stühle und Tische auf die Straße, um dadurch ihr Einkommen zu verbessern. Ich halte das für richtig und gut, weil wir schließlich immer wieder der Kreativität das Wort reden. Wenn schon jemand seine Einkommensbasis verbreitern möchte, dann sollte ihm diese Möglichkeit auch eingeräumt werden. Wir leisten zurzeit eine gewisse Nacharbeit; denn die Regierungskoalition hat bereits in der 14. Legislaturperiode versäumt, die notwendigen Regelungen zu verabschieden, die weitblickende Kollegen wie der Abgeordnete Burgbacher, den ich an dieser Stelle nochmals ausdrücklich erwähnen möchte, bereits auf den Weg bringen wollten. Interessant ist auch, wie derzeit die Werbung gestaltet wird. Ich habe vor wenigen Tagen einen Werbeprospekt in die Hände bekommen, in dem es so schön heißt: „Mensch, bleib‘ hier!“ ({2}) Was ist in dieser Werbung zu sehen? Es sind Menschen abgebildet, die so finster dreinschauen wie Sie ({3}) und die dicht gedrängt in einem Flugzeug sitzen. Demgegenüber wird mit schönen Gartenmöbeln geworben. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, der auch vernünftig ist. Mit dem Werbeslogan „Mensch, bleib‘ hier!“ wird sicherlich vielen Mitbürgern aus der Seele gesprochen. Einer Umfrage zufolge hat ein Drittel der Bundesbürger vor, auf den Urlaub im Ausland zu verzichten. Die Gründe dafür sind vielfältig: Sie haben Angst vor Terroranschlägen. Auch die Lungenkrankheit SARS wirkt abschreckend. Hinzu kommt die angespannte Wirtschaftslage, die dafür verantwortlich zeichnet, dass sich mancher einen Urlaub in fernen Ländern nicht mehr erlauben kann. Auch die 4,5 Millionen Arbeitslosen, die zu verzeichnen sind, sind kein Pappenstiel. Wer arbeitslos ist, hat andere Sorgen, als sich Gedanken über den Urlaub zu machen. Der daraus resultierende „Urlaub auf Balkonien“ bringt weitere Folgeerscheinungen mit sich. ({4}) - Ja, Herr Ströbele. Wir sind eben eine Fraktion, die auch etwas für den kleinen Mann übrig hat und bemüht ist, vernünftige Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass er ein schönes Leben führen kann, auch wenn er aufgrund der verfehlten Wirtschaftspolitik der jetzigen Bundesregierung nicht das notwendige Geld in der Tasche hat, um im Urlaub ins Ausland zu fliegen. ({5}) In dieser Situation bekommt beispielsweise das abendliche Treffen mit Freunden in Biergärten oder Straßencafés einen noch höheren Stellenwert. Wir müssen deshalb - dieser Aufgabe sollten wir alle nachkommen - den Bürgern in ihrem Wohnumfeld so viel Urlaubsstimmung wie möglich bieten. Dazu gehört meiner Meinung nach auch ein Biergarten oder ein Straßencafé, das nicht um 22 Uhr fluchtartig geräumt werden muss, sondern in dem man die Möglichkeit hat, den Abend nett ausklingen zu lassen. Denn - das hat der Kollege Burgbacher bereits ausgeführt - die Lebensgewohnheiten der Bürger haben sich gewandelt. ({6}) Sei es wegen der Arbeitszeit, sei es wegen der Ladenöffnungszeiten, die Menschen starten im Allgemeinen immer später in die Abendfreizeit. Dieser Trend ist nicht nur bei Jugendlichen festzustellen, sondern geht querbeet durch alle Altersschichten. Wer kann daher Verständnis dafür aufbringen, wenn die Biergärten bereits um 20 Uhr geschlossen werden sollen? Hier wird doch der gesellschaftspolitische Aspekt völlig außer Acht gelassen. Biergärten sind für mich Kommunikationsoasen. ({7}) Sie müssen gefördert werden, weil die Kommunikation insgesamt gefördert werden muss. Wenn es im Ausland - darauf beziehen Sie sich ja oft - flexible Regelungen gibt, dann frage ich: Warum sind wir in der Bundesrepublik Deutschland dazu nicht in der Lage? Herr Staatssekretär Dr. Staffelt, Sie haben doch hinausposaunt, dass Sie sich für eine Entbürokratisierung einsetzen würden. Beginnen Sie doch damit! Reden Sie nicht nur darüber, sondern setzen Sie endlich politische Akzente! Schaffen Sie Gesetze, die den heutigen Herausforderungen gerecht werden! ({8}) Eines steht doch unbestritten fest: Durch längere Öffnungszeiten kann auch der Inlandstourismus gefördert werden. Das ist dringend erforderlich; denn die Übernachtungszahlen - im vergangenen Jahr war ein Minus von 3 Prozent zu verzeichnen - sind rückläufig. Die Umsätze im Gastgewerbe brechen weg. Verehrte Frau Kollegin Irber, das Jahr 2002 war seit mehreren Jahrzehnten das schlechteste Jahr für das Gastgewerbe. ({9}) Die Umsätze sind allein im letzten Jahr um 4,7 Prozent gesunken. In den ersten drei Monaten dieses Jahres - verehrter Herr Kollege Schmidt, Sie sind ja einer der führenden Leute der sozialdemokratischen Fraktion ({10}) gab es ein weiteres Minus von sage und schreibe 9,4 Prozent. Die gastronomischen Betriebe - das bekommen Sie zu hören, wenn Sie mit dem einen oder anderen Unternehmer sprechen - stehen momentan mit dem Rücken zur Wand. Sie wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen. Wir haben jetzt die Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, nämlich auf der einen Seite den Besuchern außengastronomischer Einrichtungen Freude zu bereiten und auf der anderen Seite den Gastwirten mehr Umsatz zu bescheren. Deshalb meinen wir, dass dem behördlichen Zapfenstreich ein Ende gesetzt werden muss. Im derzeit gültigen Bundes-Immissionsschutzgesetz werden leider Kommunikationsgeräusche und Arbeitslärm auf eine Stufe gestellt. Ich wiederhole die Frage des Kollegen Burgbacher: Ist es denn richtig, wenn Reden und Lachen mit Bohren, Hämmern und Sägen gleichgesetzt werden? Wir meinen, dass das geändert werden muss. Es kann doch nicht sein, dass bei Rechtsstreitigkeiten über Kommunikationsgeräusche die TA Lärm herangezogen wird, die zwar bei der Bewertung von Industrielärm ihren Zweck erfüllt, die aber für die Bewertung von Kommunikationsgeräuschen gänzlich ungeeignet ist. Hier sind neue Richtwerte, aber auch neue Messmethoden notwendig, um eine Regelung herbeizuführen, die sowohl dem Lärmschutz der Anwohner als auch dem Erholungsbedürfnis der übrigen Bevölkerung Rechnung trägt. Bei gutem Willen ist das durchaus möglich. Hier sind die verschiedenen Bereiche gefordert. Natürlich nehme ich es jemandem ab, der in unmittelbarer Nähe einer außengastronomischen Einrichtung wohnt, wenn er behauptet, dass ihm Negatives widerfährt. Aber wir können doch nicht wegdiskutieren, dass es sich in Deutschland nicht an jedem Tag lohnt, einen Biergarten zu öffnen, weil es nicht genügend Sonnenschein gibt. Wie viele Tage gibt es denn bei uns, die sich allein aufgrund des Wetters für einen Biergartenbesuch anbieten? Man kann maximal von 30 bis 40 Abenden ausgehen, die für einen solchen Besuch infrage kommen. Deshalb meine ich, dass es unser aller Aufgabe ist, nicht nur, wie ich bereits vorhin erwähnt habe, über Entbürokratisierung zu reden, sondern ihr auch Leben einzuhauchen. Die derzeit gültige Regelung entspricht in keiner Weise den heute üblichen Lebensgewohnheiten. Sie ist ein Hemmschuh für das Gaststättengewerbe und kontraproduktiv für den gesamten Inlandstourismus. Kurz gesagt: Sie muss dringend geändert werden. Deshalb sage ich den Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, dass wir ihren Antrag gerne unterstützen, wohl wissend, was wir tun. Auch wir fordern eine Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes dahin gehend, dass eine Verlängerung der Öffnungszeiten auf 23 Uhr - ideal wäre 24 Uhr - erlaubt ist. Geben Sie sich einen Ruck! Sie haben noch einige Wochen die Möglichkeit, unsere Ratschläge zu befolgen. Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dass in Bezug auf ein so kleines Gebiet endlich ein Zeichen gesetzt wird, damit die Bürger sehen: Man ist handlungsfähig, streitet sich nicht wegen der Verlängerung der Öffnungszeiten um eine Stunde und schlägt sich nicht gegenseitig die Köpfe ein! Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Brunhilde Irber von der SPD-Fraktion. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich die traurige Pflicht erfüllen, zu Beginn meiner Rede den Angehörigen der deutschen Touristen, die heute in Ungarn bei einem schweren Verkehrsunglück zu Tode gekommen sind, mein herzlichstes Beileid auszusprechen. Denjenigen, die verletzt sind, möchte ich beste Genesung wünschen. ({0}) Im Grunde genommen ist es müßig, dass wir diese Debatte führen. Man könnte sagen: Alles neu macht der Mai. Diese alte Weisheit trifft auf den Antrag der FDP - zu diesem Ergebnis kommt man auch nach genauerem Studium der Vorlage - nicht zu; denn wie der Beginn der Sommerzeit oder der Biergartenzeit bringt die FDP alle Jahre wieder einen Antrag mit diesem Inhalt ein. Sperrzeiten in der Außengastronomie haben uns in der vergangenen Legislaturperiode schon mehrfach beschäftigt. Ich hätte es mir heute ganz einfach machen können: Ich hätte hier meine Rede vom 29. Juni 2001 vortragen können. ({1}) - Herr Kollege Hinsken, Sie haben den Beginn meiner damaligen Rede übernommen. Das können Sie im Protokoll nachlesen. ({2}) - Herr Kollege Hinsken, ich werde im Folgenden darauf noch zu sprechen kommen. Zuerst möchte ich mich aber mit den Ausführungen des Herrn Kollegen Burgbacher beschäftigen. ({3}) Herr Kollege Burgbacher - Sie haben offensichtlich schon etwas dazugelernt -, Sie fordern die Bundesregierung jetzt nicht mehr auf, § 18 des Gaststättengesetzes zu ändern; denn wie wir alle wissen, beginnt die allgemeine Sperrzeit bereits jetzt - je nach Bundesland unterschiedlich - zwischen 1 Uhr und 5 Uhr. Herr Kollege Hinsken, Bayern ist das einzige Land, das auf diesem Gebiet noch nicht mitgezogen hat. Das sollten Sie einmal Ihrem Ministerpräsidenten stecken. ({4}) Herr Burgbacher, in Ihrem jetzigen Antrag zielen Sie ausschließlich auf die Definition der Nachtzeit im immissionsschutzrechtlichen Sinne ab. Diese Zeit soll gemäß Ihrem Antrag in den Sommermonaten erst um 23 Uhr oder idealerweise gar erst um 24 Uhr beginnen. Ich stimme Ihnen, wie bereits vor zwei Jahren, zu: Bei einem großen Teil insbesondere der jüngeren Leute haben sich die Lebensgewohnheiten zum Teil verändert. Viele werden in den Sommermonaten regelrecht zu Nachteulen. Das ist zwar schön, darf aber nicht zulasten der Mitmenschen gehen. Wir haben Ihnen schon vor zwei Jahren erwidert, dass wir in unserem - bereits am 13. Februar 2001 als Antrag eingebrachten - Tourismusförderprogramm die Deregulierung des Gaststättenrechts anregen. Der damalige Wirtschaftsminister Müller hat darauf sehr schnell reagiert und in einem Schreiben seine Kollegen in den Ländern aufgefordert, die Möglichkeiten der weiter gehenden Sperrzeiten zu nutzen. Alle Bundesländer bis auf Bayern haben meines Wissens die Kommunen betraut, in den kommunalen Satzungen entsprechende Regelungen festzulegen. Vor Ort weiß man am besten, was für die einzelnen Bezirke gut ist. Aus diesem Grunde sollte vor Ort entschieden werden, wo eine Verkürzung der Sperrzeiten für Außengastronomien sinnvoll ist und wo nicht. ({5}) Ihr Antrag geht aber nicht in diese Richtung; schließlich wollen Sie eine bundeseinheitliche Immissionsschutzregelung. Herr Kollege, auch deshalb geht dieser Antrag ins Leere. Die in Ihrem Antrag als Beispiel angeführten „Tourismusstädte“ können von der vorhandenen Regelung Gebrauch machen. ({6}) Die Kommunen wissen am besten, wie sie es regeln sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie fordern in Ihrer Kleinen Anfrage vom 8. April dieses Jahres den Abbau von Bürokratie in der Tourismusbranche. In dem uns jetzt vorliegenden Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, wieder ein neues Regelwerk zu schaffen. ({7}) Wie passt denn das zusammen? ({8}) Das ist widersprüchlich. Ich möchte zitieren, was Sie fordern. Nach Ihrem Antrag soll der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern, „einen unbürokratischen, verbraucherBrunhilde Irber freundlichen und praxistauglichen Vorschlag zur Änderung des Bundesimmissionschutzrechts vorzulegen“. Soll das etwa eine TA Menschlicher Kommunikationslärm sein? Ist es das, was Sie wollen? Soll das nur für die Außengastronomie gelten, wie in Ihrem Antrag ausgeführt? ({9}) - Wie soll es bei anderen Betrieben gehen? Andere Betriebe werden dann auch eine andere Regelung verlangen. ({10}) Wenn wir als Gesetzgeber Ihrem Antrag folgen und eine neue gesetzliche Regelung beschließen würden, würde das allen Bundesländern übergestülpt werden. Ich glaube nicht, dass das Ihr Ernst sein kann. ({11}) Wir alle setzen uns dafür ein, dass die nächtliche Ruhestörung durch laute Produktionsbetriebe, durch Straßenverkehrslärm oder Fluglärm weitestgehend minimiert wird. Kollege Friedrich setzt sich auch immer für den Lärmschutz ein. ({12}) Wir alle wollen die gesundheitliche Beeinträchtigung durch gestörte Nachtruhe verringern. Die Rechtsprechung ist meines Erachtens fast immer aufseiten der Kläger, wenn es sich um nächtliche Ruhestörung handelt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das mache ich gern. ({0}) So genannte menschliche Kommunikationsgeräusche können auch Lärm sein. Aus diesem Grunde meine ich, dass wir hier Interessen gegeneinander abwägen müssen, die Interessen derer, die ihre Freizeit genießen wollen, und derer, die morgens früh aus den Federn müssen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, es reicht nicht ganz aus, auf die Uhr zu schauen. Man muss dann auch entsprechend reagieren. ({0})

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke, Frau Präsidentin. Ich glaube nicht, dass Ihr Antrag die richtige Lösung für das Problem ist. Lassen wir die Kirche im Dorf ({0}) und überlassen wir die Regelung der Außengastronomie den Ländern und den Kommunen! Die wissen am besten, wie sie es regeln sollen. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn wir sicherlich wieder nicht einer Meinung sein werden, möchte ich zuvörderst dem verbliebenen Rest hier im Raum doch dazu gratulieren, dass er so tapfer und diszipliniert aushält, anstatt bei diesem Wetter innerhalb der möglichen Öffnungszeiten in einem Biergarten zu sitzen. Also, ein Kompliment an uns selbst. Demzufolge nehmen wir die Debatte durchaus ernst. ({0}) Herr Hinsken hat eben eine Zeitung sozusagen im Bild zitiert. Ich zitiere jetzt eine Zeitung im Wort. Die „Frankfurter Allgemeine am Sonntag“ überschrieb einen kleinen Beitrag über die Debatte, die wir heute über Ihren Antrag führen, etwas flapsig mit „Liberale wollen länger saufen“, ({1}) was zunächst einmal nicht ehrenrührig ist. Man kann es aber auch netter und freundlicher ausdrücken, etwa wenn man die Klassiker bemüht: „Euch ist bekannt, was wir bedürfen; wir wollen stark Getränke schlürfen“ und das, wenn es geht, bei Tag und Nacht. Auch das ist nicht abzulehnen. ({2}) Dieses Thema ist aber durchaus ernst zu nehmen. Wir befassen uns auch ernsthaft damit. Es ist aber eben nicht neu. ({3}) Undine Kurth ({4}) Dieses Hohe Haus befasst sich weiß Gott nicht zum ersten Mal mit diesem Thema. Wir tun es auf Antrag der Liberalen mit schöner Regelmäßigkeit. ({5}) - „Einmal zustimmen“ hieße ja, dass man den Antrag zustimmungswürdig findet. Ich werde Ihnen gleich sagen, warum wir ihn nicht für richtig halten. - Angesichts dieses Antrags könnte man die Klassiker noch einmal zitieren: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.“ Wenn man sich den Antrag anschaut, merkt man, dass er nicht besonders viel Arbeit gemacht hat. 2001 forderten Sie kundenfreundlicher gestaltete Öffnungszeiten. Heute sollen sie verbraucherfreundlich gestaltet werden. Es wäre schon ein Riesenfortschritt gewesen, wenn sie auch verbraucherinnenfreundlicher gestaltet werden sollten. ({6}) - Dann würden Sie es übernehmen, gut. Fortschritt! Uns Grünen wird man sicherlich nicht absprechen können, dass wir den lebensfreudigen Dingen dieser Welt zugeneigt sind. Auch wir wissen, dass sich Lebensgewohnheiten verändert haben. Das wissen wir von uns selbst, von unseren Freunden und von unseren Familien. Wir bestreiten überhaupt nicht, dass es gerade für touristisch stark nachgefragte Orte sehr attraktiv ist, wenn man abends lange, länger als bis 22 Uhr und länger als bis zum Eintritt der Dunkelheit, draußen sitzen kann. Es ist natürlich auch ein lohnendes Geschäft für die Glücklichen, die eine solche Lokalität besitzen, wenn sie denn auch noch gut besucht ist. Ich lehne auch keinen Antrag aus Prinzip ab, nur weil er von der Opposition kommt. Das fände ich unsinnig. Was aber Ihrem Antrag fehlt und an ihm zu Recht sehr nachdenklich stimmt, ist das völlige Ausblenden der Ruhebedürfnisse der Anwohner. Die Einseitigkeit Ihres Antrags haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch 2003 noch nicht überwunden. Es gibt zwar viele Menschen, die länger arbeiten und nach ihrer Arbeit Ausgleich und Erholung suchen, aber es laufen nicht alle schnurstracks in den nächsten Biergarten. Es gibt auch die Bewegung in die andere Richtung. Viele Menschen sehnen sich nach mehr Ruhe. ({7}) Für uns bleibt es daher unabdingbar: Das Spaßbedürfnis der Bevölkerung einerseits und das Ruhebedürfnis der Anwohner andererseits müssen gleichrangig betrachtet und vernünftig gegeneinander abgewogen werden. Was wir brauchen und wollen, sind verbraucherfreundlich und anwohnerfreundlich gestaltete Sperrzeiten. ({8}) - Wenn wir sie nicht haben, liegt das nicht am Bundestag. - Wir wollen also optimale Lösungen für alle Beteiligten. ({9}) - Da könnten, wie ich finde, eigentlich alle applaudieren. Regelungen nach dem Motto „Für ein paar warme Tage im Jahr wird es schon irgendwie gehen“ greifen nicht bzw. greifen zu kurz. Eine der erfreulichen Seiten der Klimaveränderung, die ja ansonsten weiß Gott unerfreulich ist, ist ja, dass es mehr als 30 bis 40 Abende im Jahr gibt, an denen man auch in unseren Breiten gut draußen sitzen kann. Zu sagen, das seien so wenige Tage, die spielten nicht wirklich eine Rolle, griffe zu kurz. ({10}) - Richtig. Davon redet auch gar keiner. Der Winter beweist aber, dass man nicht alle Gaststätten schließen muss, sondern Bier eventuell sogar in geschlossenen Räumen trinken kann. Die Zunahme der Beschwerden über ruhestörenden Lärm müssen uns doch alarmieren. Rücksichtslosigkeit gibt es auch im ansonsten so freundlichen Biergarten. Deswegen setzen wir auf bewährtes Konfliktmanagement. Wir begrüßen es ausdrücklich, wenn sich Anwohner, Biergarten- und Gaststättenbesitzer in Konfliktfällen untereinander absprechen bzw. selbst einigen. Dass man sich in der Mehrzahl der Fälle einvernehmlich einigen kann, zeigt, dass gerade im Sinne einer von Ihnen immer wieder geforderten Deregulierung nicht zwingend neue Verordnungen notwendig sind, um da zu einer Lösung zu kommen. ({11}) In den so genannten Clearingstellen, in denen sich Störer, Gestörte und Vertreter der zuständigen Behörden an einen Tisch setzen, werden ja schließlich 80 bis 90 Prozent aller strittigen Fälle gelöst. Uns scheint, dass das durchaus kein gescheiterter, sondern ein gescheiter Weg ist. Auch wenn Ihr Vorschlag von Emissionsgrenzwerten für Kommunikationslärm - das ist schon ein sehr schönes und schillerndes Wort - einen gewissen Charme besitzt, bleibt doch die Frage, ob man diesen wirklich definieren kann. Gerade in Biergärten können die Lärmemissionen doch sehr unterschiedlich sein. Der normale Abend unterscheidet sich vermutlich deutlich von dem, an dem der sangesfreudige Kegelklub da ist oder ein Weltcup zu feiern ist. Man kann diese Werte vermutlich wirklich nicht verbindlich festlegen. Uns scheint die Regelung, in Fällen der Nichteinigung den Rechtsfrieden durch eine Würdigung der jeweiligen örtlichen Gegebenheiten zu erzielen, die gangbarste und auch die fairste Methode zu sein. Die derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung ist - das wissen Sie doch auch, liebe Kolleginnen und Kollegen gar nicht so kunden- und verbraucherunfreundlich.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, darf ich Sie ebenfalls an die Zeit erinnern?

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich höre natürlich auf Sie. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das ist nett von Ihnen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich sage Ihnen noch einmal, Herr Hinsken: Gerade in Bayern gibt es doch relativ strenge Regelungen und trotzdem ist Bayern der Inbegriff der Biergartenkultur. Demzufolge glaube ich, dass wir auf neue Regelungen verzichten und vor Ort entscheiden lassen sollten, wo man die Situation kennt. Ich hoffe, dass wir uns darauf einigen können. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/674 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland - Körperschaft des öffentlichen Rechts - Drucksache 15/879 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 27. Januar 2003 haben Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, gemeinsam mit der Vizepräsidentin und dem Vizepräsidenten einen Vertrag über die beiderseitigen Beziehungen unterzeichnet. Der Vertrag wurde am 58. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Bewusstsein der besonderen historischen Verantwortung zur Förderung des Wiederaufbaus jüdischen Lebens in Deutschland und zur Verfestigung der freundschaftlichen Beziehungen zur jüdischen Gemeinschaft geschlossen. Die heutige erste Lesung im Deutschen Bundestag findet wiederum an einem sehr denkwürdigen Tag statt. Wir begehen heute, am 8. Mai 2003, den 58. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und damit der Befreiung von der Nazidiktatur. Der Krieg hinterließ eine Welt der Verwüstung; Millionen Menschen verloren ihr Leben. Das schlimmste der Verbrechen dieser Zeit war der organisierte Massenmord an Millionen Juden. Ihre Europa bereichernde Kultur wurde zerstört. Als die ersten Juden 1945 nach Deutschland zurückkehrten, hätten sie es nicht zu hoffen gewagt, dass es in Deutschland jemals wieder ein aktives jüdisches Gemeindeleben geben würde. Im Jahr 1950, zurzeit der Gründung des Zentralrats der Juden, lebten nicht mehr als 25 000 Juden in Deutschland. Bis 1989 betrug ihre Zahl nicht mehr als 30 000. Heute haben die 83 jüdischen Gemeinden wieder rund 100 000 Mitglieder. Dieser Anstieg auf das Dreifache durch den Zuzug aus den Staaten der früheren Sowjetunion hat dazu geführt, dass Deutschland nach Frankreich und Großbritannien die drittgrößte Gemeinschaft von Juden in Europa und - man beachte - die weltweit am schnellsten wachsende Gemeinschaft hat. Die Bundesregierung begrüßt diese Entwicklung. Sie hat großen Respekt davor, dass sich Juden nach den Verbrechen des Nationalsozialismus erneut in Deutschland angesiedelt und eine jüdische Gemeinschaft aufgebaut haben. ({0}) Dies hat auch dazu beigetragen, das internationale Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu stärken. Dieses Hohe Haus hat in Würdigung dieser Tatsachen und angesichts eines neuen beunruhigenden Antisemitismus im letzten Jahr eine Entschließung unter der Überschrift „Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken“ gefasst. Im November letzten Jahres trat der Zentralrat der Juden in Deutschland an die Bundesregierung mit dem Wunsch nach einem Vertrag auf Bundesebene heran, wie ihn die jüdischen Landesverbände in den meisten Ländern längst haben. Er verwies insbesondere auf die angewachsenen Aufgaben angesichts der zugewanderten Juden. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich in seinem langjährigen Bestehen große Verdienste um die demokratische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland erworben. ({1}) Er hat den Aufbau der Demokratie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv mitgestaltet und mit konstruktiver Kritik begleitet. Die Bundesregierung schätzt, wie es auch in der genannten Entschließung des Bundestages zum Ausdruck kommt, den jüdischen Beitrag zum kulturellen, geistigen und politischen Leben in Deutschland. Mit den Zuwanderern des letzten Jahrzehnts hat die jüdische Gemeinschaft die Möglichkeit, sich zu verjüngen und die Gemeinden neu aufzubauen. Sie muss diese Chance in diesen Jahren aber auch aktiv nutzen. Der Zentralrat der Juden hilft als Dachorganisation der meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland der wachsenden Zahl jüdischer Einwanderer, sich hier einzugewöhnen und sich zu orientieren. Angesichts der Verdreifachung der Zahl der Mitglieder, die der Zentralrat zu betreuen hat, ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass seine Aufgaben stark angewachsen sind. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung die in Jahrzehnten gewachsenen guten Beziehungen zum Zentralrat der Juden in Deutschland erstmalig auf eine vertragliche Grundlage gestellt. Mit dem Vertrag soll ein substanzieller Beitrag dazu geleistet werden, dass die jüdische Dachorganisation ihren Aufgaben auch in Zukunft nachkommen und damit die jüdische Gemeinschaft in Deutschland stärken kann. In der Präambel wird der Vertragsschluss auch mit der besonderen historischen Verantwortung begründet. Der Vertrag schreibt eine kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland fest. Der Zentralrat hat sich bereits bisher als verlässlicher Partner der Bundesregierung in vielen gesellschaftspolitischen Fragen erwiesen. Der Zentralrat wird zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft, für seine integrationspolitischen und sozialen Aufgaben sowie für die gestiegenen Kosten seines Büros eine Staatsleistung in Höhe von 3 Millionen Euro jährlich erhalten. Die Bundesregierung geht dabei davon aus, dass insbesondere die integrations- und sozialpolitischen Leistungen allen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, gleich welcher jüdischen Richtung, zugute kommen. Der Zentralrat hat im Vertrag zum Ausdruck gebracht, dass er für alle jüdischen Richtungen offen ist. Die Bundesregierung erklärt in dem Vertrag ihre Absicht, auch weiterhin die Hochschule für Jüdische Studien und das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland zu unterstützen. Beide Einrichtungen werden vom Zentralrat der Juden in Deutschland getragen. Unberührt von diesem Vertrag bleiben andere Leistungen an die jüdische Gemeinschaft, so zum Beispiel die staatliche Unterstützung aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern aus dem Jahre 1957 über die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe. Das Gesetz zum Vertrag dient dazu, die vertraglichen Vereinbarungen zügig umzusetzen und insbesondere die Voraussetzungen für die Gewährung der dort festgeschriebenen Staatsleistungen zu schaffen. Ich bitte um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Epoche der Juden in Deutschland ist zum Glück doch nicht, wie Leo Baeck 1945 konstatiert hatte, „ein für allemal vorbei“. Inzwischen haben die jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder etwa 100 000 Mitglieder, nicht zuletzt - wie gerade erwähnt - durch die Zuwanderung von Juden aus Russland nach Deutschland im Zeitraum nach der Wiedervereinigung. Jüdisches Leben in Deutschland hat sich wieder etabliert. Es gibt jüdische Schulen und Kindergärten. Man hat Altersheime gebaut und Synagogen errichtet. Dennoch bleibt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland von der Vergangenheit gezeichnet. 1933 lebten allein in Berlin 170 000 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Heute sind es nur etwa 12 000. Wir freuen uns darüber, dass in den vergangenen Jahrzehnten wieder viele jüdische Gemeinden in Deutschland entstanden sind und ein reges Gemeindeleben pflegen. Darin sehen wir ein Zeichen der Hoffnung und einen Ausdruck des Vertrauens in die Bundesrepublik Deutschland und in unsere gefestigte Demokratie. Das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden ist eine Bereicherung für unser Land. Damit wird an eine jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens in Toleranz und gegenseitigem Vertrauen und Respekt angeknüpft. Mit Freude stellen wir fest, dass Mitbürger jüdischen Glaubens in Deutschland ihre Heimat auf Dauer sehen und dass andere, die zu uns gekommen sind, bei uns eine neue Heimat finden. ({0}) Wer weiß, wie stark, wie nachhaltig jüdische Mitbürger die Entwicklung in Wissenschaft und Wirtschaft, Politik und Kultur, Medizin oder Jurisprudenz beeinflusst und gefördert haben, wird alles tun, damit diese Kultur ihren Reichtum wieder entfalten kann. Die außerWolfgang Bosbach ordentliche Entwicklung der Philosophie, der Wissenschaften insgesamt, der Wirtschaft und der Kultur wäre in Deutschland ohne die Beiträge der jüdischen Bürger unseres Landes nicht möglich gewesen. ({1}) Beispielhaft möchte ich die Namen Martin Buber, Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Theodor Lessing oder Walther Rathenau nennen. Ist es nun etwas ganz Besonders oder ist es etwas ganz Selbstverständliches, sozusagen ein Zeichen von Normalität, dass wir heute die Ratifizierung eines Staatsvertrages mit dem Zentralrat der Juden debattieren? Mit den großen christlichen Kirchen hat der Staat seit langem sein Verhältnis durch Staatskirchenverträge oder durch Konkordate auf eine dauerhafte Grundlage gestellt. Insoweit ist es ein Stück Normalität. Aber wir halten immer noch inne und wir hüten uns zu Recht, vorschnell von Normalität zu sprechen, wenn es um jüdisches Leben in Deutschland geht. Sicher: Die Entwicklung der jüdischen Gemeinden ist, was die Mitgliederzahlen und das rege Gemeindeleben angeht, höchst erfreulich. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist der Staatsvertrag ein Zeichen der Ermutigung. Dennoch spürt man überall, wo heute jüdisches Leben in Deutschland wieder erblüht, dass die Schrecken der Nazibarbarei nur etwas mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen und wir sie nicht vergessen und nicht verdrängen dürfen. ({2}) Wie gerne würden wir alle, die Sprecherinnen und Sprecher aller Fraktionen, unbefangen über jüdisches Leben in Deutschland reden: über die Emanzipation und die Anerkennung des jüdischen Beitrages zur Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft unseres Landes. Doch wir alle wissen, dass dies angesichts der Schrecken der Naziverbrechen - Staatssekretär Körper hat zutreffend darauf hingewiesen - leider nicht ohne weiteres geht. Aber wir dürfen uns von dieser dunklen Vergangenheit nicht die gemeinsame Zukunft rauben lassen. Wer ärgert sich nicht, wenn er durch das neue Berlin geht und die vielen jüdischen Einrichtungen zuerst an den schützend davor stehenden Polizisten und gepanzerten Fahrzeugen erkennt! Natürlich wissen wir, dass es leider notwendig ist, diese Schutzmaßnahmen zu ergreifen, und es Aufgabe der Polizei ist, dort Präsenz zu zeigen, um Unheil zu verhindern. Dennoch ist und bleibt es ein Skandal - damit dürfen wir uns nicht abfinden -, dass sich diese Gesellschaft von einigen wenigen Politkriminellen aufzwingen lassen muss, dass selbst das ganz alltägliche Leben in unseren jüdischen Gemeinden nur unter Polizeischutz möglich ist. ({3}) Es ist ein fortwährender Skandal, dass selbst jüdische Kindergärten von der Polizei geschützt werden müssen. Genauso unerträglich ist und bleibt es, dass führende Repräsentanten des jüdischen Lebens in Deutschland wie beispielsweise Paul Spiegel oder Michel Friedman nur unter Polizeischutz leben können. Wenn das nicht mehr notwendig ist, dann sind wir in Deutschland auf dem richtigen Weg. ({4}) Dass der Vertrag am Tag des Gedenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur geschlossen wurde, ist Mahnung und Verpflichtung zugleich. In diesem Sinne ist der Staatsvertrag auch Ausdruck dafür, dass der Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus in jeder Form zu den Grundbedingungen des Zusammenlebens der Menschen in unserem Land gehören muss. Der Staatsvertrag ist nicht wie bei den Debatten über unseren Antrag „Jüdisches Leben in Deutschland“ in der vergangenen Wahlperiode Anlass, die Solidarität und den Schutz darzustellen. Er ist vielmehr Anlass, die positiven Entwicklungen nicht zuletzt seit der Wiedervereinigung in den Vordergrund zu stellen. Mit diesem Staatsvertrag wird ein neues Kapitel des jüdischen Lebens in Deutschland aufgeschlagen. Er ist ein Zeichen der Ermutigung, auf rechtsverbindlicher Grundlage den Weg der Versöhnung und der gemeinsamen Teilhabe an der Entwicklung unseres Landes weiterzugehen. Er ist zugleich ein Beleg für das wachsende Vertrauen der Juden in unsere freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie. Die nach Maßgabe dieses Vertrages gewährte Förderung ist keine staatliche Subvention im klassischen Sinne für den Zentralrat der Juden, keine Subventionierung der jüdischen Gemeinden. Sie ist eine Investition in eine bessere Integration derjenigen, die zu uns kommen, in die vielfachen sozialen Aufgaben und Verpflichtungen der jüdischen Gemeinden und nicht zuletzt in die Pflege und Erhaltung des deutsch-jüdischen Kulturerbes. Diese Investitionen liegen nicht allein im Interesse des Zentralrates der Juden in Deutschland oder der jüdischen Gemeinden, sondern in unserem gesamtstaatlichen Interesse. Wir appellieren zugleich an die Bundesregierung - ich bin dankbar, dass dies im ersten Redebeitrag angesprochen wurde -, über die Einigung mit dem Zentralrat nicht die anderen jüdischen Gruppen in Deutschland zu übersehen oder zu vernachlässigen. Mit der erfreulichen Entwicklung der Gemeinden wird auch ein Teil der Vielfalt des jüdischen Lebens, die es schon einmal bei uns gab und die es in anderen Ländern, zum Beispiel in den USA und in Israel, gibt, ganz selbstverständlich auch in Deutschland wieder einkehren. Unzweifelhaft ist aber, dass gerade der Zentralrat bei der Integration der Neuankömmlinge eine nicht nur wichtige, sondern auch entscheidende Rolle spielt. Insoweit können dieser Staatsvertrag und dessen Umsetzung einen wichtigen Beitrag für eine gelingende Integration leisten. Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens weiter ausbauen, indem wir das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens ganz selbstverständlich gestalten. Wir wollen eine Kultur, in der jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger nie mehr infrage stellen müssen, ob es richtig ist, in Deutschland zu leben. Es muss selbstverständlich sein, dass sie hier leben können und auch auf Dauer hier leben wollen, ({5}) weil ein Miteinander im gegenseitigen Respekt und Vertrauen zueinander selbstverständlich ist und weil Deutschland ihre Heimat ist. Danke für Ihr Zuhören. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, unterzeichneten der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, und Bundeskanzler Gerhard Schröder den Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Spiegel und den Mitgliedern des Zentralrates der Juden, die diese Vertragsunterzeichnung ermöglicht haben. Die Erinnerung an die Schrecken nationalsozialistischer Gewaltherrschaft bleibt präsent. In einer Zeit, die nach wie vor weit entfernt ist von Normalität, ist der deutschen Demokratie das Vertrauen ausgesprochen worden. Kontinuierliche und partnerschaftliche Zusammenarbeit wurde im Staatsvertrag vereinbart. Der 27. Januar ist nicht nur ein historischer Tag. Ich denke, die Unterzeichnung des Staatsvertrages war und ist ein historisches Ereignis. ({0}) Die Bundesregierung verpflichtet sich zur Erhaltung und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes und zum Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft. Es wurde bereits gesagt: Mittlerweile leben wieder 100 000 Juden in Deutschland. Die deutsch-jüdische Gemeinde ist die drittgrößte in Europa. Mit diesem Staatsvertrag bekundet Deutschland das Interesse an weiter wachsenden jüdischen Gemeinden. Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages hat die rot-grüne Bundesregierung erneut ein Zeichen für mehr Toleranz und gegen Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft gesetzt. ({1}) Mein Dank gilt an dieser Stelle auch Bundeskanzler Schröder und Innenminister Schily. Nicht nur gewürdigt, sondern verlässlich finanziell unterstützt werden die zahlreichen integrativen und sozialen Aufgaben, die die jüdischen Gemeinden seit vielen Jahren in Deutschland wahrnehmen und die, auch mit den Mitteln des Staatsvertrages, weiterhin der engagierten ehrenamtlichen Unterstützung bedürfen. Ich möchte hier insbesondere die Integration der neuen Mitglieder der Gemeinden aus den osteuropäischen Staaten erwähnen. Wir alle wissen aus den Städten und Gemeinden, wie schwierig es ist, den Weg der sozialen Integration und auch der Integration in den Arbeitsmarkt zu schaffen, wenn man mit einer fremden Sprache nach Deutschland kommt. Ohne die Arbeit der jüdischen Gemeinden würden wir diese Integration in Deutschland nicht bewältigen können. Der Staatsvertrag hat ein Zeichen des gegenseitigen Vertrauens gesetzt. Ich verbinde mit diesem Vertrag auch Hoffnungen. Es bleibt für mich unerträglich - auch Herr Bosbach hat dies angesprochen -, dass jüdische Einrichtungen in Deutschland polizeilich geschützt werden müssen. Es ist für mich ein unerträgliches Bild, wenn jüdische Kindergärten mit Sicherheitszäunen umgeben sind und wenn wir die spielenden Kinder auf den Spielplätzen mit Videokameras überwachen müssen. Diese Bilder, die Realität in Deutschland sind, zeigen, dass wir weit entfernt sind von Normalität. ({2}) Auch heute, 58 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, kann die Frage, ob Juden in Deutschland sicher sind, nicht mit einem Ja beantwortet werden. Dies macht mich traurig und wütend und ist Aufforderung an uns alle, für eine tolerante demokratische Kultur in unserer Gesellschaft zu kämpfen. Wir alle wissen: Mit Bekenntnissen allein verändern wir die Einstellungen in unserer Gesellschaft nicht. Es gilt jetzt, die Botschaft des Vertrages weiter zu vermitteln. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass dies ein Punkt ist, bei dem auch an den Reden deutlich wird: Wir sind hier im Hause einer Meinung. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es hat schon lange keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung mehr gegeben, dem wir Liberalen mit so großer Freude zustimmen konnten wie diesem. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass dieser Staatsvertrag einen ganz wichtigen Baustein der weiteren Integration jüdischen Lebens in Deutschland bildet. Hans-Joachim Otto ({0}) Er ist ein Vertrauensbeweis der in Deutschland lebenden Juden in die Stabilität unserer Gesellschaft und unserer Demokratie. Wir sollten diesen Schritt nicht gering schätzen, sondern dem Zentralrat der Juden für diesen Schritt unseren Dank aussprechen, weil wir damit eine große Integrationsleistung auf den Weg bringen können. ({1}) Im Hinblick auf manche Kritik möchte ich darauf hinweisen, dass es nicht nur um die Förderung jüdischen Lebens in Deutschland geht. Dieser Staatsvertrag bedeutet eine Förderung kulturellen Lebens in Deutschland insgesamt. Seien wir offen und ehrlich: Deutschland hat den Aderlass jüdischer Künstler und Intellektueller während der Nazidiktatur bis zum heutigen Tag nicht voll bewältigt. Ich setze die Hoffnung darauf - ich bin sehr zuversichtlich -, dass dieser entscheidende Beitrag jüdischen kulturellen Lebens in Deutschland und für Deutschland durch diesen Staatsvertrag zusätzlich belebt wird. Davon profitieren wir alle, gleichgültig welchen Glaubens wir sind. ({2}) Angesichts dieser Integrationsleistung möchte ich zunächst einmal den amtierenden Mitgliedern des Zentralrates der Juden in Deutschland danken. Ich möchte meine Rede aber nicht abschließen, ohne daran zu erinnern, dass der jetzt so erfolgreich und mit Unterstützung aller Fraktionen beschrittene Weg durch den unvergessenen Ignatz Bubis eingeschlagen und sehr maßgeblich beeinflusst wurde. Er war einer der Ersten, der, als Vorsitzender des Zentralrates der Juden, das Hinein nach Deutschland, das Vertrauen und die Heimatfindung der Juden in Deutschland maßgeblich gefördert hat. ({3}) Ich danke den amtierenden Mitgliedern des Zentralrates der Juden und möchte an dieser Stelle noch einmal an Ignatz Bubis erinnern. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Sebastian Edathy, SPD-Fraktion.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte hat sehr deutlich unterstrichen, dass die Demokratie in Deutschland ein starkes Fundament hat, weil es bei allem Streit einen Konsens in zentralen Grundfragen gibt. Es gibt unter anderem einen Konsens darüber, dass die Förderung des Wiederaufbaus jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Ende der NS-Zeit ein gemeinsames Anliegen aller gesellschaftlichen Kräfte unseres Landes sein muss. ({0}) Wenn wir heute feststellen können, dass 100 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland eine Heimat haben, dann freut uns das nicht nur, sondern dann muss uns das mit Dankbarkeit dafür erfüllen, dass diese Menschen in eine deutsche Demokratie so viel Vertrauen setzen, dass sie sich hier wieder heimisch fühlen können. Man sagt bisweilen, die jüdischen Bürgerinnen und Bürger gehörten zu unserer Gesellschaft „dazu“. Viele, die das so formulieren, sagen das in guter Absicht und mit respektabler Gesinnung. Herr Kollege Bosbach hat darauf hingewiesen, dass zu Beginn der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland 500 000 Deutsche jüdischen Glaubens lebten. Heute sind es ein Fünftel, nämlich 100 000 Menschen. In der Weimarer Republik gehörten neun Reichstagsabgeordnete der jüdischen Glaubensgemeinschaft an. Der 15. Deutsche Bundestag hat kein einziges Mitglied jüdischen Glaubens. ({1}) - Dann will ich mich gerne korrigieren. Bis zur Zeit des Nationalsozialismus war es - bei allen Brüchen in der deutschen Geschichte - so, dass jüdische Deutsche gesellschaftlich eben nicht nur dazugehörten, sondern ein Element der deutschen Gesellschaft waren. Sie waren ein Teil, ohne den das Ganze nicht denkbar war. Deshalb war die Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus nicht zuletzt ein Akt deutscher Selbstzerstörung. Gerade aus diesem Grund ist es eine ureigene Aufgabe unseres Landes, dafür Sorge zu tragen, dass jüdische Kultur und jüdisches Leben in Deutschland gute Bedingungen für ihre weitere Entwicklung finden können. ({2}) Erstmals gibt es mit dem von Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland unterzeichneten Staatsvertrag eine rechtlich verbindliche Grundlage für die Zusammenarbeit. Mit erheblich mehr Mitteln als bisher werden die Arbeit des Zentralrates für Erhalt und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes gefördert und der Aufbau der jüdischen Gemeinden unterstützt. Außerdem wird die integrationspolitische und soziale Arbeit des Zentralrates, vor allem was die Aufnahme und die Begleitung von Neubürgern jüdischen Glaubens insbesondere aus Osteuropa betrifft, finanziell besser abgesichert als bisher. Weil die Arbeit, die die jüdische Gemeinschaft erbringt, eine gemeinsame Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft ist, ist dieser Staatsvertrag richtig, vernünftig und gut. Aber die Wahrnehmung dieser Mitverantwortung für die weitere Entwicklung jüdischen Lebens in Deutschland ist, wenn der Staatsvertrag vom Deutschen Bundestag - wie ich glaube, einmütig - bestätigt werden wird, noch längst nicht erledigt. Im November letzten Jahres wurde eine repräsentative Studie des Instituts Infratest vorgelegt. Es ist in Deutschland unter anderem gefragt worden, was die Befragten empfinden würden, wenn sie wüssten, dass der Nachbar Jude ist. 17 Prozent der Befragten sagten: Juden möchte ich als Nachbarn lieber nicht haben. Ferner wurde in dieser Umfrage gefragt, ob Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten. 20 Prozent sagten, ja, sie hätten zu viel Einfluss. Gar 27 Prozent vertraten die Auffassung, ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland sei zu hoch. Es gibt aber auch ein ermutigendes Ergebnis dieser Untersuchung. Auf die Frage, ob Antisemitismus in Deutschland ein Problem sei, sagten 60 Prozent der Befragten, ja, sie würden darin ein Problem sehen. Diese Menschen haben Recht. Es gibt ein solches Problem. Wir werden uns diesem Problem in Deutschland zu stellen haben, in diesem Jahr wie auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Es bleibt eine gemeinsame Aufgabe für alle demokratischen Kräfte, die Mehrheit für dieses Nein zum Antisemitismus zu vergrößern, jedem Ansatz von Antisemitismus entgegenzutreten und ihm die Basis zu entziehen. Dazu gehört, dass wir an allen Orten und jederzeit folgenden Grundsatz unterstreichen und für ihn einstehen müssen: Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens gehören nicht nur zu unserer Gesellschaft dazu, sondern sie sind Teil unserer Gesellschaft. ({3}) Und diejenigen, die deutsche Juden zu diffamieren oder an den Rand zu drängen versuchen, grenzen nicht die Juden in Deutschland aus, sondern sich selbst. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen: Ich freue mich, dass wir im Bundestag mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Initiative zu beraten haben, die gut und richtig ist und die, wie wir heute gemerkt haben, die Unterstützung aller Fraktionen finden wird. Ich bin zugleich stolz darauf, dass es eine SPD-geführte Regierung ist, die 58 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus diese wichtige Initiative auf den Weg gebracht hat. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/879 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({0}), Dirk Fischer ({1}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Vorrang für die Ostseesicherheit - Drucksache 15/465 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Für die Aussprache war eine halbe Stunde vorgese- hen. Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Christine Lucyga, Dr. Maria Flachsbarth, Rainder Steenblock, Hans-Michael Goldmann und der Parlamen- tarischen Staatssekretärin Angelika Mertens sind zu Pro- tokoll gegeben worden.1) Deswegen kommen wir gleich zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/465 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung ({3}) - Drucksache 15/908 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Auch hierfür war eine Redezeit von einer halben Stunde vorgesehen. Die Parlamentarische Staatssekretä- rin Christel Riemann-Hanewinckel, die Kollegen Andreas Weigel, Thomas Dörflinger und Winfried Nachtwei und die Kollegin Ina Lenke haben ihre Reden allerdings zu Protokoll gegeben.2) Damit kommen wir zur Abstimmung. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/908 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer ({6}), Eduard Oswald, Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Transrapid-Projekt Berlin-Hamburg unverzüglich wieder aufnehmen - Drucksachen 15/300, 15/489 Berichterstattung: Abgeordneter Reinhard Weis ({7}) 1) Anlage 2 2) Anlage 3 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion.

Hans Günter Bruckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003058, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir durchaus vorstellen können, dass die beiden größten Städte der Bundesrepublik mit dem Transrapid verbunden werden. Wir alle wissen aber, dass dies in den nächsten Jahrzehnten nicht der Fall sein wird; denn am 5. Februar des Jahres 2000 ist die Entscheidung zur Einstellung der Planung gefallen, weil der vorgesehene Betreiber, die Deutsche Bahn AG, aus dem Projekt ausgestiegen ist. Daraufhin hat die Bundesregierung richtig gehandelt und die Mittel für den Ausbau der vorhandenen Schienenstrecke beschlossen. ({0}) Tatsache ist, dass der Ausbau der Schienenstrecke Berlin-Hamburg für eine Höchstgeschwindigkeit von 230 Kilometer in der Stunde planmäßig vorangeht. ({1}) Nur eines bringt den Ablauf ein klein wenig durcheinander: Das ist das Adlerpärchen, das im Bereich der Bahnstrecke brütet; Sie haben es sicherlich der Presse entnommen. Das hat die Wirkung, dass sich dieses Projekt um drei Monate verzögern wird. Ich gehe davon aus, dass nicht nur wir, sondern auch Sie sehr natur- und umweltfreundlich sind, sodass wir alle dies gerne akzeptieren. ({2}) - Wie ich gerade höre, haben Sie dafür natürlich Verständnis. - Die Strecke wird deshalb erst Mitte 2005 in Betrieb genommen werden. In zwei Jahren wird man also in knapp 90 Minuten von Hamburg nach Berlin fahren können. Lieber Kollege Fischer, vor diesem Hintergrund ist es natürlich abwegig, eine Wiederaufnahme der Planungen für eine Transrapidstrecke mit dieser Relation zu fordern. Die meisten von uns sind nach wie vor dafür, die Transrapidtechnologie in unserem Land anzuwenden. Seit zig Jahren passiert in dieser Frage das eine oder andere. Dabei sind wir uns in diesem Hause im Wesentlichen eigentlich einig. Ich zitiere die Kollegin Renate Blank. Sie hat im Januar dieses Jahres gesagt: Der Transrapid ist ein Projekt mit Signalwirkung für unser Land. Diese Technologie steht für die Innovations- und Erneuerungsfähigkeit unseres Landes und ist zugleich ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Danach empfahl sie Rot-Grün: Rot-Grün sollte danach handeln und nicht nur die Parteischiene fahren. Kollegin Renate, das kann man nur unterschreiben. Der Witz an dieser Aussage meiner Kollegin liegt natürlich darin, dass nicht alle in der Opposition zu den gleichen Ergebnissen gekommen sind. Wir von der Regierungskoalition stehen sowohl der Anwendung der Transrapidtechnologie in NRW als auch in Bayern eindeutig offen gegenüber. ({3}) Für beide Länderprojekte werden die Mittel als Zuschüsse zur Verfügung gestellt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Ich würde mich freuen, wenn beide Projekte als Public-Private-Partnership-Projekte umgesetzt werden würden; denn dann käme eine in Deutschland erfundene Zukunftstechnologie, für die der Erfinder Hermann Kemper schon 1934 das Reichspatent erhielt, auch bei uns zum Einsatz. Es wäre schön, wenn die Opposition an dieser Stelle die Worte der Kollegin Blank ernst nehmen würde und die übliche Parteitaktik zurückstellen könnte. ({4}) Beide Projekte sollen gleichermaßen fair behandelt werden, und zwar nicht nur in diesem Parlament, sondern auch in der konkreten Auseinandersetzung vor Ort. Hier sehe ich jedoch noch erhebliche Defizite. Viele der Argumente, die beispielsweise gegen das Metrorapidprojekt in NRW vorgebracht werden, sind schlicht falsch oder gehen an der Sache vorbei. Ein Argument, das gerne verbreitet wird, lautet: Der Transrapid ist wegen seiner hohen Geschwindigkeit für kurze Strecken gar nicht gedacht und geeignet. Dazu ist zu sagen, dass diese Technologie aufgrund der speziellen Antriebstechnik und damit in der Erreichung der jeweils gewünschten Endgeschwindigkeit immerhin jedem konventionellen Schienenfahrzeug überlegen ist. ({5}) Diese Fähigkeit und auch das bessere Steigvermögen sind ein Grund dafür, weshalb die Transrapidtechnologie auf der Neubaustrecke Frankfurt-Köln erste Wahl gewesen wäre. Sie hätte nicht eine Vielzahl von teuren Tunneln und Brücken benötigt. Die Tatsache, dass ein Fahrzeug hervorragend für hohe Geschwindigkeiten geeignet ist, muss aber nicht ausschließen, dass es auch für kürzere Distanzen einsetzbar ist. Der Transrapid ist beides. Als Metrorapid erreicht er aufgrund seiner hohen Beschleunigung und kurzen Bremswege eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 130 km/h, und zwar im öffentlichen Personennahverkehr. Damit liegt er nur unwesentlich unter der eines Intercityexpress, der auf der Strecke von Essen nach Berlin als Nahverkehrsmittel im Schnitt rund 150 Kilometer pro Stunde erreicht. Das Gerede von der Bimmelbahn ist daher purer Unsinn. ({6}) Ein weiteres Pseudoargument lautet: Der Metrorapid passt nicht in die Verkehrslandschaft; denn die Vernetzung mit dem restlichen öffentlichen Personennahverkehr wird nicht funktionieren. Auch dieses Argument wird durch stetige Wiederholung nicht richtiger. Der Metrorapid unterscheidet sich lediglich durch seine Antriebstechnik und seine eigene Trasse. Manche würden sich wünschen, so etwas auch haben zu können. Der entscheidende Punkt ist: Wir geben zur Förderung dieser Technologie Bundesmittel aus. In diesem Zusammenhang möchte ich gerne meinen Kollegen Weis zitieren: Von Beginn an war klar, dass eine Magnetbahnstrecke in Deutschland kein reines Verkehrsprojekt ist. Vielmehr ging und geht es auch heute noch um die Technologiepolitik. Ich kann nur sagen: Reinhard Weis, du hast absolut Recht behalten. Für die Rhein-Ruhr-Region zum Beispiel ist der Metrorapid nicht nur ein bloßes Nahverkehrsprojekt - ich greife das auf, was schon unsere Kollegin Blank gesagt hat -, sondern für uns ist es ein wesentliches Projekt, mit dem wir die Identität des Ruhrgebietes und des Landes Nordrhein-Westfalen mit einem Symbolcharakter stärken wollen. Man darf vom Strukturwandel nicht immer nur reden, sondern man muss ihn, wenn man die Chance dazu hat, auch umsetzen. Nur so kommt man weg von dem Bild von Kohle und Stahl zu einer Dienstleistungsund Wissensgesellschaft und zur Anwendung von Hochtechnologie. Mit den in den Debatten teilweise vorgetragenen Geisteshaltungen wäre es nie dazu gekommen, die RadSchiene-Technik vor mehr als 150 Jahren einzusetzen. Wenn jemand den Metrorapid oder Transrapid nicht betreiben will, weil er glaubt, sie passten nicht zu seinen bisherigen Systemen, dann sage ich dazu in aller Öffentlichkeit: Es wird sich herausstellen, ob im Rahmen der Netzöffnung und des Wettbewerbs nicht andere aufgeschlossenere Betreiber Interesse an diesen Projekten haben könnten. Ich bin mir sicher: Es werden sich eine Reihe von Betreibern dafür finden. Der Metrorapid ist wie der Transrapid nicht irgendein beliebiges Verkehrsprojekt, sondern eigentlich ein Quantensprung in der Verkehrstechnologie. In China hat man nach einer Vorlaufzeit von acht Jahren 24 Monate gebraucht, um das Projekt in Schanghai zu realisieren. 24 Monate sind eine gut genutzte Zeit. Die Chancen für diese Technologie in den USA und anderen Ländern der Welt werden dann besser, wenn wir eigene, unterschiedliche Referenzen in Form von Anwendungen auch in Deutschland vorweisen können. Die Projekte in Bayern und NRW werden dabei die Wirtschaft unterstützen, diese Technologie zu exportieren. Deshalb freue ich mich darüber, dass sich in diesem Hohen Hause interfraktionell diejenigen im Gesprächskreis Transrapid zusammengefunden haben, die diese Technologie nicht totreden wollen, sondern sie parlamentarisch unterstützen; denn in einem Punkt bin ich mir ganz sicher: Deutsche Innovationen müssen auch in Deutschland ihre Chance bekommen. Nur so können wir uns in den Reihen der Hochtechnologieländer beweisen. Das ist der richtige Weg. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Fischer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bruckmann, der Ausbau der Strecke Hamburg-Berlin geht zügig voran? 230 Kilometer pro Stunde auf einer Ausbaustrecke durch geschlossene Ortschaften? Bisher werden Ausbaustrecken in Deutschland mit maximal 200 Kilometer pro Stunde befahren. Als früher schon einmal der Antrag an das EBA herangetragen wurde, sagten dessen Vertreter, man könne sich überhaupt nicht vorstellen, dass dies genehmigt werden würde. Im Übrigen: Bleiben Sie bescheiden. Im „Stern“ vom 3. Februar 2000 wird eine Formulierung von Bahnchef Mehdorn in einem Interview wiedergegeben: ({0}) Dann brauchen wir das gar nicht, sondern wir fahren in anderthalb Jahren, also Mitte 2001, in 90 Minuten zwischen Hamburg und Berlin. Deswegen kann ich nur sagen: Lassen Sie sich nicht auf solche Sachen ein. Sie verlieren Ihre Glaubwürdigkeit und können noch nicht einmal etwas dafür. ({1}) Das ist also ganz traurig für Sie. Es ist abenteuerlich, wie verantwortungslos die rotgrüne Bundesregierung mit dem Transrapid im Fernverkehr zwischen Hamburg und Berlin umgegangen ist. Trotz aller Liebesschwüre von Bundeskanzler Schröder, der Transrapid sei eine „vorzügliche Lösung der Mobilitätsprobleme“ - so in der Neujahrsansprache 2003 -, trotz des „Transrapidfans“ Stolpe, der sich als solcher im NDR-Inforadio Anfang des Jahres geoutet hat und im „Focus“ vom 30. Dezember 2002 mit den Worten zitiert wird, Hamburg-Berlin sei seine Traumstrecke, passiert in Wahrheit gar nichts. Ihre Haltung zu dieser Zukunftstechnologie hat sich in all den Jahren, seitdem eine CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung am 2. März 1994 die Bauentscheidung für Hamburg-Berlin getroffen hat, nicht geändert. ({2}) Dirk Fischer ({3}) Nur sind Sie nicht mehr so ehrlich wie damals, als beispielsweise die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, am 15. Februar 1997 in der „Sächsischen Zeitung“ sagte, ({4}) der Transrapid führe „verkehrspolitisch ins Abseits, finanziell in den Sumpf und industriepolitisch nicht zum Ziel“. Heute wird zwar anders gesprochen, aber es wird unverändert genauso gedacht. ({5}) Rühmliche Ausnahme bleibt nur der ehemalige Hamburger SPD-Bürgermeister Henning Voscherau, der bereits am 9. Juli 2001 im „Hamburger Abendblatt“ resigniert feststellte: Ich musste nachträglich zusehen, wie das fast fertig durchgeplante Projekt kurzsichtig vernichtet wurde ohne gleichzeitige Kompensation durch die dann selbstverständlich notwendige ICE-Neubaustrecke. Sie kommt jetzt allerdings auch nicht. Die DB AG und die rot-grüne Bundesregierung haben die Transrapidpläne für Hamburg-Berlin am 5. Februar 2000 böswillig zerstört und dadurch Infrastrukturentscheidungen, die der Deutsche Bundestag getroffen hat, in Wahrheit später zunichte gemacht. Die DB AG wäre eigentlich für die Realisierung der Strecke zwischen den beiden größten deutschen Städten nicht unersetzlich gewesen. Bahnchef Mehdorn hätte unter keinen Umständen erlaubt werden dürfen, die Bindungswirkung des Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes zu konterkarieren; denn er hat - zitiert nach der „Wirtschaftswoche“ - am 26. Juli 2001 wörtlich gesagt: Den Leuten, die das Transrapidsystem zum Fernverkehrssystem in Deutschland erklären wollen, ist leider der Größenwahn unter die Hirnschale gefahren. So ist Mehdorns Einstellung zu dieser Technologie. ({6}) Auch den Fahrweg hätte jedes andere Industrieunternehmen bauen können, vielleicht sogar ohne die Verzögerungen und dramatischen Mehrkosten, an die wir uns - ich erinnere an den Lehrter Bahnhof, die Neubaustrecke Frankfurt-Köln und die Neubaustrecke Nürnberg-Ingolstadt-München - mittlerweile schon viel zu sehr gewöhnt haben. Die beabsichtigte Übertragung der Betriebsführung auf die DB AG hätte zwar Parallelverkehre vermieden, den Fernverkehr so auf den Transrapid gebündelt und eine unternehmensinterne Verknüpfung - Vermarktung, Fahrplan, Fahrpreise, Gepäck - ermöglicht. Allerdings wollte die DB AG niemals wirklich eine Alternative zum traditionellen Rad-Schiene-System zulassen. Mehdorn sagte am 26. Januar 2000 vor dem Verkehrsausschuss wörtlich: „Ich will diese Technologie in meinem System nicht haben.“ Dann ist er für die Anwendung dieser Technologie eigentlich auch nicht der richtige Partner. ({7}) Meine Damen und Herren, Rot-Grün hat den Transrapid gegenüber der herkömmlichen Rad-Schiene-Technik niemals fair und ordnungspolitisch gleich behandelt. Folgende Äußerung der damaligen SPD-Abgeordneten und heutigen Parlamentarischen Staatssekretärin Mertens ({8}) ist für Ihre total unaufrichtige Politik in dieser Sache bezeichnend: ({9}) Das milliardenschwere Prestigeobjekt Transrapid hatte einen gravierenden Schönheitsfehler: Es basierte nicht auf seriösen Wirtschaftlichkeitsberechnungen, sondern auf dem Prinzip Wunsch und Wolken. Dies sagte sie am 18. Februar 2000 im Deutschen Bundestag. ({10}) Sie wissen, Herr Schmidt, dass beim Rad-Schiene-System die Infrastruktur aus dem Haushalt bezahlt wird. Die Refinanzierung des Fahrwegs oder gar steuerliche Abschreibungen werden nicht in die Wirtschaftlichkeitsberechnungen einbezogen. Beim Transrapid Hamburg-Berlin sollten die Kosten für den Fahrweg vom Betreiber durch das Nutzungsentgelt auch noch peu à peu zurückverdient werden. Natürlich hat dies für die Ertragserwartung eines Betreibers äußerst negative Konsequenzen. Dass er dann lieber einen Schienenweg geschenkt nimmt, als dass er die Kosten für einen Transrapidfahrweg zurückverdienen muss, ist aus seiner egoistischen unternehmerischen Position heraus verständlich. Das Verhalten des Staates jedoch ist ordnungspolitisch absolut skandalös, benachteiligend, unfair und unverständlich. Deswegen darf dieses Verhalten nicht fortgeführt werden. ({11}) Zudem werden die hohen Kostenüberschreitungen beim ICE-Streckenbau wie selbstverständlich akzeptiert. Ist es dann fair, beim Transrapid eine Abrechnung zum Schätzkostenpreis von 6,1 Milliarden DM ohne Inflationsausgleich zu verlangen? Jetzt betreiben Sie Nahverkehrskonzepte. Aber der Transrapid ist doch von Schmidt und Leber nicht in erster Linie als ein Vorortszug konzipiert worden. Als solcher lässt er sich auch einsetzen; aber das ist nicht sein Dirk Fischer ({12}) primäres Anwendungsziel gewesen. Nur auf einer Langstrecke - die Strecke Hamburg-Berlin beträgt 292 Kilometer - kann er das Geschwindigkeitspotenzial der Magnetschwebetechnik voll ausnutzen. Nur hier ist der Transrapid eine echte Alternative zum Flugzeug, zum ICE und zum Auto. Hamburg und Berlin sind dynamisch wachsende Ballungszentren, zwischen denen die Sinnhaftigkeit und Effizienz einer Transrapidverbindung am überzeugendsten nachgewiesen werden kann. Das Transrapidprojekt zwischen Hamburg und Berlin ist technisch und wirtschaftlich nach wie vor machbar, es ist durchgeplant und bewertet. Die Verbindung brächte eine enorme Entwicklungsdynamik in den norddeutschen Raum und in die Region Berlin-Brandenburg. ({13}) Deswegen, meine Damen und Herren, fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nachdrücklich die Wiederaufnahme dieses Projektes. Geben Sie endlich die richtige Antwort auf die globalen Herausforderungen des Massenverkehrs im 21. Jahrhundert! ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte um den Transrapid Hamburg-Berlin ist eine mumifizierte Debatte. ({0}) Sie haben heute nicht einen einzigen Satz gesagt, von dem ich Ihnen nicht schon vorher hätte sagen können, dass er kommt. Ich kenne die Sätze inzwischen auswendig. Ich sehe gar nicht ein, warum so viele so hoch bezahlte Leute, wie sie hier sitzen, den Rest des Abends verschwenden sollen, bloß weil sich der Kollege Fischer nicht von seiner transrapidalen Fixierung lösen kann. ({1}) Ich verzichte daher auf den Rest meiner Redezeit, denn ich könnte auch nichts Neues dazu sagen. Alles ist hundertmal gesagt worden und es ist richtig entschieden worden. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen Abend. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion. ({0})

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Kollege Weis, Sie werden kaum erleben, dass ich mich hierher stelle und nicht weiß, was ich sagen soll. Ich mache es mir nicht ganz so einfach wie der Kollege Schmidt, der sagt, alles sei schon gesagt und deshalb solle man zum Tagesgeschäft übergehen. Zu diesem Thema ist leider noch nicht alles gesagt und es ist tatsächlich so, dass in weiten Bereichen mit falschen Zahlen und Argumenten immer wieder Gegenteiliges behauptet wird. Ich erinnere an die Anhörung zum Transrapid, die wir vor der Planung der Strecke Hamburg-Berlin gehabt haben. Uns wurden von Rot-Grün - damals in der Opposition - Berechnungen von der Deutschen Bahn und anderen vorgestellt, die lauteten: Für 1 Milliarde DM sei auf der Strecke von Hamburg nach Berlin eine ICE-Qualität zu schaffen, mit der die Fahrtzeit zwischen diesen beiden Zentren 90 Minuten betrage. Deswegen sei der Transrapid überflüssig. Die Realität sieht so aus: Bis jetzt sind 1,935 Milliarden Euro in die ICE-Strecke Hamburg-Berlin geflossen, mit der Konsequenz, dass der Zug nach wie vor 160 Stundenkilometer fährt. Laut aktueller Prognose müssen weitere 700 Millionen Euro investiert werden, um tatsächlich irgendwann 230 Stundenkilometer zu fahren. Wenn man das zusammenzählt, ist man bei ungefähr 2,7 Milliarden Euro, also umgerechnet etwa 5,4 Milliarden DM. Ich erinnere daran, dass es angeblich für 1 Milliarde DM zusätzlich funktionieren sollte. Das ist ungefähr die Größenordnung, um die die Bahn bei all ihren Fernstrecken gegenüber den Planzahlen im Negativen abweicht. Insofern wäre es zumindest reeller gewesen, diese Situation auch bezogen auf den Transrapid anständig zu erörtern. ({0}) Fakt ist allerdings auch, dass die Planung nach Fertigstellung von 19 der insgesamt 20 Planfeststellungsabschnitte gestoppt worden ist, dass das Magnetschwebebahngesetz aufgehoben wurde und alle Vorbedingungen weg sind. Ob nun tatsächlich im Jahre 2004 oder 2005 nach Fertigstellung der ICE-Strecke zusätzlich eine Transrapidstrecke verwirklicht werden kann, ist auch von unserer Seite mit einem Fragezeichen zu versehen. Umgekehrt - das ist das eigentlich Entscheidende -: Mit jeder weiteren Strecke, die über die beiden jetzt auf Wunsch der Regierungskoalition hinaus zu diskutierenden Strecken des Metrorapid und der Strecke vom Flughafen zum Hauptbahnhof München hinaus geht, gebe ich dieser famosen Mehrheit die Möglichkeit, sich vor der eigentlichen Entscheidung zu drücken, die Technik tatsächlich umzusetzen. Nicht weil wir gegen die Transrapidstrecke Hamburg-Berlin sind, sondern weil ich den Zeitpunkt für diesen Antrag für taktisch falsch halte, werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. Danke sehr.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, die Ablehnung unseres Antrags ist ein schwerwiegender Fehler. ({0}) - Doch, ein schwerwiegender Fehler, Herr Schmidt. Das ist ein schwerer Schlag gegen die Exportchancen deutscher Technik. ({1}) Die Argumente, die Sie vorgebracht haben, sind - wenn man genau hinschaut - nur Ausreden. Wenn Sie unserem Antrag zustimmen würden, würde die Strecke Berlin-Hamburg die Strecke sein, auf der man die Vorzüge dieser deutschen Technik vorführen könnte: Schnelligkeit und Umweltfreundlichkeit. Deswegen bin ich von Ihrer Einlassung sehr enttäuscht. Stattdessen halten Sie an dem verkehrspolitisch unsinnigen Metrorapid-Projekt im Ruhrgebiet fest. Dass Sie auf Ihre Redezeit verzichten, Herr Schmidt, bedauere ich deswegen besonders, weil ich gerne gehört hätte, wie Sie sich dazu einlassen. ({2}) - Natürlich ist das Gegenstand der Debatte. ({3}) Sie können die Strecke Hamburg-Berlin nur im Zusammenhang mit den anderen Strecken sehen. Denn nur weil Herr Mehdorn die Strecke Hamburg-Berlin auf Ihren Wunsch hin kaputtgemacht hat, sind Sie zu den Alternativstrecken übergegangen, die von vornherein schlechter geeignet waren als die ursprünglich geplante Strecke. Das ist die Wahrheit. Jetzt hoffen Sie darauf, dass das Vorhaben im Laufe der Zeit scheitert und Sie sich nicht dazu äußern müssen. Deswegen hätte ich es begrüßt, wenn Sie sich heute dazu geäußert hätten, Herr Schmidt. Der Bund soll das Metrorapid-Projekt im Ruhrgebiet mit insgesamt 2,3 Milliarden Euro fördern. ({4}) Davon sollen zunächst 1,75 Milliarden Euro fließen. Herr Stolpe hat weitere 0,25 Milliarden Euro zugesagt. ({5}) Hinzu kommen weitere 338 Millionen Euro nach dem Bundesschienenwegeausbaugesetz. Das macht zusammen mehr als 2,3 Milliarden Euro. Der Metrorapid wird aber seine Fahrgäste zu 75 Prozent dem bestehenden Rad-Schiene-System wegnehmen. Dabei handelt es sich nicht um Vernetzung, lieber Herr Kollege Bruckmann; vielmehr ist das, was in diesem Zusammenhang betrieben wird, Kannibalismus. Das heißt, der Metrorapid wird die anderen Strecken aussaugen. ({6}) - Herr Ströbele, Sie haben bei anderen Punkten genug Zeit, sich zu äußern. Hören Sie jetzt einmal den Experten zu! ({7}) Fernreisende aus dem Ruhrgebiet werden künftig gezwungen, in Dortmund oder Düsseldorf umzusteigen. ({8}) Der Metrorapid, den Sie statt auf der Strecke Hamburg-Berlin im Ruhrgebiet fahren lassen wollen, wird alle 13 Kilometer halten. Wie Sie damit der Welt die Vorzüge dieses modernen Systems zeigen wollen, bleibt Ihr Geheimnis. Der Bundesrechnungshof hat - das wird gerne verschwiegen; deswegen meiden Sie auch diese Debatte schon festgestellt, dass dieses Projekt nicht realisierungswürdig ist. Denn der Kosten-Nutzen-Quotient liegt weit unter 1. Bei einigen von Ihnen setzt zurzeit eine gewisse Nachdenklichkeit ein. Ich habe mit Interesse festgestellt, dass der Haushaltsausschuss nur 20 Millionen der 80 Millionen Euro, die Nordrhein-Westfalen gefordert hat, freigegeben hat; 60 Millionen Euro sind eingefroren worden. Nordrhein-Westfalen selbst verfügt nicht über die benötigten Mittel; es muss sich diesen Betrag leihen. Die Situation, in der sich Nordrhein-Westfalen befindet, ist uns ein bisschen aus Südamerika bekannt. ({9}) - Ich kann doch über mein Bundesland Nordrhein-Westfalen nicht gut reden, weil Sie dort bereits seit 1966 die Regierung stellen. Das kann doch nicht gut gehen! ({10}) Die Grünen hoffen, dass auf der Basis der freigegebenen 20 Millionen Euro nachgewiesen wird, dass sich das ganze Projekt nicht rechnet. Das Projekt wird nach Aussage von Experten einen jährlichen Zuschuss von 90 Millionen Euro erfordern. Deshalb wird auch aus der Public Private Partnership nichts. Denn niemand wird in das Projekt investieren, wenn er nichts davon hat. Insofern haben Sie Recht, Frau Mertens: Was zurzeit läuft, ist sozusagen Wunsch und Wolke. Deshalb darf ich Sie auffordern: Stimmen Sie unserem Antrag zu! ({11}) Sie können damit dazu beitragen, dass die Strecke Hamburg-Berlin mit unserer deutschen Technik zur Musterstrecke für die Welt wird. Alles andere ist zum Scheitern verurteilt. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 15/489 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „TransrapidProjekt Berlin-Hamburg unverzüglich wieder aufnehmen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/300 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Detergenzien KOM ({1}) 485 endg.; Ratsdok. 12319/02 - Drucksachen 15/173 Nr. 2.79, 15/736 Berichterstattung: Abgeordnete Heinz Schmitt ({2}) Marie-Luise Dött Dr. Antje Vogel-Sperl Birgit Homburger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen gewesen. Da aber die Kollegen Heinz Schmitt ({3}), Marie-Luise Dött, Eberhard Gienger, Dr. Antje Vogel-Sperl und Birgit Homburger ihre Reden zu Protokoll gegeben ha- ben, entfällt die Aussprache1). 1) Anlage 4 Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Detergenzien, Drucksache 15/736. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Dr. Norbert Röttgen, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Versorgungsausgleich umgehend regeln Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung - Drucksachen 15/354, 15/953 Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Irmingard Schewe-Gerigk Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Frau Granold, ich bitte um Nachsicht. Ich drängle mich nicht vor, sondern werde gedrängt. Das Bundesministerium der Justiz hat bereits in der ersten Beratung des Unionsantrags darauf hingewiesen: Das Recht des Versorgungsausgleichs gehört zu den schwierigsten Materien überhaupt. Dies scheint manche geradezu herauszufordern, ungerechtfertigte Ängste in der Öffentlichkeit zu schüren sowie die Bürgerinnen und Bürger im Land zu verunsichern. Ich kann im Interesse der betroffenen Ehegatten - um diese sollte es doch eigentlich gehen - nur appellieren, zu einer sachgerechten Diskussion zu finden. Die Bundesregierung hat dazu ihren Beitrag geleistet. Wir sind den Wünschen der gerichtlichen und der rechtsanwaltlichen Praxis gefolgt und haben die Barwert-Verordnung teilaktualisiert. Wenn der Bundesrat der Änderung dieser Verordnung am 23. Mai dieses Jahres zustimmen wird - nach der gestrigen Entscheidung im Rechtsausschuss des Bundesrates hoffe ich, dass er das tun wird -, wird diese noch in diesem Monat der Praxis zur Verfügung stehen, so wie es die Bundesministerin der Justiz am 13. Februar dieses Jahres an dieser Stelle angekündigt hat. Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Wir müssen über den Versorgungsausgleich vor dem Hintergrund der Alterssicherung der Frauen diskutieren. Auch die Verfasserinnen und Verfasser des Antrages machen sich hierüber Gedanken. Das ist verdienstvoll; denn die Bilanz ist in der Tat ernüchternd. Die durchschnittlichen Alterssicherungsleistungen, die Frauen heute aufgrund eigener Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen, liegen deutlich unter denjenigen der Männer. In den alten Bundesländern erreichen sie gerade einmal ein gutes Drittel der Leistungen, die Männer erhalten. Die Ursachen sind bekannt: die geringere Anzahl von Erwerbsjahren, Arbeit in Wirtschaftszweigen und Berufen mit unterdurchschnittlichen Arbeitsentgelten, mehr Teilzeit, Erziehungsarbeit oder Pflege von Familienangehörigen, als dies bei den männlichen Erwerbstätigen der Fall ist. Immerhin gibt es einen positiven Trend: Der Anteil von Frauen mit eigener Alterssicherung steigt deutlich an. So wächst - ganz im Sinne der Zielsetzung der Bundesregierung - die Quote erwerbstätiger Frauen zumindest in den alten Bundesländern. In den neuen Bundesländern war sie schon immer höher. Je höher die Qualifikation ist, umso geringer sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen beim Einkommen. Daneben greifen zunehmend Veränderungen im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Einführung der kindbezogenen Höherbewertung von Beitragszeiten durch die Rentenreform 2001 war sicherlich ein ganz wichtiger Schritt. Auch die staatliche Förderung der ergänzenden kapitalgedeckten Alterssicherung enthält Familienkomponenten, die oftmals Frauen zugute kommen. Vor allem aber verstärkt die Bundesregierung die Bemühungen, Frauen bei und nach der Kindererziehung im Beruf zu halten, etwa durch die Verbesserung der staatlichen Kinderbetreuung. Aber wir alle wissen, dass der Weg weit ist. Bei allen Bemühungen wird zwischen der Versorgungssituation von Männern und der Versorgungssituation von Frauen, die Kinder erziehen, auf absehbare Zeit eine Lücke bleiben. Im Normalfall werden diese Unterschiede innerhalb der Ehe, also zwischen den Ehegatten, ausgeglichen. Damit können aber diejenigen Frauen nicht rechnen, deren Ehe scheitert. Hier setzt der Versorgungsausgleich an. Der Alterssicherungsbericht 2001 zeigt, dass geschiedene Frauen im Vergleich zu verheirateten Frauen über deutlich mehr eigene Versorgungsanrechte verfügen. Das ist in erheblichem Maße auf den Versorgungsausgleich zurückzuführen. Der Versorgungsausgleich ist damit ein wesentliches Instrument, um das Prinzip der Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Fall der Ehescheidung zu verwirklichen. Dieses Instrument gilt es zu sichern. Wer sich mit der Materie näher befasst - das haben wir getan -, der wird feststellen, dass der Gesetzgeber seit etwa 20 Jahren die immer gleichen Probleme vor sich herschiebt. Die Teilaktualisierung der Barwert-Verordnung ist nur eine Zwischenlösung. Eine grundlegende Strukturreform des Versorgungsausgleichs ist notwendig. Erstens. Diese muss ein einfaches, klares und transparentes Recht schaffen. Die Zersplitterung der Vorschriften - einige stehen im BGB, andere in verschiedenen Nebengesetzen - müssen wir bereinigen. Zweitens. Die Strukturreform muss auch die materiellen und verfahrensrechtlichen Probleme des Versorgungsausgleichs zufriedenstellend lösen. Für den Versorgungsausgleich bei nicht voll dynamischen Anrechten sollten wir die Realteilung so weit wie möglich einführen. Wir müssen auch prüfen, ob die Aufgaben bei Durchführung des Versorgungsausgleichs zwischen den Familiengerichten und den Versorgungsträgern neu aufgeteilt werden sollen. Drittens. Die Strukturreform muss vor allem die weitere Entwicklung der Alterssicherungssysteme bewältigen. Sie muss also auch neue Altersvorsorgeformen wie die Riester-Rente einbeziehen. Eine Kommission aus namhaften Expertinnen und Experten, die im Bundesministerium der Justiz an der Lösung dieser Probleme des Versorgungsausgleichs arbeitet, wird hierzu Vorschläge vorlegen. Damit kann die Strukturreform des Versorgungsausgleichs noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht werden. Wer den Versorgungsausgleich bewahren will, der muss ihn fortentwickeln. Ich bin sehr gespannt, ob die Verfasser des Entschließungsantrags, über den heute zu entscheiden ist, den Mut dazu haben. Ich habe da meine Zweifel. Man scheint sich zu sehr an alte, wohl bekannte Denkweisen im Versorgungsausgleich zu klammern. ({0}) Aber ich lasse mich gerne positiv überraschen. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit, die immer wieder angemahnt wird und zu der wir gerne bereit sind. Vielen Dank fürs Zuhören. Frau Präsidentin, vielen Dank für Ihre Großzügigkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/ CSU-Fraktion.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie haben dankenswerterweise die schlechte Alterssicherung der Frauen aufgrund ihrer typischen Erwerbsbiografien beschrieben und damit die Berechtigung unseres Antrags - Sie haben ihn inhaltlich auch als konstruktiv bezeichnet - bestätigt. Lassen Sie mich aber doch einige Ausführungen zu unserem Antrag und zur Historie machen. Ich bedauere ein wenig die Schärfe in Ihren Ausführungen. ({0}) Sie haben uns unterstellt, dass unsere Novellierungsvorschläge rückwärts gerichtet sind. Sie werden in der Beratung sehen, dass es anders ist. Wir haben bereits vor knapp drei Monaten an dieser Stelle über das Thema gesprochen, das zwar nur einen Teil unserer Bevölkerung, nämlich die von Scheidung Betroffenen, berührt, dies aber in einer Weise, die von existenzieller Bedeutung ist. Es geht um den Versorgungsausgleich, das heißt, um die Klärung der Frage, wie und in welchem Umfang von Ehegatten in der Ehezeit erworbene Anwartschaften auf Altersversorgung bei der Scheidung ausgeglichen werden. Da es eine Vielzahl recht unterschiedlicher Versorgungsrechte gibt - betriebliche Zusatzversorgungen mit festen Auszahlungsbeträgen oder dynamisiert, berufsständische Altersversorgungssysteme, Lebensversicherungen und andere -, müssen diese verschiedenen Versorgungsrechte mit der Versorgung nach dem Prinzip der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar gemacht werden. Das geschieht mithilfe der Barwert-Verordnung, über die wir heute unter anderem sprechen. Nun hat bekanntlich der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom September 2001 eine weitere Anwendung der Barwert-Verordnung über den 31. Dezember 2002 hinaus wegen der veralteten Parameter ausgeschlossen. Bis dahin hatte die Bundesregierung Zeit, mit Zustimmung des Bundesrats die Barwert-Verordnung zumindest bezüglich der biometrischen Daten, also Sterbe- und Invaliditätswahrscheinlichkeit, zu aktualisieren. Die letzte Anpassung stammte aus dem Jahre 1984. Seitdem ist unter anderem die Lebenserwartung deutlich gestiegen. Dies wiederum bedeutet, dass ein Versorgungsrecht mehr wert ist. Eine fortdauernde Bewertung nach der alten Barwert-Verordnung würde zu einer Schlechterbewertung der betroffenen Anrechte führen. Damit würden die ausgleichsberechtigten Ehegatten - das sind in der Regel die Frauen; ich bestätige hiermit Ihre Ausführungen, Herr Staatssekretär - weniger Geld bekommen, als ihnen tatsächlich zusteht. Da es hier um Rentenansprüche geht, brauche ich über die Bedeutung der Sache wohl keine weiteren Ausführungen mehr zu machen. Leider hat es die Bundesregierung trotz ausreichender Zeit versäumt, fristgerecht eine novellierte BarwertVerordnung vorzulegen. Die Folge ist, dass die Familienrichter in Deutschland, die ohnehin hoffnungslos überlastet sind, seit dem 1. Januar 2003 die Scheidungsverfahren entweder insgesamt aussetzen, den Versorgungsausgleich vom Scheidungsverfahren abtrennen oder teure versicherungsmathematische Gutachten einholen, um den Barwert im konkreten Fall zu ermitteln. Das ist ein Skandal. ({1}) Aufgrund der bereits seitens der Rechtsprechung und der Literatur erhobenen gewichtigen Einwände weiß die Bundesregierung seit langem - und nicht erst seit der erwähnten BGH-Entscheidung vom September 2001 - von der dringend notwendigen Überarbeitung der nicht voll dynamischen Rechte. Sie selbst hatte dies bereits in einem Schreiben vom November 2000 festgestellt. Dieses Schreiben wird in dem BGH-Beschluss zitiert. Trotzdem hat es weit mehr als zwei Jahre gedauert, bis die Bundesregierung Ende März 2003 die neue Barwert-Verordnung beschlossen hat, nämlich am 26. März 2003. Die Welt ist damit aber noch lange nicht wieder in Ordnung; denn es handelt sich hierbei nur um eine Teilaktualisierung. Die Daten bezüglich Sterbe- und Invaliditätswahrscheinlichkeit sind zwar angepasst, aber alle übrigen auf den Barwert eines Rechtes Einfluss nehmenden Bestimmungsgrößen des geltenden Rechts, nämlich Rechnungszins, Rentendynamik und geschlechtsdifferenzierende Barwertfaktoren, bleiben unverändert. So hätte zum Beispiel die Aktualisierung des Rechnungszinses von derzeit 5,5 Prozent auf realistische 3,5 oder 4 Prozent gerade für so genannte rentennahe Eheleute oder solche, die bereits Rente beziehen, erhebliche positive Auswirkungen. Es wird also nach wie vor ein Versorgungsausgleich stattfinden, der in der Regel zulasten der Frauen geht. ({2}) - Hören Sie meinen Ausführungen doch zu! Da können Sie noch etwas lernen. ({3}) Wenn der Bundesrat, der der vorgelegten BarwertVerordnung noch zustimmen muss, seine Zustimmung erteilt - Herr Staatssekretär, Sie haben auf die Sitzung vom 23. Mai 2003 verwiesen -, dann geschieht das vor dem Hintergrund, dass zum einen eine sofortige Neuregelung dringend geboten ist, um das rechtliche Vakuum zu füllen und den Versorgungsausgleich auf eine verlässliche Grundlage zu stellen, und dass zum anderen das neue Recht sowieso nur bis zum 31. Mai 2006 gelten soll. Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat in der Tat in seiner gestrigen Sitzung ein eindeutiges Votum für ein In-Kraft-Treten abgegeben, aber nur, damit die Gerichte endlich wieder handeln und arbeiten können. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang aus der Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins vom Februar 2003 zu zitieren, die sich inhaltlich nur unwesentlich von der Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer unterscheidet: Der Deutsche Anwaltverein nimmt mit Erleichterung zur Kenntnis, dass in absehbarer Zeit wenigstens eine provisorische nachgebesserte BarwertVerordnung entsprechend den Vorgaben des Bundesgerichtshofs erstellt werden soll. ({4}) - Hören Sie bitte zu, werte Kollegin von der SPD. Der DAV hätte eine in jeder Hinsicht modernisierte Barwert-Verordnung vorgezogen. Im forensischen Alltag macht sich aber auch das Fehlen der Barwert-Verordnung so katastrophal bemerkbar - es ist nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dass in eiUte Granold nem Drittel der anstehenden Scheidungen Abtrennungen erfolgen -, dass jede, auch eine noch unvollständige Lösung begrüßt werden muss. ({5}) Auch wenn es Ihnen von der SPD-Fraktion nicht passt und Sie es nach wie vor notorisch bestreiten, bleibt es dabei, dass von der Untätigkeit der Regierung viele Richter und Scheidungswillige vor Ort massiv betroffen sind. ({6}) - Insbesondere die Frauen. - Die Zahlen des Deutschen Anwaltvereins sind realistisch. Ich kann sie aus meiner eigenen - ({7}) - Frau Kollegin, hören Sie doch einfach einmal zu, ich lasse Sie doch sonst auch ausreden. ({8}) - Dann halten Sie doch Ihren Mund. ({9}) Ich kann diese Zahlen aus meiner eigenen Tätigkeit als Scheidungsanwältin nur bestätigen. Exemplarisch für eine Vielzahl von Entscheidungen ist der Beschluss des Familiengerichts Mainz vom 5. März 2003, also aus meinem Bezirk. Ich zitiere: ({10}) Da die anzuwendende Bartwert-Verordnung ihre Gültigkeit zum 31.12.2002 endgültig verloren hat und die Bundesregierung ihrer Verpflichtung zur Neufassung noch nicht nachgekommen ist, muss das Verfahren bis zum 30.06.2003 ausgesetzt werden. ({11}) So lautet exemplarisch die Entscheidung eines deutschen Gerichtes. Die Union hat mit ihrem Antrag vom Januar dieses Jahres ein Problem aufgegriffen, an das die Bundesregierung schon in der letzten Legislaturperiode nicht heran wollte. Der Versorgungsausgleich ist zwar in der Tat ein komplexes und schwieriges Thema, dennoch haben die Gerichte und die Bürger ein Recht auf eine lückenlose und gerechte Rechtsetzung. Ebenso muss die Bundesregierung ihrer Pflicht als Verordnungsgeber nachkommen, allemal dann, wenn das höchste deutsche Zivilgericht unter Fristsetzung dazu auffordert. Positiv anzumerken ist in diesem Zusammenhang lediglich das Bemühen der neuen Bundesjustizministerin vom Oktober letzten Jahres, die Thematik anzugehen und einen Gesetzentwurf zur Ergänzung und Änderung des Rechts des Versorgungsausgleichs vorzulegen. Dieser Gesetzentwurf wurde allerdings nach der verheerenden Kritik aus der gerichtlichen und anwaltlichen Praxis wieder zurückgezogen. Heute sind wir nun so weit, dass ein Baustein aus dem Versorgungsausgleich, nämlich die Barwert-Verordnung, teilweise statt in toto novelliert wurde. So sieht es aus. Deshalb ist auch der Antrag der Union noch nicht erledigt. Lediglich unser Hilfsantrag wurde umgesetzt. Der Rest steht noch aus. ({12}) Die Bundesregierung hat jetzt mehrfach das dringende Erfordernis einer grundlegenden Überarbeitung des Versorgungsausgleichs festgestellt - die von Ihnen, Herr Staatssekretär, eben beschriebene Strukturreform und Taten angekündigt. ({13}) Was hierbei zwingend zu beachten ist, können Sie unserem Antrag entnehmen. Solange dies nicht umgesetzt ist, ist unser Antrag auch nicht erledigt. Wir werden weiterhin wachsam die Bemühungen der Bundesregierung begleiten, insbesondere auch deshalb, weil eine Vielzahl von Verfassungsgerichtsaufträgen zur Gesamtreform des Versorgungsausgleichs vorliegt. Herr Staatssekretär, ich denke, Sie sollten sich an die Arbeit machen. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn der Debatte eines festhalten, verehrte Frau Granold: Selten haben wir in diesem Hause über einen Antrag debattiert, der so überflüssig ist wie dieser; ({0}) denn das zentrale Anliegen Ihres Antrages ist durch den Kabinettsbeschluss vom 26. März dieses Jahres bereits umgesetzt. Ich erlaube mir, Ihnen den Ablauf hier noch einmal darzustellen. Der Bundesgerichtshof hatte den Gesetzgeber in seinem Urteil vom 5. September 2001 dazu aufgefordert, die Barwert-Verordnung den geänderten tatsächlichen Verhältnissen anzupassen. Die Bundesregierung ist dieser Aufforderung durch den erwähnten Kabinettsbe3614 schluss nachgekommen und hat die notwendige Teilaktualisierung der Barwert-Verordnung vorgenommen. Eigentlich könnten wir an dieser Stelle aufhören und die Debatte wäre beendet. Alles, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist bereits erledigt. ({1}) Erforderlich wurde diese Änderung, da die biometrischen Daten als Grundlage der Barwert-Verordnung schlicht und ergreifend veraltet waren. Die jetzige Neuregelung berücksichtigt deshalb die durchschnittlich gestiegene Lebenserwartung. Obwohl es erst drei Monate zurückliegt, dass wir in diesem Hause über die Barwert-Verordnung debattiert haben - ich hatte damals eigentlich den Eindruck gewonnen, dass die offensichtlichen Missverständnisse aufseiten der Antragsteller und Antragstellerinnen ausgeräumt worden seien -, erkläre ich es gerne noch einmal: Bei der Barwert-Verordnung handelt es sich um eine Umrechnungstabelle zur vergleichbaren Berechnung von dynamischen und nicht dynamischen Rentenansprüchen, das heißt von Rentenansprüchen der gesetzlichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung gegenüber Altersversorgungsansprüchen, die nicht der Entwicklung der Arbeitseinkommen folgen, insbesondere Betriebsrenten oder Renten aus Versorgungswerken. Im Fall einer Scheidung müssen selbstverständlich sämtliche Ansprüche der ehemaligen Ehepartner und Ehepartnerinnen berücksichtigt werden. Damit diese unterschiedlichen Formen der Altersversorgungsansprüche vergleichbar gegeneinander aufgerechnet werden können, wird die Barwert-Verordnung als Umrechnungshilfe verwandt, zu deren Berechnung auch die biometrischen Daten einbezogen werden. Wir haben festgestellt, dass durch diese Umrechnung sehr viel an Wert verloren geht. Auch deshalb ist es notwendig, hier eine Änderung herbeizuführen. Wie bereits ausgeführt, berücksichtigt die aktualisierte Verordnung nun die durchschnittlich höhere Lebenserwartung. Dies führt in der Konsequenz zu einer Erhöhung des errechneten Barwerts. In der überwiegenden Zahl der Fälle kommt das der besseren sozialen Absicherung von Frauen zugute. Damit ist ein weiteres Anliegen Ihres Antrages, nämlich einer eventuellen Schlechterstellung, wie Sie es bezeichnen, von Frauen bei der Berechnung ihrer Altersversorgungsansprüche gegenüber dem ehemaligen Ehepartner vorzubeugen, bereits erledigt. ({2}) Darüber hinaus arbeitet die Bundesregierung - wir haben es gerade von Herrn Staatssekretär Hartenbach gehört - an einer umfassenden Strukturreform des Versorgungsausgleichs, mit der eine grundlegende Neuordnung zum Ausgleich nicht volldynamischer Versorgungsrechte angestrebt wird. Auch darüber haben wir bereits anlässlich der Debatte im Februar gesprochen. Bis zum In-Kraft-Treten dieser Neuregelung wird die jetzt aktualisierte Barwert-Verordnung als Übergangsrecht zur Anwendung kommen. Sie bietet eine praktikable Lösung für die Familiengerichte und die weiteren Anwender und Anwenderinnen in der Praxis. Meine Damen und Herren von der Opposition, meine Ausführungen haben gezeigt, dass es nicht einen Punkt in Ihrem Antrag gibt, den die Bundesregierung nicht bereits umgesetzt bzw. zu dem sie nicht Initiativen ergriffen hätte. Insofern hätte ich mir gewünscht, Sie hätten diesen Antrag zurückgezogen. Ich finde, wir sollten unsere Arbeitszeit effektiver nutzen. Es gibt wirklich wichtige Dinge, die wir hier zu erledigen haben. ({3}) Aber abgesehen davon werte ich das nochmalige Einbringen Ihres Antrages als Interesse am Zustandekommen einer kurzfristig für alle Beteiligten praktikablen und gerechten Lösung. So nehme ich an, dass die CDUgeführten Länder am 23. Mai im Bundesrat der Änderung der Barwert-Verordnung zustimmen werden. Vielleicht überzeugen Sie bis dahin Ihre Kollegen und Kolleginnen aus Baden-Württemberg, den angekündigten Maßgabebeschluss nicht einzubringen; denn der würde die Frist bis zum In-Kraft-Treten der Verordnung nur unnötig verzögern. ({4}) Ich bitte Sie, das umzusetzen. Das ist im Interesse Ihres Antrages und im Interesse der Frauen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Schewe-Gerigk, ich bin nicht der Auffassung, dass diese Debatte völlig überflüssig ist. In der Debatte Ende März habe ich die Justizministerin aufgefordert, die von ihrer Vorgängerin nicht mehr bearbeitete Reform des Versorgungsausgleichsrechts anzupacken und sozusagen eine nicht aufgeräumte Schublade aufzuräumen. ({0}) Mittlerweile kann man die Situation so beschreiben, dass zwar die Schublade näher gesichtet wurde, aber doch noch einiges aufzuräumen bleibt. Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 5. September 2001 die Barwert-Verordnung als nicht mehr vereinbar mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen und rechtspolitischen Rahmenbedingungen erachtet. Er hat deshalb den Gesetzgeber aufgefordert, bis Ende 2002 - man höre und staune: bis Ende 2002 eine Neuregelung vorzulegen. Dies ist nicht geschehen. Immerhin war der BGH weitsichtig genug, in seiner Entscheidung zu erklären, dass „zur Wahrung der Rechtseinheit und im Interesse der Rechtssicherheit… in der Übergangszeit bis zum In-Kraft-Treten einer Neuregelung weiterhin die Barwert-Verordnung der Barwertermittlung - jedenfalls im Regelfall - zugrunde zu legen“ ist. Die Familiengerichte können ein Scheidungsverfahren bis zur Neuregelung der Barwert-Verordnung auch ruhen lassen oder das Scheidungsverfahren abtrennen und mit dem Versorgungsausgleich abwarten. Mittlerweile hat die Bundesregierung eine neue Barwert-Verordnung beschlossen, die aber nur bis zum 31. Mai 2006 in Kraft sein soll. Es wird also eine reine Übergangsregelung, was nicht zufrieden stellen kann. Die Biografie von Frauen hat sich gegenüber den 70er-Jahren grundsätzlich verändert, als der Versorgungsausgleich mit der Familienrechtsreform eingeführt wurde. Die Grunddaten der bisherigen Barwert-Verordnung sind damit über 60 Jahre alt. Die veränderte Lebenssituation von Frauen und auch von Männern muss deshalb dringend seinen Niederschlag in der Gesetzgebung finden. ({1}) Ursprünglich sollte der Versorgungsausgleich den Lebensunterhalt von geschiedenen Frauen im Alter sicherstellen. Dies betraf zum überwiegenden Teil Frauen, die entweder nur wenige Jahre oder gar nicht erwerbstätig gewesen waren. Mittlerweile ist es für die meisten Frauen selbstverständlich, berufstätig zu sein und dementsprechend eigene Rentenanwartschaften aufzubauen. Das Versorgungsausgleichsverfahren verzögert ein ansonsten unkompliziertes Scheidungsverfahren oftmals unzumutbar. Daran sind nicht die Gerichte schuld, sondern eine mühsam arbeitende Rentenversicherungsbürokratie, die bei der Klärung von Rentenansprüchen mit Auslandsbezug oder von zu Zeiten der DDR erworbenen Anwartschaften oft völlig zum Erliegen kommt. Hier kann ein Scheidungsverfahren leicht zwei Jahre und länger dauern. Ein unkomplizierter Verzicht auf den Versorgungsausgleich, der sich bei geringen Ausgleichsansprüchen anbietet, ist nicht ohne richterliche Genehmigung oder Gang zum Notar möglich - aus liberaler Sicht eine überholte Bevormundung von scheidungswilligen Frauen und Männern. Letztendlich sind die versicherungsmathematischen Grundlagen des Versorgungsausgleichs kaum noch nachvollziehbar und für Laien schlichtweg unverständlich. Das Prinzip der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit bleibt also auf der Strecke. Deshalb fordere ich für meine Fraktion nachdrücklich, das Versorgungsausgleichsrecht neu zu durchdenken, neu zu konzipieren und zu entbürokratisieren. Ihre Ausführungen, Herr Staatssekretär, lassen mich zumindest hoffen. ({2}) Ich halte den Antrag nicht für überflüssig; denn das Thema „Neufassung des Versorgungsausgleichsrechts“ ist schon einmal liegen geblieben. Das wollen wir in dieser Legislaturperiode nicht noch einmal erleben. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion, hat ihre Rede zu Protokoll gegeben1). ({0}) Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 15/953 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Versorgungsausgleich umgehend regeln Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/354 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralf Göbel, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten - Drucksache 15/816 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss Es wäre nach einer interfraktionellen Vereinbarung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegen Hans-Peter Kemper, Ralf Göbel, Grietje Bettin, Ernst Burgbacher und der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Deshalb kommen wir zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/816 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatz- punkt 13 auf: 1) Anlage 5 2) Anlage 6 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zukunftsorientierte Energieforschung - Fusionsforschung in Deutschland und Europa vorantreiben - Drucksache 15/685 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Dr. Peter Paziorek, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Unterstützung für eine Bewerbung des Standortes Greifswald/Lubmin für den ITER ({4}) - Drucksache 15/929 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wäre für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten sollte. Die Kollegen Ulrich Kasparick, Dr. Martin Mayer ({6}), Michael Kretschmer, Hans-Josef Fell und die Kollegin Ulrike Flach sowie der Parlamentarische Staatssekretär Christoph Matschie haben ihre Reden zu Protokoll gege- ben.1) Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/685 und 15/929 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Mai 2003, 9 Uhr, ein und wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie den Besuchern einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.